Freitag, 10. Dezember 2010

Herren unserer Zeit

Momo: Dieser Name erweckt Nostalgie; weit zurückliegende Erinnerungen an den Kinderbuchklassiker von Michael Ende und vor allem an den ersten Kinobesuch meines Lebens, als ich ganz allein mit den Primarschulgspänli den Zug nach Luzern nehmen und mir den Film anschauen durfte. Nun kommt Momo als Orchesterballett auf die Bühne des Berner Stadttheaters, choreografiert von der Niederländerin Didy Veldman; statt Shakespeare oder Ibsen, statt Historie oder Weltliteratur also zur Abwechslung ein Märchen. Das macht das Ballett zugänglicher, erzählerischer und leichter verständlich als andere Handlungsballette der letzten Jahre.

Damit ist nicht gesagt, dass die Geschichte banal wäre. An Hand von Momo und ihren Freunden untersucht sie nämlich die Frage, wer denn Herr unserer Zeit ist: wir selber, oder sonst irgendwer oder irgendwas. Das Thema Zeit scheint äusserlich mehrfach im Motiv der Uhr auf. Durchdekliniert wird es aber insbesondere in der tänzerischen Umsetzung des Umgangs mit der Zeit. Die Grosszügigkeit, Verspieltheit, das eigentliche Vergessen der Zeit zugunsten dessen, wozu sie dient, charakterisiert Momo und ihre Freundinnen; scharf kontrastiert damit die hektische Effizienz der Zeitdiebe, der Grauen Herren; flotte Tempowechsel von der Zeitlupe bis zum maschinenähnlichen Schnelldurchlauf sind der choreografische Ausdruck dieses Gegensatzes. Ein zweites Thema schleicht sich dann ein: die Korrumpierbarkeit. Denn nur indem sie ihnen etwas Heissersehntes versprechen, sie mithin also bei einem schwachen Punkt erwischen, können die Grauen Herren die Menschen für sich gewinnen. Alle – bis auf Momo. Die nämlich ist schlicht immun gegenüber Tand und Schein. In einer wunderbaren Szene mit viel Slapstick wird ihr eine Puppe untergeschoben, Modell Letzter Schrei – und währenddem diese tanzend und quiekend über die Bühne stakst, steht Momo das schiere Unverständnis, was das soll und weshalb das cool ist, ins Gesicht und den Körper geschrieben.

Vielleicht ist dies die entscheidende Szene. Der ultimative Showdown in der Zentrale der Grauen Herren jedenfalls wird ganz knapp und beiläufig abgehandelt; fast absichtslos nähert sich Momo mit Schildkröte und Stundenblume, währenddem die letzten der Zeitdiebe sich in relativ kurzem Prozess gegenseitig die lebensspendenden Zigarren aus den Mündern reissen. Am Schluss – man erinnert sich, es ist ein Märchen – regnet es Blütenblätter in Fülle, Momos Freunde winden sich verwundert aus dem kalten Diktat der Zeit und gewinnen Ausdruck, Bewegung und Lebensfreude wieder.

Die Tänzerinnen und Tänzer des Bern.Ballett, allen voran Hui Chen Tsai in einer grossen Rolle als Momo, setzen die Geschichte mühelos um. Die Musik, die das Berner Sinfonieorchester unter Dorian Keilhack dazu spielt, kommt von Dmitri Schostakowitsch, zusammengestellt von Philip Feeney. Schade, dass nirgends zu erfahren ist, um welche Stücke es sich handelte, denn die Musik passt so gut, als hätte Schostakowitsch sie während der Lektüre von Endes Buch geschrieben. Sehr tanzbar, erfasst sie in jeder Szene perfekt die Gefühlslage – atonal zu Beginn, wie um den Schritt ins Land der Märchen zu markieren, spätromantisch-schwelgerisch dann über weite restliche Strecken, immer geschickt spielend mit Beschleunigung und Verlangsamung. Kaum mitgekriegt haben wir leider von unseren Stammplätzen im 3. Rang die Videos von Hambi Haralambous.

Ein Blick in den Zuschauerraum bestätigte: Dies ist ein Ballett, das auch Kinder anspricht und ihnen zugänglich ist. Vielleicht ein geschickter Schachzug des Bern.Ballets im Angesicht der Stadttheaterkrise und der überwundenen und doch immer noch drohenden Sparmassnahmen?


Technisches: Momo steht im Stadttheater Bern im Dezember und Januar noch mehrfach auf dem Spielplan. Einen schönen Vorgeschmack gibt die Videodokumentation von Hambi Haralambous. Und wer den Klassiker wieder einmal lesen möchte, findet ihn (hoffentlich) in jeder anständigen Bibliothek sowie beim Piper-Verlag.

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