Freitag, 23. Januar 2009

Singing Beauty

Mit Disney-Animationsfilmen habe ich, seit ich sie kenne, meine liebe Mühe. Ich gebe gerne zu, dass mein Urteil im Grunde schon nach den ersten zufällig aufgeschnappten Minuten Pocahontas gebildet war und sich summarisch in einer ungläubig-spöttischen Frage äusserte, nämlich: „Müssen die wirklich die ganze Zeit singen?“ Zur Abrundung meiner Bildung (und zugleich als beziehungsfördernde Massnahme) habe ich danach auch noch Cinderella und soeben die restaurierte Neuausgabe von Sleeping Beauty visioniert. Von der handwerklichen Machart und der Schönheit der Bildsprache war ich beeindruckt. Zugleich konnte ich mein zugegebenermassen krudes Urteil etwas verfeinern und kann jetzt besser in Worte fassen, was mich denn daran stört.

Eine aktuelle Ausstellung in der Kunsthalle der Hypo-Kulturstiftung in München zeigt, wie stark und bewusst Disneys Werk in der europäischen Bildsprache, besonders des 19. Jahrhunderts, verankert ist. Walt Disney hat ja zur Vorbereitung und Materialsammlung für seine Filme einen eigentlichen Rundumschlag durch die Kulturgeschichte Europas durchgeführt. Nun bin ich gewiss der letzte, der sich über die Neuinterpretation von Stoffen in einer anderen Zeit und einem veränderten Kontext aufregt; im Theater zum Beispiel finde ich das in aller Regel anregend und aufschlussreich – allein, Disneys Adaption der Grimmschen Märchen und anderer Geschichten geht konsequent immer in die gleiche Richtung: Da wird alles entweder verniedlicht und damit verkitscht, oder (im bemühten Versuch, auf Teufel komm raus witzig zu sein) in die Lächerlichkeit gezogen. Bestes Beispiel für beides zusammen: Im Dornröschen sind die Feen ehrwürdige, weise Gestalten. Die drei Feen, die in Sleeping Beauty eine tragende Rolle spielen, sind alte Mütterchen mit dicken Bäuchen, tollpatschig bis zur Stupidität und so eindeutig auf Jöö-Effekt getrimmt, dass man die Dollars förmlich rollen hört. Die endlos singenden, springenden Tiere schmieren dann zur Sicherheit noch eine Extraportion Kindchenschema oben drauf.

Da tut mir, bei allem Respekt vor der schöpferischen Weiterentwicklung, das originale Märchen nur noch Leid. Ich habe unlängst wieder einmal die alte Grimm-Ausgabe meiner Urgrossmutter durchgeblättert und zu lesen begonnen und die Märchen meiner Kindheit gewissermassen wiederentdeckt. Beeindruckt und zusehends begeistert war ich von der Tiefe und epischen Grösse vieler dieser altbekannten Geschichten. Mir wurde klar, dass viele Märchen eher Erwachsenen- als Kindergeschichten sind (und ob man sie kleinen Kindern überhaupt zumuten soll, ist bekanntlich keine neue Diskussion). Aber sie in kommerzieller Absicht zu einer Oberflächenstory zu entschärfen, empfinde ich als Sakrileg.

Die Lieder, übrigens, haben mich bei Sleeping Beauty, nachdem ich mich mal an das Phänomen gewohnt hatte, weniger gestört. Eigentlich ist dieser Film eine Art Operette, und Operetten mag ich. Nur sind sich Operetten ihrer eigenen Oberflächlichkeit ironisch bewusst. So scheint mir, dass ich das Thema Disney für mein restliches Leben unbeschadet abhaken kann.


Technisches: Wer in den letzten zwei Monaten eine Buch- oder Musikhandlung besucht hat, konnte die Neuedition von Sleeping Beauty auf keinen Fall übersehen. Man wende sich also an den Händler seines Vertrauens. Aber Vorsicht: Disney beherrscht meisterhaft eine Hype-erzeugende Verknappungspolitik. Nicht alle Titel sind jederzeit erhältlich; sie werden vielmehr alle paar Jahre wieder vom Markt genommen und dann mit grossem Getöse neu herausgegeben. Wer's nicht lassen kann, ist also gut beraten, jetzt zuzugreifen.


Freitag, 16. Januar 2009

Seta

„Seta“ bedeutet Seide, und Alessandro Bariccos Buch gleichen Namens handelt nicht nur davon, sondern es ist zugleich, als ob ein feiner Seidenschleier über den Worten läge. In kurzen, sanften Sätzen erzählt Baricco scheinbar distanziert das Leben von Hervé Joncourt, der im 19. Jahrhundert in Südfrankreich mit den Eiern von Seidenspinnern handelt. Tatsächlich ist dies Leben unspektakulär, mutet emotionslos und vorherbestimmt an. Joncourt wird im Handel reich, legt sich einen Park an, kann sich früh zur Ruhe setzen, bereist mit seiner Frau Hélène Europa und stirbt bejahrt und lebensweise. Alles scheint an seinem Platz. Aber mitten durch dieses vordergründig in gehobener Langeweile dahinplätschernde Leben geht der Riss einer doppelt unglücklichen Liebe. Denn als die Flecksucht von Europa plötzlich auf Syrien und Ägypten übergriff, woher Hervé Joncourt bis anhin seine Eier bezogen hatte, war der einzige Ort, an dem es noch Seidenspinner gab, Japan. Also reiste er ans Ende der Welt, durchquerte ganz Europa und Asien, setzte mit dem Schiff über, beschaffte sich beim geheimnisvollen Hara Kei die wertvollen Eier. Und blickte in die schönen Augen dessen mysteriöser junger Geliebten. Um dieser Blicke und weniger Berührungen willen wiederholte er drei Mal die halbjährige Reise. Das letzte, unnötige Mal endete in der Katastrophe: Er entrann Krieg und Verwirrung, ohne die schönen Augen wiedergesehen zu haben; aus den Eiern der Seidenspinner schlüpften auf der verspäteten Rückreise vorzeitig die Larven und starben. Hervé Joncourts Herz trug fortan die Narben dieser unmöglichen Liebe, und Hélène litt an der unüberwindbaren Distanz, welche sie zwischen sie und ihren geliebten Mann gebracht hatte. Der Rest ihres gemeinsamen Lebens war ein ernsthafter, würdevoller, fast geglückter Versuch der Liebe.

Das Seidentuch der Novelle schmücken dezent einzelne Motive: Die wunderschöne Stimme voller Emotionen von Hélène und die nie gehörte Stimme der geheimnisvollen Geliebten. Die unverständlichen Schriftzeichen auf Reispapier und die Botschaften, die sie überbringen oder verschlüsseln. Die Seide als Objekt von Wissenschaft und Politik und als erotisch-sinnliches Material. Und die Vögel und ihr Flug: Als Hervé Joncourt seinen Park plant, will er eine Voliere bauen. Hélène, die ihn danach fragt, erklärt er den Zweck: „Du füllst sie mit Vögeln, so viele du findest; dann, eines Tages, wenn dir etwas Glückliches zustösst, sperrst du sie auf, und schaust zu, wie sie wegfliegen.“


Technisches: Alessandro Baricco, Seta. Biblioteca Universale Rizzoli, 1999. ISBN 88-17-10625-9. Den häufigen Griff zum Wörterbuch könnte wahrscheinlich die Ausgabe in Reclams Fremdsprachentexte-Reihe ersparen (ISBN 978-3-15-019734-9). Auf Deutsch ist die Geschichte unter dem Titel Seide erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-22822-0, zurzeit offenbar vergriffen). 2007 wurde Seta mit Keira Knightley und Michael Pitt verfilmt.

Kleiner Service

Zum Jahreswechsel wieder mal sämtliche Links auf dem Blog überprüft: Erfreulicherweise halten sich die Verluste in Grenzen. Gelernt habe ich allerdings, dass offizielle Filmwebsites oft ausschliesslich als Teil der Werbekampagne angeschaut werden. Nach der Kinolaufzeit werden die Plakate überklebt, die Flyer kompostiert und die Websites abgestellt - oder versteckt. Sei's drum. Meine Rezensionen sind weiterhin online, und so lange Blogger mitspielt, wird das auch so bleiben.

Sonntag, 11. Januar 2009

Die Blechtrommel

Günter Grass muss in einen Kessel voller Worte gefallen sein, als er klein war – anders kann ich mir die Blechtrommel nicht erklären, diesen grosszügigen, verschwenderischen Roman, diese ungebremste Fülle von Bildern und Szenen, Ausdrücken und Ideen, diesen (um es mit dem Nobelpreiskomitee zu sagen) narrativen Karneval. Das Buch war mein Begleiter auf den Reisen des letzten Halbjahres; und damit Oskar Matzerath, das altkluge kleine Grossmaul, allmächtig waltender Erzähler seiner eigenen Geschichte, der mit dem Leser Katz und Maus spielt, bei dem alle Fäden zusammenlaufen, der immer schon alles wusste und auch fast alles konnte, der seine halbe Familie auf dem Gewissen hat und verurteilt wird ausgerechnet für einen Mord, den er nicht begangen hat, dieses liebenswerte Scheusal. Wie könnte einen ein solcher fabulistischer Kraftakt nicht in den Bann ziehen, fesseln, bewegen, fröhlich und traurig machen, ja im altgriechischen Sinne läutern? Und wie könnte man ein solches Buch beschreiben? Da ist Stoff drin für Dutzende Analysen (und, nebenbei, für Dutzende Bücher, weshalb ich von Grosszügigkeit spreche), und wenn ich hier in der gebotenen Kürze meine Eindrücke festhalten will, muss ich gnadenlos reduzieren und stellvertretend eine Episode herausheben: den Zwiebelkeller. Dieser ist eine extravagante Kleingaststätte im Nachkriegsdüsseldorf, für welche Gastwirt Schmuh den Blechtrommler Oskar und seine Musikkumpane Klepp und Scholle als The Rhine River Three anwirbt. Was es mit dem feuchten Nachtlokal auf sich hat, erfährt man bei der detaillierten Schilderung eines Abends im Zwiebelkeller. Da setzen sich die Oberklassegäste auf die mit Zwiebelsäcken bespannten Kisten an hölzernen Tischen, von Karbidlampen erleuchtet; da erscheint nach bedrücktem Warten der Wirt, einen Schal mit Zwiebelmuster umgelegt, und verteilt Holzbrettchen, Messer, Zwiebeln; da enthäuten die Herrschaften ihre Zwiebel, schneiden sie – und da rinnen ihnen endlich die Tränen reichlich aus den Augen; denn um in diesem tränenlosen Jahrhundert wieder einmal richtig, hemmungslos und in Fülle weinen zu können, drängten sich all die Gäste in den feuchten Keller. Dann schlägt Oskar die Trommel, die Rhine River Three leiten musikalisch zum Alltag zurück, und leergeweint verlassen die Leute den Zwiebelkeller. Nicht mal zwanzig Seiten braucht Grass für dieses kleine Kunstwerk (das, nebenbei, auch schon Anlass zu einem Bühnenstück geboten hat), schon folgt nahtlos das nächste, und über siebenhundert Seiten spannt sich so der Bogen der Danziger und der deutschen Geschichte der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts. Wahrlich ein gewaltiges Buch.


Technisches: In meinem Fundus befindet sich diese Ausgabe: Günter Grass, Die Blechtrommel. Danziger Trilogie 1. Sammlung Luchterhand 147. Hamburg, Luchterhand Literaturverlag 1974. ISBN 3-630-61147-8.