Freitag, 16. Januar 2009

Seta

„Seta“ bedeutet Seide, und Alessandro Bariccos Buch gleichen Namens handelt nicht nur davon, sondern es ist zugleich, als ob ein feiner Seidenschleier über den Worten läge. In kurzen, sanften Sätzen erzählt Baricco scheinbar distanziert das Leben von Hervé Joncourt, der im 19. Jahrhundert in Südfrankreich mit den Eiern von Seidenspinnern handelt. Tatsächlich ist dies Leben unspektakulär, mutet emotionslos und vorherbestimmt an. Joncourt wird im Handel reich, legt sich einen Park an, kann sich früh zur Ruhe setzen, bereist mit seiner Frau Hélène Europa und stirbt bejahrt und lebensweise. Alles scheint an seinem Platz. Aber mitten durch dieses vordergründig in gehobener Langeweile dahinplätschernde Leben geht der Riss einer doppelt unglücklichen Liebe. Denn als die Flecksucht von Europa plötzlich auf Syrien und Ägypten übergriff, woher Hervé Joncourt bis anhin seine Eier bezogen hatte, war der einzige Ort, an dem es noch Seidenspinner gab, Japan. Also reiste er ans Ende der Welt, durchquerte ganz Europa und Asien, setzte mit dem Schiff über, beschaffte sich beim geheimnisvollen Hara Kei die wertvollen Eier. Und blickte in die schönen Augen dessen mysteriöser junger Geliebten. Um dieser Blicke und weniger Berührungen willen wiederholte er drei Mal die halbjährige Reise. Das letzte, unnötige Mal endete in der Katastrophe: Er entrann Krieg und Verwirrung, ohne die schönen Augen wiedergesehen zu haben; aus den Eiern der Seidenspinner schlüpften auf der verspäteten Rückreise vorzeitig die Larven und starben. Hervé Joncourts Herz trug fortan die Narben dieser unmöglichen Liebe, und Hélène litt an der unüberwindbaren Distanz, welche sie zwischen sie und ihren geliebten Mann gebracht hatte. Der Rest ihres gemeinsamen Lebens war ein ernsthafter, würdevoller, fast geglückter Versuch der Liebe.

Das Seidentuch der Novelle schmücken dezent einzelne Motive: Die wunderschöne Stimme voller Emotionen von Hélène und die nie gehörte Stimme der geheimnisvollen Geliebten. Die unverständlichen Schriftzeichen auf Reispapier und die Botschaften, die sie überbringen oder verschlüsseln. Die Seide als Objekt von Wissenschaft und Politik und als erotisch-sinnliches Material. Und die Vögel und ihr Flug: Als Hervé Joncourt seinen Park plant, will er eine Voliere bauen. Hélène, die ihn danach fragt, erklärt er den Zweck: „Du füllst sie mit Vögeln, so viele du findest; dann, eines Tages, wenn dir etwas Glückliches zustösst, sperrst du sie auf, und schaust zu, wie sie wegfliegen.“


Technisches: Alessandro Baricco, Seta. Biblioteca Universale Rizzoli, 1999. ISBN 88-17-10625-9. Den häufigen Griff zum Wörterbuch könnte wahrscheinlich die Ausgabe in Reclams Fremdsprachentexte-Reihe ersparen (ISBN 978-3-15-019734-9). Auf Deutsch ist die Geschichte unter dem Titel Seide erschienen bei Piper (ISBN 978-3-492-22822-0, zurzeit offenbar vergriffen). 2007 wurde Seta mit Keira Knightley und Michael Pitt verfilmt.

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