Freitag, 17. Dezember 2010

Nordisches Irrlicht

Von Peer Gynt kannte ich bis vor drei Wochen nur die Musik. Die beiden Suiten von Edvard Grieg haben durchaus aufbrausende und kontrastreiche Momente, hinterlassen aber mit ihren grandiosen Naturszenen, innigen Liedern und schwelgerischen Melodien einen sehr romantischen, verklärten Eindruck. Und nun dies: Peer Gynt von Henrik Ibsen, in der Übersetzung von Christian Morgenstern, inszeniert von Thorleifur Örn Arnarsson auf der Bühne des Luzerner Theaters. Dieser Peer Gynt ist ein Irrwisch und Tausendsassa, Herzensbrecher und Frechdachs, Mutters Liebling, Lügenbaron und Trollenprinz, unfassbar und unbegreiflich – es braucht ganze drei Schauspieler, um ihn einigermassen darzustellen, dazu den Bestand mehrerer Brockenhäuser, um ihm ein so überbordendes wie angemessenes Bühnenbild (Vytautas Narbutas) zu bieten. Der erste Teil gleicht einem Vulkanausbruch, einem Höllenritt durch Raum und Zeit: Meeresüberfahrt in der Badewanne, Trollenhochzeit auf Bücherstapeln, Griegs Musik aus dem Radio und vom Klavier in Fragmenten herwehend, Morgensterns kongeniale Verse scharf und ironisch, wenn auch oft unverständlich im allgemeinen Chaos, Lärm und Gebrüll. In der Pause präsentiert sich Peer Gynt im Foyer als Spitzenkandidat der Peer-Gynt-Partei PGP für den Posten des Königs, des Präsidenten, oder was auch immer Glamouröses zur Auswahl steht, hat aber mit seinem Aufruf zur Revolution beim belustigten Publikum wenig Erfolg. Nach der Pause dann so etwas wie der besinnliche Teil: Auf das expansiv-expressive Rausgehen in die Welt folgt Peers Rückkehr zu sich selbst, oder wenigstens sein Versuch, ein paar wichtigen Themen nicht länger auszuweichen. Der gealterte Heisssporn sieht sich zum Schluss mit einem Gegenspieler konfrontiert, der ihm unerbittlich die Stirn bietet – und findet (ganz altmodisch) unerwartete Erlösung.

Wir erlebten in Luzern einen temporeichen, vergnüglichen Abend. Die schiere Reizüberladung, verbunden mit meiner mangelnden Vorbildung, hat es mir allerdings verunmöglicht, die ganze Tiefe des Stücks zu erfassen; der Genuss blieb deshalb etwas an der Oberfläche. Immerhin: Dass Griegs Musik und Ibsens Peer Gynt herzlich wenig miteinander gemeinsam haben, ist nicht nur mir aufgefallen. Die Wikipedia fasst die communis opinio so zusammen: „Heute besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass die nationalromantische Musik Griegs denkbar schlecht zu Ibsens modernem Drama passt.“ Ich empfehle also, Drama und Musik getrennt zu lesen bzw. zu hören – aber ich empfehle beides ausdrücklich, und ebenso die eindrückliche Luzerner Inszenierung.


Technisches: Peer Gynt steht im Haus an der Reuss im Dezember und Januar noch drei Mal auf dem Spielplan. Morgensterns deutsche Übersetzung findet sich unter anderem beim Projekt Gutenberg, oder als Taschenbuch vom Ondefo-Verlag (ISBN 978 3 93970308 2).

[UPDATE: Das Luzerner Theater hat seine Website umgebaut; den Link zum Stück habe ich angepasst, ebenso den zum Projekt Gutenberg. Auf den Versuch, den laufend verschwindenden Youtube-Links hinterherzuhecheln, verzichte ich allerdings...]

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