Samstag, 22. Dezember 2007

Der nackte Wahnsinn

„Der nackte Wahnsinn“ (Noises Off) von Michael Frayn ist eine der erfolgreichsten Komödien der letzten Jahre; ein rasanter, hintergründiger Slapstick-Spass, basierend auf dem Motiv vom Theater im Theater. Eine mittelmässige Provinz-Schauspieltruppe spielt darin einen grotesk überzeichneten Schwank namens „Nackte Tatsachen“, der sich vor allem durch das häufige und präzis getimte Öffnen und Schliessen von sieben Türen auszeichnet. Frayns Kunstgriff ist es, dem Publikum dreimal den ersten Akt dieses Machwerks zu präsentieren: Einmal während der Hauptprobe, dann in der Mitte und ein drittes Mal am Ende der Tournee.

Am Theater an der Effingerstrasse kostet Stefan Meier das Slapstick-Potential des Stücks voll aus. Er inszeniert es rasant und leicht überzeichnet und schenkt dem Publikum nichts (vor allem kein schnelles Ende – erst um 22:50 Uhr ist fertig). Im ersten Akt ist das Chaos noch mühsam gebändigt: Obwohl das Requisitenhandling, die Präzision und allgemein die Konzentration stark zu wünschen übrig lassen, besteht für die Premiere doch noch Hoffnung. Die diversen Affären und damit Liebes- und Hassbeziehungen zwischen den Akteuren sind noch einigermassen dezent und unter Kontrolle. Das erlaubt dem Publikum, das Stück im Stück und die dramatis personae kennen zu lernen, damit es nachher den Verwicklungen folgen kann. Und die kommen nicht zu sparsam. Im zweiten Akt wird der Turbo gezündet: Wir sehen die Bühne von hinten und folgen der dramatischen Handlung mit maximal halber Aufmerksamkeit, da die Eifersuchts- und Hassszenen zunehmend verzwickter werden. Das ist höchst dicht, komplex und umwerfend komisch, ein Konzentrat von Komödie, und man müsste zwei Köpfe samt Inhalt haben, um allen Verwicklungen folgen zu können. Der dritte Akt fällt dagegen an Intensität fast ein bisschen ab: Auf der Bühne ist nun wieder die Bühne, und die Probleme, Konflikte und Blackouts können nicht mehr überkleistert werden. Einige improvisieren tapfer und durchaus virtuos, andere spulen unbeirrt ihr Programm ab oder fallen völlig aus ihrer Rolle. Das Stück artet in ein unkontrolliertes Chaos aus, die bedauernswerten Akteure humpeln körperlich und seelisch sichtbar angeschlagen durch die Kulissen.

Ein vergnüglicher Abend also. Interessant fand ich, dass mich durchwegs diejenigen Schauspieler am meisten überzeugten, die nur eine Rolle zu spielen hatten, also die Nicht-Schauspieler im Stück. Von ergreifend sarkastischer Verzweiflung war der bedauernswerte Regisseur; naiv-betulich und generell ein bisschen der arme Tropf seine Assistentin, Souffleuse und selbsternannter guter Geist hinter den Kulissen; als wahres Multitalent entpuppte sich schliesslich Tim der Requisiteur, der am Ende als einziger noch alle Fäden einigermassen (einigermassen!) zusammenhielt. Bei denjenigen, die einen Schauspieler spielten, der eine Rolle zu spielen hatte, sahen sich Rolle und Person sehr ähnlich. Ich fand das zunächst etwas schade, schreibe es aber der Mittelmässigkeit der Provinztruppe zu, von der das Stück handelte: Von solchen Schauspielern sind keine Charakterdarstellungen zu erwarten – ganz im Gegensatz zu den „richtigen“ Schauspielern, die auf der Bühne an der Effingerstrasse standen. Wobei ich mir die Frage nicht verkneifen konnte, was wohl hinter dieser Bühne abging. Das wäre dann das Stück, das ich am allerliebsten gesehen hätte...


Technisches: „Der nackte Wahnsinn“ steht noch bis am 12. Januar 2008 auf dem Spielplan des Theaters an der Effingerstrasse.

Erdenritt

Der spektakuläre Trailer zu Earth („Unsere Erde – Der Film“) hat mich in Bann geschlagen: Atemberaubende Flüge über gigantische Wasserfälle versprach dieser, Schwärme von Vögeln sonder Zahl, Eisbären, Wale und Elefanten. Der Film hielt die Versprechen. Noch nie, so erfährt man, wurde ein so aufwendiger Naturfilm gedreht. Er basiert auf der BBC-Serie Planet Earth. Fünf Jahre, Millionen von Pfund und Spitzentechnik hatte Regisseur Alastair Fothergill zur Verfügung, und er hat sie gut genutzt. An Dutzenden Tieren ist er hautnah dran; raffinierte Zeitraffer lassen ein Jahr in wenigen Sekunden vorüberziehen, Eis und Meer, Wald und Wüste sind die Schauplätze. Handlungsgerüst ist eine fiktive Reise vom Nord- zum Südpol. Protagonisten sind in erster Linie eine Eisbärenfamilie, eine Elefantenherde und ein Buckelwal mit seinem Jungen, daneben Tausende anderer Tiere. Die Erzählung betont zwei Dinge: das Fressen und Gefressenwerden und den fühlbaren und potentiell verheerenden Einfluss des Klimawandels auf die Tiere des ganzen Planeten. Ersteres verleiht dem Film zeitweise einen leicht penetranten Action-Unterton. Klar sollen wir uns von den schönen Bildern nicht ins Trugbild von einer friedlichen und reinen Natur einlullen lassen; aber dass fast alle Tiere, die wir antreffen, entweder gerade von anderen gejagt werden oder Hungers zu sterben drohen, finde ich etwas starken Tobak. Die Message von der Bedrohung durch den Klimawandel kommt subtiler und nachvollziehbarer herüber: Wir sehen die Eisbären verzweifelt im rasant schmelzenden Packeis rudern, sehen die Elefanten völlig entkräftet durch die Kalahari torkeln, begreifen beim kurzen, aber intensiven Krillschmaus der Buckelwale vor der antarktischen Küste, wie wenig es braucht, um diesen Marathonschwimmern die Lebensgrundlage zu entziehen. Das explizite Nachhaken im Abspann wäre nicht notwendig gewesen – aber gut, so wirds noch unausweichlicher. (Warum dann unbedingt Ford Hauptsponsor sein muss, ist eine andere Frage.)

Die eigentlichen Höhepunkte sind andere: Der Flug über die Angel Falls gehört dazu, der einem das Herz stocken lässt, die unabsehbare Karibu-Herde auf ihrer langen Migration, die riesigen, unglaublich kompakten und beweglichen Fischschwärme, die Jungfernkraniche, die in einem gewaltigen Kraftakt ein winziges Zeitfenster nutzen, um gegen die Fallwinde über den Himalaya zu fliegen. Und dann gibt es ein paar Comedy-Perlen: Der schräge Balztanz des Paradiesvogels natürlich, und vor allem die unglaubliche Flugstunde der Mandarinenten. Ihr Nest liegt hoch auf einem Baum, und sobald die Kleinen den ersten Fuss vor die Tür setzen, sind sie im freien Fall. Unbeeindruckt schlagen sie leicht mit ihren zum Fliegen völlig untauglichen Stummelflügeln, prallen ungebremst auf den weichen Waldboden und springen auf wie von einem Trampolin. Da lachte Gross und Klein im Kinosaal (es war Sonntagnachmittag), und besonders ein kleiner Kinogänger war begeistert. Er hatte eben ein neues Wort gelernt, und das passte wunderbar: „Bébé!“

Freitag, 7. Dezember 2007

Tanz handelt vom Tanz

Vor einer Woche war ich am ersten Ballettabend der neuen Tanzchefin Cathy Marston und ihrer Compagnie im Stadttheater Bern. Unvorbereitet wie ich war habe ich ein Programmheft gekauft, von dem ich ebenso begeistert war wie vom Geschehen auf der Bühne und im Orchestergraben. Deshalb hier ein paar Zitate daraus:

Tanz handelt vom Tanz.
(Hans van Manen, niederländischer Choreograf)

Dieser Satz hat mein Verständnis von Tanz wesentlich befördert. Die paar Tanzabende, die ich in meinem Leben gesehen habe, kann man noch fast an zwei Händen abzählen. Meine Analyse dieser Kunstwerke beruht exklusiv auf Learning by Doing. Intuitiv ging ich davon aus, dass die Bewegungen auf der Bühne eine Handlung, eine Aussage transportieren, die es zu entschlüsseln gelte. Van Manen belehrt mich eines Besseren: „Es darf nicht so sein, dass man versucht, mit Bewegung Wörter zu imitieren.“ Tanz stellt in erster Linie sich selber dar. Van Manens Choreografie „Concertante“ zur Petite Symphonie Concertante op. 54 von Franck Martin zeigt, was gemeint ist. Zunächst entsteht eine Bewegungsrichtung, von rechts nach links. Die Tänzer folgen und verfolgen sich. Dann wachsen aus diesem Grund und diesen Linien Formen und Paare. Die Bewegungen werden komplexer, der Raum wird gefüllt. Tanz und Musik sind so eng verflochten, dass nicht klar ist, was zuerst war – sie scheinen beide miteinander und füreinander entstanden zu sein. (Hat da jemand Gesamtkunstwerk gesagt?)

Mit einem unterdrückten und oft überwältigend dissonanten Klang ist Reichs „Triple Quartet“ eine seiner verwunschensten Kompositionen. In dem unnachgiebigen Fortschritt der Musik steckt eine Energie, die erst irgendwann, nachdem der letzte Ton verklungen ist, endet.
(Doug Varone, amerikanischer Choreograf, zu Steve Reichs Triple Quartet für Streichorchester)

Im Rückblick erscheint mir Doug Varones Choreografie „Of the Earth far Below“ als kurzes und heftiges Kabinettstück. Steve Reichs Musik peitscht mit grossem Gestus, schneidender Dissonanz und treibenden, streicherbetonten Rhythmen die Tänzer über die Bühne. Der Tanz ist rasant und von artistischer Präzision. Die Körper rennen, gleiten und fliegen wie in einem Kampf ohne Konfrontation. Das Stück ist von knapper Brillanz.

Bekanntermassen ist es schwer, Politik zu vertanzen.
(Cathy Marston)

Das war mir nicht bekannt; oder besser gesagt, ich habe mir die Frage nie gestellt. Da ich nun allerdings Cathy Marstons Feuervogel-Choreografie gesehen habe, muss ich ihr widersprechen: Politik besteht aus Inszenierungen, Positionskämpfen und Machtmarkierungen, aus Beziehungen und Koalitionen, aus Öffentlichkeit und Heimlichkeiten. Mir scheint der Tanz wie kaum eine andere Kunstform geeignet, diese Dynamiken aufzunehmen und zu verarbeiten. Ja, ich wundere mich fast, weshalb Politik nicht öfter vertanzt wird.
Marston projiziert das alte russische Märchen vom Feuervogel in die politische Tagesaktualität des beginnenden 20. Jahrhunderts, der Entstehungszeit von Strawinskys Ballettmusik. Sie identifiziert den Feuervogel mit dem schillernden Rasputin, dem Vertrauten der Zarenfamilie in den bedrückenden Tagen des Ersten Weltkriegs. Und es zeigt sich: Wenig charakterisiert eine Person so präzise und unmittelbar wie ihre Bewegungen. In einem klassischen, operettenhaften Setting agieren die glücklosen Protagonisten, diese tragischen Figuren, in den vorgezeichneten Bahnen ihrer Persönlichkeit. Deren Zeichnung ist vielschichtig: Eindrücklich der Zar, der zwischen politischer Pflicht, Militärkameradschaft, Verzweiflung um seinen Sohn und herzlicher Zuneigung zu den Töchtern sichtbar hin- und hergerissen ist. Und faszinierend das Porträt von Rasputins Mörder Felix, diesem Offiziers-Macho, der gleichwohl vom mystischen Prediger magisch und erotisch angezogen wird.

Ohne Repertoire gibt es keine Tradition. Und ohne Tradition gibt es keine Verbindung zu all dem, was vor der Gegenwart getan wurde. Tradition ist nichts, was mit Vergangenheit zu tun hat. Tradition ist das, was wir heute mit der Vergangenheit tun. Die Zukunft ist, die guten Dinge der Vergangenheit zu entdecken und auf ihnen aufzubauen.
(Nochmals Hans van Manen)

Prominent platziert auf der inneren Umschlagseite des Programmhefts - ein Manifest für die neue Compagnie am Stadttheater Bern? Die letzten drei Jahre hat Stijn Celis die zeitgenössische Tanzsprache auf die Bühne des Stadttheaters Bern gebracht. Das war spannend und experimentell und schwierig. Die Antrittsvorstellung von Cathy Marston hat mich neugierig gemacht auf einen Tanzstil, der sich stärker aus der Beziehung zu seinen Wurzeln nährt. Ich freue mich, diese Facette von Tanz in Bern in nächster Zeit öfter zu sehen.


Technisches: Tanz3 steht noch bis am 31.01.08 auf dem Spielplan des Stadttheaters. Passend zum Personalwechsel im Stadttheater gibt Kristina Soldati im Kulturmagazin ensuite (November 07, p.6-7) dem interessierten Laien eine fundierte Gesamtschau zur Entwicklung des modernen Tanzes.


[UPDATE: Die Einführung von Kristina Soldati ist einfacher auch auf ihrem Blog tanzkritik.net verfügbar. Dort finden sich auch fortlaufend sämtliche Artikel ihrer Reihe "Die Anfänge des Modern Dance".]

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Klimawandel greift Gehirne an

Den Skeptikern des menschenverursachten Klimawandels scheinen langsam die Argumente auszugehen – und die Gewährsleute. Ihr Publikationsorgan, die Weltwoche, musste jedenfalls letzte Woche Hanspeter Born extra nach Prag schicken, damit ihm der tschechische Staatspräsident Václav „Ich habe ein Buch geschrieben“ Klaus seine Ideologie diktieren konnte; ein Ökonom, der vom Thema mehr verstehen will als die 2500 Wissenschaftler des IPCC:

„Erstens: Die Wissenschaftler sind nicht besser als normale Leute. Um den Planeten zu retten, haben sie keinen komparativen Vorteil. ... Zweitens: Sie haben 2500 Leute genannt. Wenn wir dies genau anschauen, sind nur 80 von ihnen wirkliche Klimatologen. Aber das ist auch kein Argument.“

Ist es allerdings nicht, Herr Klaus, im Gegenteil. Und das hätten Sie, Herr Born, ja auch zum Anlass für eine kritische Nachfrage nehmen können, anstatt (wie so häufig) nur den Stichwortlieferanten zu spielen. Die Absurdität von soviel Arroganz wäre belustigend – wenn man sich nicht darüber ärgern müsste, dass die Weltwoche vier Seiten für dümmliche Buchwerbung verschwendet, statt über das zu schreiben, was wirklich interessiert.

Montag, 3. Dezember 2007

Medea

Vor drei Wochen war ich im Theater an der Effingerstrasse; gegeben wurde die Medea von Euripides, ein Stück, das ich kenne und liebe und in meiner Gymnasial- und Unikarriere schon mehrmals gelesen habe. Es fällt mir aber schwer, darüber zu schreiben – ich weiss nicht so recht, was ich denken und sagen soll. Hier ist das Problem: „Medea“ ist eine bis zum äussersten stringente und präzise Tragödie. Es brodelt durchgehend. Erzählt wird Medeas Rache. Sie beginnt am Boden zerstört, von ihrem Mann Jason verlassen und aus dem fremden Korinth ausgewiesen, ganz allein und rechtlos – und setzt dann geduldig, hartnäckig, unerbittlich Stück um Stück ihres Racheplans zusammen: Sie gewinnt die Solidarität der Korintherinnen, erwirkt einen kurzen Aufschub der Ausweisung, sichert sich eine Zuflucht in Athen, lullt den treulosen Gatten in Sicherheit – und schlägt dann zu. Mit ihrem Triumph, um einen fürcherlichen Preis erkauft, endet die Tragödie.

Soweit Euripides, und man mag verstehen, dass ich eine Inszenierung erwartet habe, welche diese Gestalten von archaischer Grösse schonungslos aufeinanderprallen und Rechenschaft über ihr Tun ablegen lassen würde. Und dann dies: Das Drama ist verhalten, recht eigentlich episches Theater in Brechtscher Tradition; Emotionen schaffen es kaum über die Oberfläche; die Figuren haben im schlicht-gräzisierenden Dekor eine Tendenz zur Schablone. Zwei Dinge tragen wesentlich dazu bei. Einmal die Übersetzung: eher philologisch als poetisch (was ich üblicherweise durchaus für eine Qualität halte), verstärkt sie den Verfremdungseffekt. Sie scheint mir nicht für die Bühne geschrieben, im Mund der Schauspieler wird sie zur elaborierten Rezitation. Und dann der Chor, diese Knacknuss einer jeden modernen Inszenierung von antikem Drama. Die korinthischen Frauen werden zu einer einzigen, einer distanzierten Vertrauten von Medea. Das ergibt schöne Szenen der Solidarität, aber auch gesucht wirkende Auftritte, wenn die Korintherin sich – mitten in einem Dialog zweier Figuren – aus dem Halbschatten am Bühnenrand erhebt, in die Mitte tritt, etwas Gutes, Wahres, Schönes spricht und wieder in den Schatten zurückkehrt.

Dies also ist mein Dilemma: Ist das Theater an der Effingerstrasse, indem es eine griechische Tragödie kaum aktualisiert und mit Effekten äusserst zurückhält, jetzt vielleicht gar Avantgarde, und ich sensationshungriger Simpel habe es gar nicht gemerkt? Oder hat es Regisseur Markus Keller einfach verpasst, einen entscheidenden Trumpf zu spielen, nämlich die Emotionalität des Stücks? Er hat den Text in den Mittelpunkt gestellt, und das durchaus zu Recht. Dieser Text ist von einer bedrückenden Aktualität und einer Qualität, die locker den Abend trägt. Damit könnte ich eigentlich die Besserwisserei sein lassen, wenn es nicht ein starkes Argument für die verpasste Emotionalität gäbe: die Medea der wunderbaren Sabine Krappweis. Auch da ist vor allem Verhaltenheit, aber was für ein Vulkan brodelt unter der Oberfläche! Im flammend roten, langen Kleid lässt Krappweis hinter jedem Drehen des Kopfes, jeder Handbewegung, jedem Blick Abgründe von kaum gebändigten Emotionen aufblitzen und spielt damit die ganze Gesellschaft an die Wand. Das soll sie auch – es ist ihr Stück, ihr Plan, ihre Rache, und wie sie zum Beispiel Kreon, nominell der König des Landes und derjenige, der ihr die Ausschaffung ankündigt, als vertrottelten Alten erscheinen lässt, ist von schneidender Brillanz. Trotzdem würde man es gerne sehen, wenn auch die anderen Figuren die Ungeheuerlichkeiten, die sie sehen und begehen, etwas unmittelbarer fühlen liessen, statt sie nur zu referieren. Der Bote, der doch soeben den grausamen Tod Kreons und seiner Tochter miterlebt hat, berichtet davon wie von einem Autounfall mit Sachschaden. Und Jason, der Braut und Schwiegervater verloren hat und mit ansehen muss, wie Medea über den blutigen Leichen der gemeinsamen Söhne stehend triumphiert, greift sich ein bisschen ans Herz, als wäre er zu schnell gerannt. Mit Verlaub: Das würde man nur zu gerne mit dem gleichen unterirdischen Brodeln sehen, das einen bei Medeas Rache so atemlos in den Sessel gedrückt hat.


Technisches: Da ich so spät blogge, ist die Dernière inzwischen bereits vorbei. Eine Kurzkritik findet sich im Blog von Dan Riesen. Wie schon beim Revisor in Biel war der Bund-Kritiker deutlich begeisterter als ich. Ich mag Herrn Gosteli das gute Echo natürlich von Herzen gönnen und sage hier gerne noch ein bisschen deutlicher, dass auch ich das Theater mit starken Eindrücken verlassen habe.

Dienstag, 13. November 2007

Nochmals Nabelschau

Der Nabel der Welt hat die Form eines gedrungenen Tannzapfens, ist aus Marmor und nicht ganz einen Meter hoch. Zeus hatte von den beiden Enden der Welt je einen Adler fliegen lassen, und hier, genau in der Mitte, trafen sie sich: in Delphi. Hier, am Nabel der Welt, blühte über die Jahrhunderte eines der wichtigsten Heiligtümer der antiken Welt. Kühn liegt der heilige Bezirk des Apollon am steilen Abhang des Parnass; der Blick schweift über das Tal und die Ebene mit dem grössten Olivenhain Griechenlands bis hinunter zum Meer bei Itea. Im Museum sind all die Schätze verwahrt, welche Staaten, Städte und Würdenträger aus der ganzen damals bekannten Welt dem Gott (und sich selber) darbrachten.

Das letzte Mal waren wir 2003 in Delphi. Schlechtes Timing: In den vorolympischen Monaten wurde in ganz Griechenland die öffentliche Infrastruktur erneuert, und dazu gehören in diesem glücklichen Land neben Autobahnen und Metro auch die Museen. Einzig den Wagenlenker zeigte man uns damals, wie zum Hohn. Entsprechend gespannt war ich diesen Herbst auf das neu gestaltete Museum. Ich gestehe: Es hatte schon gewonnen, bevor ich es sah. So ist dies hier alles andere als ein objektiver Bericht. Zudem war unser Besuch etwas kurz – der Bus von Athen hatte Verspätung gehabt am Morgen, es blieb uns nicht mal eine Stunde für das Museum. Einer guten alten Gewohnheit folgend konzentrierte ich mich vorwiegend auf die archaische Kunst: gewaltig die beiden Jünglingsstatuen, bekannt als Kleobis und Biton, wie sie majestätisch ihren Raum dominieren; ein quicklebendiger Bilderbogen die Friese des Schatzhauses der Siphnier, wo sich archaisch-tänzerisch und zugleich kraftvoll die Schlacht zwischen Göttern und Giganten, der Krieg vor Troja, das Urteil des Paris entfalten; die Karyatide, die einst den Giebel trug, blickt mit mysteriösem Lächeln auf die Reliefs, und hoch thront darüber thront die Sphinx der Naxier... Jedes Stück ein Meisterwerk, der Besuch ein Genuss. (Und welche Überraschung, nebenbei, für einmal in einem griechischen Museum eine gutgelaunte Aufseherin anzutreffen, die sich freundlich mit den Besuchern unterhielt und einem jener technisch Behinderten, die es nicht fertig bringen, auf ihrer Kamera den Blitz auszuschalten, kein schrilles „no flash“ entgegenschleuderte, sondern ihn verständnisvoll auf seinen Lapsus hinwies!)

Später, in Athen, erzählte mir E., ihre Mutter, eine Fremdenführerin, sei vom neuen Museum eher enttäuscht gewesen: Die Aufstellung und Beleuchtung sei suboptimal, die schönen Augen des Wagenlenkers beispielsweise lägen im Schatten. Das, zum Beispiel, hatte ich nicht gemerkt. Ich bin wohl wirklich kein objektiver Berichterstatter. Dass Delphi das am schönsten gelegene griechische Heiligtum und dass sein Museum eines der konzentriertesten, hochstehendsten Griechenlands ist, das hingegen konnte mir nicht entgehen.


Technisches: Museum und archäologische Stätte von Delphi sind im Sommer täglich von 8 bis 19:30 geöffnet (zu einem kombinierten Eintritt von 9 EUR – was sagst du dazu, Historisches Museum Bern?). Die Anreise nach Delphi ist etwas mühsam: Wer nicht mit einer organisierten Reise oder mit dem Privatauto kommt, nimmt in Athen morgens um halb acht den öffentlichen Bus vom Liossion-Busbahnhof und ist auch ohne Stau kaum vor elf in Delphi. Als Trost auf den endlosen Strassen mag das Wissen um die Bedeutung der drei Sterne im Reiseführer dienen: definitiv „eine Reise wert.“

Sonntag, 11. November 2007

Gier macht blöd

Meine Kreditkartenfirma schickt mir ein nettes Schreiben und klärt mich auf:

„Sind Sie sich bewusst, dass Sie zurzeit auf eine praktische und kostenlose Zusatz-Dienstleistung Ihrer Kreditkarte verzichten? Die Rede ist von der Teilzahlungs-Option.“

Aha. Nein, war ich mir nicht bewusst, danke der Nachfrage. Mit dieser Option, so erfahre ich, kann ich meine Kreditkartenrechnung fortan in Raten bezahlen – 100 Franken sofort, den Rest zu 14,93 Prozent verzinst. Kleinkredit halt. So weit, so gut. Der eigentliche Knaller kommt aber am Schluss:

„Bitte beachten Sie: Mit aktivierter Teilzahlungs-Option bezahlen Sie Ihre Kreditkarten-Rechnung in Zukunft stets mit Einzahlungsschein. So haben Sie auch gleich noch eine bessere Kontrolle über Ihre Ausgaben.“

Nicht lange ists her, da hat mich die gleiche Firma herzlich gedrängt, meine Rechnung per Lastschriftverfahren bezahlen zu lassen. Durchaus zu Recht: Ich habe weniger Aufwand, und sie haben die Gewissheit, dass mein Rechnungsbetrag pünktlich und sicher bei ihnen eintrifft. Eine Win-Win-Situation? Offenbar ist der Win für die Kartenfirma zu wenig gross – oder anders gesagt: Lieber die Taube auf dem Dach als den Spatz in der Hand.

Samstag, 10. November 2007

Berner Nabelschau

Was man den Bernern gewiss nicht vorwerfen kann, ist mangelnder Lokalpatriotismus. Die aktuelle Sonderausstellung im Historischen Museum Bern heisst „Berns Weg in die Moderne“, und als roter Faden dient der „Berner Pioniergeist von 1899-2007“: Da verbinden sich über hundert Innovationen, Errungenschaften und Meilensteine aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur zu einem Panoptikum des Ruhms von Stadt und Kanton Bern. Eingeleitet wird diese Chronologie durch einen Rückblick auf den Beginn der Moderne um 1800; ergänzt wird sie durch analytischere Schlaglichter auf einzelne Grossereignisse und Epochen, auf gesellschaftliche und politische Entwicklungen und die Befindlichkeitsgeschichte in der Schweiz und der Welt. Besonders eindrücklich fand ich den in Biel produzierten Chevrolet (aus der General-Motors-Fabrik, die von der Stadt in einem innovativen Akt staatlicher Wirtschaftsförderung in der Krisenzeit der Dreissiger Jahre schlüsselfertig zur Verfügung gestellt wurde) und den Überblick über Alltagsdesign im 20. Jahrhundert. (Was übrigens wieder mal zur Frage Anlass gibt, weshalb das Design von hundertjährigen Geräten dermassen himmelweit besser ist als das meiste, was heute in den Geschäften steht. Vielleicht, weil das Aussehen damals noch wirklich von der Funktion und vom Material bestimmt und deshalb auf eine verbindliche Weise ehrlich war? Oder einfach, weil uns das schiere Alter sämtliche Kritik ausblendet? In einer ebenfalls ausgestellten Publikation des Heimatschutzes von 1905 wurden jedenfalls ausgerechnet die grossartigen Hotelpaläste der Belle Epoque am Genfer- und anderen Seen als das Hinterletzte an Landschaftsverschandelung gegeisselt...)

Mit dieser Serie von Pioniertaten spielt das Museum gekonnt eine der grossen Stärken zeitgeschichtlicher Ausstellungen aus: Viele der gezeigten Objekte sind den BesucherInnen aus ihrer eigenen Lebensgeschichte vertraut. Damit wird die wissenschaftliche Aufarbeitung ganz von selbst durch die persönliche Perspektive in einen zusätzlichen Kontext gestellt; der Ausstellungsbesuch wird vielschichtiger, der Besucher zum Mit-Experten. Das Konzept hat allerdings eine deutliche Kehrseite: Wenn hundert Objekte versammelt werden, deren einzig Verbindendes ihre Entstehung in Bern ist, droht Belanglosigkeit. Die Ausstellung ist nicht frei von einer Tendenz zum wenig stringenten Abfeiern der lokalen Genialität, zu einem Panoptikum ohne inneren Zusammenhalt. (Nebenbei bemerkt scheint mir dieses Zelebrieren der eigenen Bedeutung charakteristisch für Städte wie Bern. Oder kann man sich eine Ausstellung „Londoner Pioniergeist“ vorstellen? Oder eine ähnliche Grossschau in einer Kleinstadt wie Fribourg?) Und so ist der stärkste Teil der Ausstellung letztlich der erste Raum, der den politisch-gesellschaftlichen Rahmen für Berns Weg in die Moderne absteckt und die Bedeutung des Epochenwandels um 1800 vor Augen führt. Als riesige Wand begrüssen dort die als „Trachtenbilder“ bekannten Porträts von Josef Reinhard den Besucher. Aber dieses Mal geht es nicht um Folklore. Mit eindrücklichem, souveränem Dreh erhalten die Bilder der Schweizer Landsleute zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine neue Interpretation als Porträts derjenigen, die jetzt die Geschicke des Landes in die Hände nehmen, der Bürgerinnen und Bürger. Die Aristokraten des Ancien Régimes sind im engen Raum hinter den ehemals Beherrschten und neu selber Bestimmenden ausgestellt – um nicht zu sagen entsorgt. Und den Wänden entlang zeigen Verfassungs- und Propagandatexte den Weg dieser Trachtenträger durch ein oft wenig beachtetes, aber hochspannendes Jahrhundert von Objekten zu Subjekten der Geschichte.


Technisches: Die Ausstellung „Berns Weg in die Moderne“ ist noch bis am 6. Januar 2008 im Historischen Museum Bern am Helvetiaplatz zu sehen. Als etwas halsabschneiderisch habe ich den Eintrittspreis von 18 Franken empfunden. Natürlich ist da der Eintritt in die ständige Ausstellung und ins Einsteinmuseum auch inbegriffen; aber ehrlich: Nach zwei Stunden intensiven Ausstellungsbesuchs bin sogar ich erst mal erschöpft. Als Ort für Rast und Stärkung empfiehlt sich das edle museumseigene Bistro Steinhalle.

Freitag, 9. November 2007

Frauenversteher

Roger "Frauenversteher" Köppel hat die Studie des World Values Survey gelesen, wonach Frauen in der Schweiz deutlich linker wählen als Männer. Und weiss natürlich weshalb (Link kostenpflichtig):

„Wie die Linke generell sind auch Frauen durchaus geübt darin, Geld auszugeben, das andere zuvor verdient haben. Viele Frauen arbeiten beim Staat oder werden von ihren Männern ausgehalten.“

Auf die Absurdität dieser Argumentation braucht nicht näher eingegangen zu werden. Angemerkt werden muss gleichwohl, dass Frauen, die sich von ihren Männern aushalten lassen, dies mit Köppels ausdrücklichem Segen tun: Keine mir bekannte Schweizer Publikation schreibt Frauen so konsequent an Herd und Wiege zurück, und damit in die finanzielle Abhängigkeit von ihren Männern, wie die Weltwoche.


Und übrigens: Falls jemand sich beim Weltwoche-Ombudsmann über das Geschreibsel des Verlegers und Chefredaktors beschweren möchte, kann er dies ab sofort nicht mehr tun. Die Weltwoche und ihr Ombudsmann Karl Lüönd sind nämlich übereingekommen, „dass die Institution des Ombudsmannes bei den neuen Besitzverhältnissen der Weltwoche nicht mehr nötig ist, da der Verleger und Chefredaktor die gegebene Ansprechperson sein soll.“ Anzufügen ist: Als aufrechter Kapitalist und Unternehmer versteht dieser wohl in erster Linie die Sprache der Abonnementskündigung.


[UPDATE: Auch infamy kratzt sich ob Köppels Kapriolen verständnislos am Kopf. ]

Samstag, 3. November 2007

Erwartungen revidiert

Nach einem feinen, etwas zu langen Nachtessen eilten wir am Dienstag knapp vor acht ins Bieler Stadttheater, stürmten auf den Balkon, drängten uns auf unsere Plätze (natürlich zuvorderst in der Mitte, wie peinlich) – und sassen mitten im Stück. Da waren sie schon alle versammelt bei schmissiger russischer Musik und Sekt, auf rotem Teppich und inmitten edel glänzender Möbel: die Provinzpotentaten, die von der bevorstehenden Ankunft jenes Revisors, durch den Gogol sie in Verzweiflung und Unterwürfigkeit stürzen würde, noch gar nichts wussten. Präzis gezeichnete, herrlich bünzlige Gestalten: die graue Maus von Schulinspektor im zu grossen, durchgeknöpften Veston, der Richter mit gezwungen überbordend guter Laune, die über die Glatze gekämmten Haare bereits in alle Richtungen abstehend, der biedere Spitaldirektor, der beflissene Polizist. Ein optischer Genuss, zumal man auf dem ersten Balkon gerade mal gefühlte drei Meter von der Bühne entfernt ist, also sozusagen mittendrin. Dann schliessen sich die Saaltüren, der Stadthauptmann tritt ein, das Spiel beginnt – und plötzlich ist alle Unmittelbarkeit wie weggeblasen. Das Stück harzt und wirkt gespielt, die zuvor natürliche Gestik erscheint überzeichnet. Keine Spur von der locker-frischen, niemals einstudiert wirkenden Spielweise, von der der Kritiker des „Bund“ so hymnisch berichtet hat. Die Exposition im Büro des Stadthauptmanns, aber auch im Hotelzimmer des abgebrannten Lebemanns Chlestakov schleppt sich dahin, und erst als sich die zu Revidierenden und der vermeintliche Revisor gegenüberstehen, kommt Schwung in das Spiel.

Ich bin etwas verunsichert. Liegt es vielleicht an mir? Schliesslich waren sowohl die Presse wie offenbar auch das Premierenpublikum durchs Band hell begeistert. In der Pause sage ich vorsichtig, dass ich vom Anfang enttäuscht war, und bin erleichtert, dass T. meine Wahrnehmungen bestätigt. Wir identifizieren ein Rhythmusproblem. Gewissen Partien fehlt der Drive, sie sind zu lang, die Dialoge lahmen: für eine Komödie fatal. Wo das Stück allerdings seinen Rhythmus findet, ist es fabulös: Wie Chlestakov, sich betrinkend, sein Lügengebäude ausschückt, vom Richter zum Lehrer und zurück taumelnd, oder wie sich Frau Stadthauptmann und ihre Tochter virtuell stylen (nicht mehr als eine Reihe von Markennamen, aber mit welcher Verve gesetzt) – das ist hochpräzises, grosses Theater.

Der zweite Teil bestätigt unsere Analyse: Schauspieler und Stück sind nicht immer im gleichen Takt. Wo sie es sind, fesseln die Szenen durch ihre Präzision: Das Bestechungs-Schaulaufen im Büro des Stadthauptmanns ist grandios, die Verlobungsszene desgleichen. Die Feier der scheinbar glänzenden Zukunft nach der Abreise des vermeintlichen Revisors beginnt ebenso, zieht sich aber in die Länge, bis man froh wäre, sie wäre bald mal zu Ende. So gehen wir nach einem durchaus vergnüglichen Theaterabend mit gemischten Gefühlen nach Hause: Wir haben ein grosses Highlight erwartet und eine spritzige, aber durchzogene Komödie gesehen. Nächstes Mal lesen wir die Kritiken wieder erst nach dem Theaterbesuch.


Technisches: Der Revisor von Gogol wird im Theater Biel Solothurn noch bis Ende November gespielt; Daten und Reservation auf http://www.theater-biel.ch/auffuehrungsdaten-revisor0.html

Freitag, 2. November 2007

Rück- und Ausblick

Mein sechsmonatiges Blogjubiläum ist ohne Aufhebens vorübergegangen – ich war offenbar zu beschäftigt damit, mein Gepäck auszupacken und dem verlorenen Koffer nachzutelefonieren. (Er ist inzwischen übrigens auch eingetroffen, danke der Nachfrage.) Zwei Wochen Griechenland, das waren auch zwei Wochen (ungefähr) Blogferien. Jetzt kanns wieder losgehen.

Zuvor aber der angekündigte Rückblick: Sechs Monate, vierunddreissig Posts, und das Blog hat wie von selbst sein Thema gefunden: die Reflexion über meinen Kulturgenuss. (Das hat sich ja schon abgezeichnet.) So kann es gerne weitergehen; mit Berichten über Theater und Ballett, Konzerte und Filme, Bücher und Museen. Hie und da wohl auch ein thematischer Querschläger, wir wollen ja nicht so sein. Die Theatersaison hat begonnen; an Themen wird es nicht mangeln!

Freitag, 12. Oktober 2007

Romic

Wenn man im Musée Romain von Vallon die Treppe hochsteigt, ist man erst mal sprachlos: Dort hängt, drei auf zwei Meter gross, mit feinstem Tuschstrich gezeichnet, der Vogelschau-Plan der Stadt Rom zur Zeit Konstantins von Gilles Chaillet. Eine Wucht. Das opus magnum ist Dreh- und Angelpunkt der neuen Sonderausstellung „La Rome des Césars“ und ihrer Begleitveranstaltungen.

Eigentlich ist es aussichtslos, einem solchen Werk noch mehr Magie hinzufügen zu wollen. Die Teams aus Arles, das die Ausstellung konzipiert, und aus Vallon, das sie für die Schweiz adaptiert hat, explorieren jedoch geschickt die verschiedenen Dimensionen des Plans, die archäologisch-kulturgeschichtliche, zeichnerisch-künstlerische und persönliche.

Das geballte archäologische und historische Wissen, das im Plan steckt, wird auf fünfzehn thematischen Schautafeln vertieft, die einen Aspekt aus der Fülle des Materials herauspicken, beleuchten und in Vergleich bringen mit Arles und der römischen Schweiz. Etwas textlastig, gewiss, etwas vorhersehbar, aber durchaus stringent geschrieben, innert nützlicher Frist gelesen und besonders aufschlussreich, was den Schweizer Teil angeht. (Nur schade, dass es in Vallon etwas eng ist und man sich vor den Tafeln gelegentlich auf die Füsse tritt.)

Der Glanz des zeichnerischen Handwerks strahlt den Betrachter schon aus dem monumentalen Plan an. Eindrücklich ist es, dem Zeichner im Video beim Tuschen zuzuschauen – eine Fleissarbeit sondergleichen. Für Comiclaien aufschlussreich sind die ausgestellten Originalseiten aus Comics von Chaillet: Bleistiftentwürfe, getuschte Reinzeichnungen, kolorierte und teilkolorierte Blätter. Der Arbeitsprozess wird sichtbar. Gleichzeitig vermisst man genauere Informationen über das Vorgehen des Künstlers, die auch sein Vortrag am Tag vor der Eröffnung nur beschränkt liefert: Was ist gesichert, was erfunden? Wo und wie ergänzt der Künstler die Wissenslücken der Archäologen? Und damit verbunden auch: Was sind Sinn und Unsinn, Nutzen und Risiken von Rekonstruktionen? Einige Modelle und Rekonstruktionen von römischen Gebäuden in der Schweiz liefern dazu weiteres Anschauungsmaterial; die Diskussion wird aber leider nicht geführt.

Dafür rückt zu Recht Gilles Chaillet selber in den Fokus, dieser Verrückte („Je ne savais pas que vous étiez fou“, sagte ihm sein Verleger, als er den Plan zum ersten Mal sah), dieser grosse Junge, der sich seinen Kindertraum erfüllt hat: Als er mit acht Jahren beim Warten auf seinen Haarschnitt Le journal de Tintin gelesen hatte, beschloss Klein-Gilles, Comiczeichner zu werden. Darauf entdeckte er die Comic-Serie um den gallorömischen Helden Alix und damit seine Faszination für die Antike. Und bereits im zarten Teenageralter machte er sich an seinen Plan von Rom, Version 1.0. Der Massstab war noch bescheidener, die Perspektive etwas wacklig, die Fantasie noch etwas freier, aber alles war schon da. Eine zweite, bessere Version schuf er zehn Jahre später; die endgültige dann, nachdem er Unmengen archäologischer Literatur gelesen und eine riesige Kartei zu allen bekannten Monumenten des antiken Roms angelegt hatte. Neben seinem Brotberuf als Zeichner für Asterix, Alix und eigene Comics sass er insgesamt viertausend Stunden im Atelier an seinem Plan; weitere zweitausend Stunden wandte Chantal Defachelle, seine Frau, für die Kolorierung auf. Ein Hobby nur, mehr nicht. Es brauchte einen ähnlich verrückten Verleger, der davon so begeistert war, dass er beschloss, diesen Plan herauszugeben. Aber wie? Herausgekommen ist ein dickes, respektheischendes Buch. Angeordnet um die einzelnen (ausklappbaren) Teile des Plans exploriert und erklärt es die Stadtviertel Roms, ihre Architektur und Baugeschichte, das tägliche Leben. Beigelegt ist Chaillets Plan als ganzes (leider, aber einleuchtenderweise nur in halber Originalgrösse). Am Samstag war bei Payot in Freiburg Signierstunde: Ein entspannter, freundlicher Gilles Chaillet nahm sich trotz der respektablen Warteschlange alle Zeit der Welt, um in unser Exemplar das Kapitol zu skizzieren, eine launische Widmung hinzuzufügen und mit uns zu plaudern.


Ein P.S. zum Römermuseum Vallon (das ich deswegen gut kenne, weil ich dort seinerzeit Führungen gemacht habe): Das Haus wurde an der Stelle des in den Achtziger Jahren ausgegrabenen römischen Landhauses gebaut und 2000 eröffnet. Um die beiden superben Mosaiken herum zeigte eine Dauerausstellung ausschliesslich an Hand von Ort gefundenen Objekten das Alltagsleben vor Ort. Als ich das Museum am Sonntag betrat, war ich deshalb zuerst mal sprachlos: Die ganzen Vitrinen waren fort; an ihrer Stelle standen die erwähnten wenigen Modelle römischer Bauten aus der Schweiz. Die Vitrinen, so erfuhr ich, seien beim archäologischen Dienst in Freiburg zwischengelagert. Auf dessen Website werde ich beruhigt: All das gehört zur Ausstellung. Einverstanden, dass man für einen grossen Künstler das Museum freiräumt. Aber man hätte den Platz sinnvoller nutzen können als für ein paar eher zufällig ausgewählte Modelle, währenddem im Obergeschoss Enge herrscht. Und zur Gewohnheit wird das hoffentlich auch nicht werden: Das thematisch kompakte und didaktisch überzeugende Museum ist zur Manövriermasse zu schade.


Technisches: Chaillet, Gilles: Dans la Rome des Césars. Grenoble, Editions Glénat 2004. ISBN 2-7234-4050-8.

Musée Romain de Vallon, Vallon/Carignan. Am Museum fährt zwar alle paar Stunden ein Bus aus Freiburg oder Payerne vorbei, aber mit einem Individualverkehrsmittel ist man deutlich besser bedient – und kann gleichzeitig eine Spazierfahrt durch die Broye anhängen, z.B. zur Abbatiale von Payerne, der vielleicht schönsten romanischen Kirche der Schweiz, oder zu ihren kleinen Schwestern in Donatyre oder Corcelles. Oder natürlich, wenn man von den Römern noch nicht genug hat, nach Aventicum.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Hasta siempre

Markus Somm, früher links, heute Weltwoche, ist nostalgisch: Die Linke, schreibt er in der WW 40/07, sei eine Bewegung, "die einst vor begnadeten Polemikern und kampfeslustigen Machos strotzte." Ach, nie kehrst du wieder, goldene Zeit! Inzwischen hat auf der Linken die Erkenntnis an Boden gewonnen, dass der Machismo eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist. Ehrensache deshalb, dass der begnadete Polemiker Somm diesem Jammertal den Rücken gekehrt und bei Nachwuchs-Macker Roger "der Feminismus ist die Rache der weniger schönen Frauen an den Männern mit den schönen Frauen" Köppel eine neue Heimat gefunden hat...

Samstag, 6. Oktober 2007

Persien, animiert

Hier in Freiburg leben wir ja, kinematografisch gesehen, in einem anderen Land als der Deutschschweiz: Deutsche Filme (und auch einige amerikanische) sehen wir in der Regel mit etlicher Verspätung, dafür kommen französische Filme bei uns viel früher in die Säle als ennet der Saane (wenn überhaupt). Wenn also für diese und nächste Woche in verschiedenen Deutschschweizer Städten exklusive Vorpremieren von Persepolis angekündigt sind, zucke ich nur müde mit den Achseln. Den autobiografischen Animationsfilm von Marjane Satrapi habe ich bereits vor zwei Wochen gesehen. Leider habe ich diesen Vorsprung wieder verspielt und meinen Blogpost noch nicht geschrieben. Das liegt wohl daran, dass es eine Herausforderung ist, über diesen Film zu schreiben. Man müsste ja dazu eigentlich nicht nur in der neueren (und wenn möglich älteren) iranischen Geschichte einigermassen sattelfest sein, sondern auch in derjenigen des Animationsfilms und der Graphic Novel – und idealerweise hätte man das Buch Persepolis auch bereits gelesen. Da verliert ein armer Dilettant schon mal den Mut. Und das ist schade, denn ich bin mit einem Hochgefühl aus dem Kino gekommen; mit dem Gefühl, einen ganz besonderen Film gesehen zu haben. Wie aber erklären, warum dieser Film so besonders war?

Vielleicht muss ich bei der Form ansetzen. Besonders gefesselt hat mich nämlich, dass Persepolis ein Animationsfilm ist, der sein eigenes Potential ausschöpft. Nicht im Sinn der immer mehr auf die Spitze getriebenen computeranimierten Realistik anderer Filme; nein, dieser hier verleugnet seine Herkunft aus der Zeichnung nicht. Eine einfache, markante Strichführung, schwarz-weiss wie in der Vorlage, lässt Bilder entstehen, zu Mustern gerinnen, ineinander überfliessen. Nicht einfach künstlich generierte Wirklichkeit, sondern eine andere Wirklichkeit breitet sich auf der Leinwand aus. Und in diesem poetischen Zwischenreich zwischen Märchen, Epos und Tragödie wird mit leichter Hand eine traurige Geschichte erzählt.

Ich habe hier kürzlich eine absurde Fussnote der Zeitgeschichte erwähnt, die griechische Militärdiktatur. Es geht offenbar noch absurder – und noch brutaler: Der Iran, ein Land mit unvergleichlicher, uralter Geschichte und Kultur, navigierte im 20. Jahrhundert gleichsam zwischen Scylla und Charybdis, zwischen der westlich orientierten Diktatur des Schahs und dem islamischen Totalitarismus der Mullahs; und anders als Odysseus vermochte er weder dem einen noch dem anderen auszuweichen. Soweit die aus Funk und Fernsehen bekannte Geschichte. Dass dieses Geschehen der rigide Rahmen für das Leben von Millionen von Menschen ist, geht (wie immer in der grossen Politik und Geschichte) gerne vergessen. Marjane Satrapi war zu Zeiten des Schahs und der Revolution ein Kind; und ihre Geschichte ist ihre ganz persönliche Navigation durch diese Unzeiten. Ihre Familie, aus persischem Adel stammend, ist dem Schah-Regime gegenüber kritisch eingestellt und im Widerstand aktiv; Folter, Gefängnis und Tod sind frühe Realitäten im Leben der kleinen Marjane. Die Revolution bringt nicht den ersehnten Wandel zum Besseren, sondern eine Pervertierung. Das Leben wird zum ständigen Lavieren zwischen den eigenen Ansprüchen auf Freiheit, den absurden Vorschriften der neuen Machthaber und dem alltäglichen Schrecken des Krieges. Marjane soll aus dieser ausweglosen Situation gerettet werden, wird ins französische Gymnasium nach Wien geschickt, leidet dort unter der fremden Umwelt und arrangiert sich mit ihr, schafft aber den geistigen Spagat zwischen ihrem sicheren und etwas belanglosen Leben im Exil und der Lebensgefahr ihrer Familie im Teheran des Krieges nicht; sie kehrt zurück, studiert im Iran, heiratet – aber es nützt alles nicht, und der Film endet mit dem zweiten Exil, das bis heute andauert, mit der Ausreise nach Frankreich. Sie hat ihre Eltern seither nicht wieder gesehen.

Das alles ist tieftraurig – und zugleich leichtfüssig erzählt und von schneidender Tragikomik durchsetzt. Als Klein-Marjane, mit Punk-Jacke, Turnschuhen und Schleier, vom Schwarzmarkt zurückkehrt, wo sie eine Kim-Wilde-Kassette gekauft hat, wird sie von zwei Sittenwächterinnen angehalten. Drachengleich winden sich ihre Gestalten ins Bild: Warum sie mit Turnschuhen herumlaufe? Wieso sie einen Michael-Jackson-Button trage? Mitkommen solle sie! Nicht aufs Maul gefallen fabuliert die Kleine zurück: Die Turnschuhe? Aber ich bin in der Basketmannschaft der Schule! Der Button? Nicht Michael Jackson ist das, sondern Malcolm X, der muslimische Widerstandskämpfer! Mitkommen? Bitte nicht, meine böse Stiefmutter bringt mich sonst um! Das Unheil ist abgewendet, das Publikum atmet auf, schmunzelt, aber der Kloss im Rachen bleibt. Und so ist dieser Film ein aufrüttelnder Film. Indem er die Absurdität des Krieges und Totalitarismus mit den Augen eines Kindes betrachtet, entstellt er sie bis zur Kenntlichkeit.


Link: Zur weiteren Lektüre empfohlen wird der Artikel von Daniel Binswanger über Marjane Satrapi im Magazin.

Dienstag, 18. September 2007

Sägen macht durstig

Mein Besuch in der Heimat am Wochenende war etwas museumslastig. Nicht genug damit, dass ich in Lenzburg dem Glauben nachspürte. Tags zuvor fand zudem die 2. regionale Museumsnacht Michelsamt-Oberwynental statt. Was in den Städten seit Jahren ein Riesenerfolg ist, wird doch wohl auf dem Land auch funktionieren, müssen sich Karl Gautschi und die zwölf teilnehmenden Institutionen zwischen Gontenschwil und Rickenbach gedacht haben. Vielleicht funktioniert das Konzept auf dem Land sogar besser, denn in ein Kunst- oder Historisches Museum gehe ich auch sonst mal – aber würde ich einfach so das Tabakmuseum Menziken besuchen? Oder das Kulturforum Rickenbach? Eben. Am vergangenen Freitag aber stieg ich um 19:05 Uhr in Menziken aus dem Zug und besichtigte daselbst die Alte Sagi und das Tabakmuseum, die Ausstellung der Huwyler-Kreuzwegbilder in der Kirche Rickenbach sowie die Bibliothek und die Kapitelstube des Stiftes Beromünster, um den Abend dann um Mitternacht bei einem Speckplättchen und einem Glas Stiftswein in der Pintenwirtschaft im Haus zum Dolder zu beschliessen... und damit hatte ich nur gerade mal die Hälfte der teilnehmenden Institutionen gesehen. Der Highlights waren viele; herauspflücken muss ich die Alte Sagi in Menziken. In der Dorfsäge von 1801, die seit 1969 ausser Betrieb und dem Zerfall preisgegeben war, werden seit zwanzig Jahren wieder hie und da Bretter gesägt. Seit der Sendung mit der Maus bin ich fasziniert davon, einer Maschine beim Funktionieren zuzusehen. Wenn es sich dabei um eine sehr alte Maschine handelt, kommt noch deren elementare, solide Ästhetik zur Faszination dazu. Deshalb blieb ich fast eine Stunde in der Alten Sagi, arbeitete mich geistig durch die Zahnräder, Wellen und Riemen durch, die die Kraft vom Wasserrad aufs Sägeblatt lenken, und genoss das Schauspiel.

Ach ja, der Titel dieses Posts: Damit rechtfertigten die wackeren Säger im Video, das dem Publikum den Betrieb erläuterte, ihren Umtrunk nach erfolgreicher Arbeit. Am Freitagabend allerdings war ich genau dann in der Säge, als der einzige Regenguss des Abends niederprasselte. Damit wurde das Sägemehl einigermassen aus der Luft gefiltert, und anstatt mir die trockene Kehle spülen zu müssen, machte ich mich nüchtern und frisch auf den Weg durch den weiteren Abend.

Montag, 17. September 2007

Glaubenssache

Der Glaube ist, so die unausgesprochene Prämisse der Ausstellung „Glaubenssache“ des Stapferhauses Lenzburg, etwas radikal Subjektives. Der Besucher kann sich dem nicht entziehen: Schon bevor er die Ausstellung betritt, muss er sich als gläubig oder ungläubig outen; und an drei Serien von Computerterminals, angeordnet wie die Entwerter in der Metro, verdient er sich gleichsam den Eintritt in den nächsten Teil, indem er Fragen zu seinem Glauben beantwortet, deren Auswertung am Ende sein Glaubensprofil enthüllt. Ich beobachte einige der Besucher, wie sie ihren USB-Stick ins Terminal stecken: Sie kleben praktisch davor, decken es durch ihren Körper ab wie einen Bancomaten – und ich verstehe sie: Glaubensfragen sind sehr persönliche, intime Fragen, auf die man nicht so unbefangen öffentlich Antwort gibt. Umso eindrücklicher ist es, dass der Hauptteil der Ausstellung von neun Personen bestritten wird, die uns einen tiefen, ungeschminkten Einblick gewähren in ihren Glauben und ihre Glaubenspraxis: Sie beschreiben ihr Gottesbild; sie erzählen, wie und wann sie beten; sie lassen uns teilhaben an Ritualen ihres Alltags; und sie nehmen uns mit zu ihrem Gottesdienst. Eine Katholikin ist darunter, mehrere Konfessionslose, ein Freikirchler, der jüdische, islamische, hinduistische Glaube sind vertreten; die Glaubensvielfalt der heutigen Schweiz wird abgebildet. Diese Momentaufnahmen werden gleichsam in die Breite gezogen durch eine luftige Wand: Einige Dutzend Objekte hängen da an langen Fäden von der Hallendecke herunter. Sie stehen für ebenso viele Menschen, die sie für die Dauer der Ausstellung zur Verfügung gestellt haben, stehen in Verbindung mit ihrem Glauben. Die kurzen Erklärungen am Fussboden zeugen unter anderem vom immensen Wert, den diese Objekte dank ihrer Aufladung mit Glauben haben: Ein Kind hat seinen Schutzengel nur widerwillig in die Ausstellung gegeben; eine Sportlerin weiss, dass der nächste Wettkampf hart werden wird, weil ihr Talisman jetzt in Lenzburg hängt; ein jüdischer Mann hat die Gebetsriemen seines verstorbenen Bruders gebracht, weil er die seinen täglich braucht.

Ein Glaubensmosaik aus Film, Ton, Objekten und eigenen Gedanken setzt sich so im Erdgeschoss der Ausstellung zusammen. Das Obergeschoss thematisiert dann, was passiert, wenn diese einzelnen, zum Teil sehr individuellen oder individualistischen Glaubensüberzeugungen zu Religionsäusserungen gerinnen und aufeinander treffen: clash of religions auf schweizerisch gewissermassen. Die Themen liegen nicht fern; drei davon wurden ausgewählt, um in Zeugnissen von Direktbetroffenen beleuchtet zu werden: Sollen in einem christlich geprägten Land wie der Schweiz Minarette gebaut werden dürfen? Sollen in unserer religiös massiv durchmischten Gesellschaft Weihnachtslieder und Krippenspiele weiterhin einen Platz in der Schule haben? Ist es legitim, mit religiösen Symbolen zu werben, konkret mit einer indischen Gottheit auf einem Migrossack? Dass sich im Neben- und Miteinander der Religionen das Profil eines Landes schärft, wird zum Schluss (etwas zu) spielerisch in drei Szenarien für die religiöse Zukunft der Schweiz übersetzt: Was wäre, wenn die Schweiz weniger religiös würde? Polyreligiöser? Christlicher?


Dank der Verlängerung habe auch ich es noch geschafft, mir die Ausstellung anzuschauen. Anderthalb Stunden waren allerdings nicht genügend Zeit für sämtliche Audio- und Videostationen; ich musste mich notgedrungen beschränken. Besonders berührt haben mich neben den Glaubensobjekten die religionslosen Rituale: zu sehen, wie die strukturierende, Halt gebende Funktion von Ritualen vom ursprünglichen religiösen Träger abgelöst und in eine neue Form gegossen werden kann; wie Eltern, die den Glauben ihrer Kindheit nicht mehr haben, die Kraft ritueller Handlungen neu interpretieren. Die Ausstellung zeigt eindringlich, dass jenseits der grossen Worte und der Politiken der Glaube von jedem und jeder in eine persönliche Form gegossen wird. Sie zeigt, dass die Trennlinien unscharf sind, dass die Kategorien verschwimmen. Augenzwinkernd unterstreicht sie dies, indem sie den USB-Stick, auf dem ich mein Glaubensprofil gesammelt habe, am Schluss mit dem Hinweis zurückverlangt, dass die Aufschrift „gläubig“ oder „ungläubig“ nunmehr zu unpräzise sei.

Zu kurz kam für mich jedoch die Frage, weshalb sich trotz dieser Auflösung der Gewissheiten und Traditionen auch in der Schweiz weiterhin heftige Konflikte an religiösen Fragen entzünden. Ist das der alte Unterschied zwischen Glaube und Religion? Greifen wir unwillkürlich zur religiösen Keule, wenn uns in gesellschaftspolitischen Diskussionen die Argumente ausgehen? Ist die wahre Kraft der Religionen die kulturelle Prägung, die sie ausüben? Die kurzen Schlaglichter auf drei Konfliktfelder sind relativ hilflose Versuche, die Vehemenz dieser Auseinandersetzungen zu ergründen und ihre wahren Ursachen offen zu legen. Die Ausstellung ist dort stark, wo sie den individuellen Glauben – unseren und den ihrer ProtagonistInnen – erkennbar macht. Sie stösst dort an ihre Grenzen, wo sie daraus Überlegungen zum Zusammenleben der Religionen ableiten will. Dieses Thema ist zu komplex, um so en passant mehr als nur angestossen zu werden. Und so sind die BesucherInnen, sind ihre Meinung und Interpretation ein weiteres Mal gefordert, nach der Ausstellung, auf dem Heimweg und darüber hinaus.

Mittwoch, 12. September 2007

Der Gesang der Generäle

In unseren heutigen Augen erscheint die griechische Militärdiktatur hauptsächlich absurd: Diese armseligen Obristen, kleine Gestalten mit lächerlichen Schnäuzen, konnten sich vor gerade mal vierzig Jahren in Griechenland an die Macht putschen und sieben Jahre lang ein knöchern konservatives und ultranationalistisches Regime etablieren? Surreal. Tödlich real waren allerdings die Verbannungen und Folterungen. Vom Erleben und Überleben von Folter und von der Hilflosigkeit der Freunde der Opfer erzählt eine Graphic Novel von Andreas Gefe zu einem Szenario von José-Louis Bocquet, Der Gesang der Generäle.

In blaugrauen und rostroten Bildern tasten wir uns Schicht um Schicht an den Kern der Geschichte heran. Zusammen mit einem forschenden Studenten lernen wir den in Paris lebenden griechischen Regisseur Vassili kennen. Wir erfahren, wie sein Besuch in Frankreich 1967 über Nacht zum Exil wurde. Wir lesen von seinem Filmprojekt über die Folteropfer der Junta, das zunächst begeistert gefördert wurde, danach aber aus banalen, zufälligen Gründen scheiterte. Endlich gelangen wir zur Hauptfigur, die alle Stränge und Zeitebenen der Geschichte zusammenhält, zu Lena; wir hören, wie sie mit dem Widerstand in Kontakt geriet, wie sie, die nur das Geheimnis eines Liebesbriefes bewahren wollte, festgenommen und gefoltert wurde, wie sie überlebt hat und weiter überlebt – aber wir kommen nicht wirklich an sie heran. Wir sehen sie kaum. Wir begreifen nicht. Bocquet und Gefe weigern sich – so verstehe ich sie –, die quälenden Fragen zu beantworten, die Rätsel aufzulösen; sie weigern sich, die Folter und das Überleben der Folter in irgendwelche sauberen Bilder zu giessen. Nur Andeutungen gestatten sie sich: Als der Filmemacher dem Studenten Lenas Geschichte erzählt, verzerren sich die Grotesken in der Tapete hinter ihm zu Fratzen und entstellten Gesichtern.

Die Story wirkt ein bisschen verquer, konstruiert: „All das wegen eines Gedichts!“, wundert sich der Student. Und Vassili wirkt etwas pathetisch, wenn er darauf mit vernichtendem Blick antwortet: „Ein Gedicht, das ist die Menschlichkeit an sich! Es gibt nichts Edleres, wofür sich zu leiden lohnte.“ Doch wenn auf den letzten Seiten das Blaugrau zu einem klar-blauen Hintergrund und das Rostrot zu Vassilis tiefrotem Hemd wird, kommt eine Klarheit und Durchsichtigkeit in die Bilder. Vassili hat Lena nicht helfen können und hat trotzdem getan, was zu tun war. Hat er zum Schluss seinen Frieden gefunden? Soweit möglich vielleicht schon.


Technisches: Andreas Gefe, José-Louis Bocquet: Der Gesang der Generäle. Zürich, Edition Moderne 2006. ISBN 978-3-03731-001-4.

Sonntag, 9. September 2007

Strategische Leser

Lange nicht gebloggt, ich weiss. Nachzutragen habe ich zunächst eine Realsatire aus der letztwöchigen Weltwoche. Dort interviewte André Müller Peter Handke. Er spricht ihn auf die Aberkennung des Düsseldorfer Heine-Preises an und auf die Rolle der Grünen dabei – worauf Handke antwortet:

Ja, weil die völlig kulturlos sind. Keiner von denen ist ein Leser, fast keiner. Oder sie lesen strategisch. Es gibt Leute, die lesen ein Buch, und kaum sind sie fertig, glupsch, ist es weg, als wäre das Lesen nur eine Erledigung oder eine Beseitigung des Buches.

Strategische Leser gibt es offenbar nicht nur bei den deutschen Grünen, sondern auch bei der eher liberalen (oder sollen wir sagen nationalkonservativen) Weltwoche-Leserschaft. Der wird nämlich im Kleingedruckten unter dem Interview ein besonderes Angebot gemacht:

Exklusiv für Weltwoche-Leser: Die Zusammenfassung von Peter Handkes Roman «Wunschloses Unglück» kostenlos auf www.getAbstract.com/weltwoche.

Donnerstag, 23. August 2007

„Und sie bewegt sich doch“

Zur Zeit arbeite ich mich – vielleicht hat mans ja gemerkt – quer durch mein Bücherregal, möchte endlich etwas aufholen, all die Bücher lesen, die ich seit langem gekauft und geschenkt gekriegt habe. Ich scanne die Rücken, und das erste ungelesene Buch, das mir gefällt, ziehe ich raus. So habe ich eben Luciano De Crescenzos Darstellung der Anfänge des modernen Denkens gelesen.

Einem Leonardo nicht unähnlich war De Crescenzo früher Ingenieur, bevor er sich in die Philosophiegeschichte stürzte und eine Reihe leichtfüssiger Werke veröffentlichte, Schlaglichter auf eine Epoche oder einen Mythos. Hier skizziert er, nach einer kurzen, präzisen Einführung, die Porträts von zwei Dutzend Männern, die jene Zeit prägten, in der Gewissheiten, starre Strukturen und Denkverbote aufgebrochen und in einem revolutionären Sturm wesentliche geistige Errungenschaften erzielt wurden: die Zeit des Humanismus und der Renaissance. Zur Hauptsache sind die Protagonisten Italiener, aber auch die Reformatoren, Astronomen und Philosophen von nördlich der Alpen fehlen nicht: Der Bogen spannt sich von Nikolaus von Kues bis zu Galileo Galilei. Die Porträts ergänzt De Crescenzo jeweils mit einem „Apropos“, einem persönlichen Nachsatz, der wichtige Gedanken nochmals aufgreift oder auch nur seine besondere Beziehung zum Beschriebenen erläutert.

Nahe und lieb sind sie ihm fast alle. Mir aber wurden sie nicht wirklich vertraut. Zu oft bleiben die Porträts an der Oberfläche, zu oft hat die Kürze den Ton einer Lehrbuchzusammenfassung, und gerade die hierzulande weniger bekannten Figuren werden in lexikalischer Knappheit und ohne persönliche Noten behandelt. Hier und da stechen geistreiche Passagen heraus, so zur Namensgebung von Nikolaus von Kues (p.13), zur Skepsis bezüglich Nostradamus (p.133) oder zur Interpretation eines erotischen Gedichts von Tommaso Campanella (p.161). Leider sind sie durchsetzt mit etlichen Trivialitäten, unzusammenhängenden Bemerkungen und etwas ermüdenden Betrachtungen zur italienischen Politik.

Dankbar bin ich für die konzentrierte Erinnerung an eine Blütezeit der europäischen Geistesgeschichte. Dann aber lege ich das Buch ohne bleibende Nachgedanken aus der Hand.


Technisches: Luciano De Crescenzo: Und sie bewegt sich doch. Die Anfänge des modernen Denkens – von Nikolaus von Kues bis Galileo Galilei. Deutsch von Bruno Genzler. München, btb 2006. ISBN 978-3-442-73485-6

Mittwoch, 22. August 2007

Dancing about architecture

Heute im Masani-Kartenständer den Satz gesehen, den ich für meinen Post über Michael Jacksons Buch vergeblich gesucht hatte, von Frank Zappa:

Writing about music is like dancing about architecture.

Wobei ich das gerne mal sähe, dancing about architecture. Klingt sehr kreativ.

Sonntag, 12. August 2007

Nebel über Islay

Whisky sollte man geniessen, nicht beschreiben, eigentlich – auch wenn die wachsenden Kulinarikabteilungen von Buchhandlungen vom Paradox der Genussmittelbeschreibung offenbar gut leben. Nun wäre es ein Missverständnis zu denken, Michael Jacksons Scotland and its Whiskies sei ein Buch über Whisky. Es ist der Bericht über eine Reise längs und quer durch Schottland. Dass der Autor dabei von Zeit zu Zeit eine Destillerie antrifft, ist gänzlich unvermeidlich, und es wäre ein Sakrileg, daran vorbeizugehen, ohne einen Schluck Lebenswasser (uisge beatha) zu probieren... und darüber jeweils ein paar Zeilen zu schreiben.

Aber eigentlich ist es egal, worüber Michael Jackson (der ärmste heisst tatsächlich so) schreibt; ich würde wohl alles von ihm lesen, solange er es so schön schreibt, wie er es über Schottland und seinen Whisky tut. Die letzten paar Jahre habe ich aus beruflichen Gründen tausende von Seiten Englisch gelesen. Dies allein wäre kein Grund zur Klage, wenn es denn klassische Wissenschaftsprosa gewesen wäre, welche die Engländer und Amerikaner so erfrischend elegant beherrschen. Stattdessen bin ich durch die Worthölle von technical reports und, schlimmer, policy documents gegangen, welch letztere sich dadurch auszeichnen, dass sie nichtssagende Modeworte zu grosstönenden Sätzen kombinieren, in der Regel mit dem Hauptziel, die Zahlung von irgendwelchen Geldbeträgen auszulösen. Nach diesem Jammertal nun also Jackson. Vom Whisky-Degustieren sind seine Sinne aussergewöhnlich geschärft: Wenn er durch die Moore oder den Bächen entlang wandert, wenn er auf Berge und Hügel steigt oder auf Inseln übersetzt, scheint er mehr wahrzunehmen als unsereiner – und bringt das in grandios reicher Sprache zu Papier. Ich bekenne, dass ich passagenweise wenig verstanden habe, so poetisch ist sein Wortschatz; und doch habe ich auf das Wörterbuch meist verzichtet, denn es gibt, scheint mir, ein Verständnis jenseits der Worte. Geholfen haben dabei die meisterhaften Bilder von Harry Cory Wright.

Übrigens erfährt man in diesem Landschaftsbuch tatsächlich ganz nebenbei auch alles Wissenswerte über schottischen Whisky und seine Herstellung. Wright steuert dazu viele sehr didaktische Bilder bei. Und Jackson neben den technischen Details die Quintessenz: Wie jedes gute Naturprodukt ist ein grosser Whisky die Frucht von Landschaft, Wetter und handwerklicher Meisterschaft. Ich erhebe mein Glas auf einen Hochgenuss von Buch!


Technisches: Michael Jackson: Scotland and its Whiskies. The great whiskies and their landscapes. Photography by Harry Cory Wright. New York, Harcourt 2001. ISBN 0-15-100942-2. (Auch auf Deutsch erhältlich bei Hallwag.)

Dienstag, 7. August 2007

Die Herbstzeitlosen

Den erfolgreichsten Schweizer Film des letzten Jahres ausführlich vorzustellen, hiesse Wasser in die Emme tragen. Ich habe "Die Herbstzeitlosen" diese Woche im Open-Air-Kino (im Bollwerk in Fribourg) endlich noch erwischt, und dort passte er hin: ein richtiger Feel-Good-Film, der einen mit aufgeräumtem Herzen und seligem Lächeln entlässt. Erzählt wird die klassische Film-Story des Helden, der gegen innere und äussere Widerstände seinen grossen Traum realisiert. Der Held ist hier eine Heldin, die achtzigjährige Martha, und ihr fast vergessener Lebenstraum eine eigene Lingerie-Boutique [1]. Der Widerstand seinerseits wird verkörpert von mehr oder weniger ihrem ganzen Umfeld, der Bevölkerung von Trub im (wirklich wunderschönen) Emmental – besonders dem bis zur Kenntlichkeit verfremdeten lokalen SVP-Tribunen und dem eigenen Sohn, dem Dorfpfarrer. Bettina Oberli erzählt diese Geschichte stringent und liebevoll, wenn auch durchaus vorhersehbar; und mit der Musik hat sie mich ohnehin im Sack: Luk Zimmermann verwendet Volksliedmotive für einen zeitgenössisch-ländlichen Soundtrack.

Zwei Gedanken zur Ergänzung: Normalerweise finde ich bei Schweizer Filmen oder Fernsehserien die Dialoge sehr holprig. Ich weiss nicht, ob es daran liegt, dass ichs nur in meiner Muttersprache richtig beurteilen kann, aber in der Regel merke ich auf hundert Meter gegen den Wind, dass ich nicht den Leuten beim Leben zuschaue, sondern den Schauspielern beim auswendig Aufsagen. „Die Herbstzeitlosen“ ist mir in dieser Hinsicht sehr positiv aufgefallen. Bei einigen Ausdrücken war ich mir zwar nicht ganz sicher, ob eine achtzigjährige Emmentalerin sie wirklich brauchen würde; aber sonst hat der Dialogschreiber dem Volk durchgehend gut aufs Maul geschaut.

Und dann ein (böser) Verdacht: Funktioniert die Komödie vielleicht vor allem deshalb, weil sie einem eher jungen, urbanen Publikum erlaubt, über eher altes ländliches Personal zu lachen? Beim weiteren Nachdenken erinnere ich mich an die Schwulenwitze von Monty Python und frage mich, ob etwas noch diskriminierend sein kann, wenn es eindeutig überzeichnet ist. Denn das ist es doch offensichtlich: Auch im zugegeben sehr ländlichen Trub würden sich allenfalls vereinzelte Eiferer über eine Lingerie-Boutique aufregen. (Die realen Truber haben dem Vernehmen nach mit Begeisterung beim Film mitgemacht.) Spielt Bettina Oberli also vielleicht einfach mit unseren Klischees, indem sie sie verstärkt und so als Mittel für ihre Fabel verwendet? Auf jeden Fall verlaufen die Bruchlinien keineswegs dem Pensionsalter entlang – oder wenn, dann anders als gewohnt; denn so richtig ungeniessbar sind nur die Figuren im mittleren Alter (Bibelgruppe und Beizenhöckler), währenddem die Seniorinnen durchwegs Sympathieträgerinnen sind. Man kann sich über die Klischees oder ihre Umkehrung enervieren; aber so funktioniert eine Komödie. Es empfiehlt sich wohl, den Film als frischen, queren Beitrag zum Generationenkonflikt zu sehen – und sich von seinen eigenen Klischees nicht allzu sehr beeinflussen zu lassen...



[1] Das Wort „Lingerie-Boutique“ muss man sich in geniesserischem Berndeutsch vorstellen, um seine ganze erotische Potenz zu erschliessen.

Sonntag, 5. August 2007

Mehr Kultur

Ich halte mich an meine Vorgaben, was die zukünftige inhaltliche Ausrichtung dieses Blogs angeht, und warte mit der Entscheidung die Probezeit bis im Oktober ab. Aber in den letzten Wochen haben die Posts fast von selber eine gute Richtung eingeschlagen: Das Blog dient mir inzwischen hauptsächlich als Ort der Reflexion über meinen Kulturgenuss. Nach Theater- und Kinobesuchen oder nach der Lektüre eines Buches bleibe ich gewöhnlich mit einer Fülle angedachter Gedanken zurück, die sich allenfalls bei einem Glas Wein nach dem Theater etwas weiterdenken lassen, sonst aber bald wieder in den Orkus entschwinden. Ich vermisse auch seit der Matura die intensiven Diskussionen über Literatur. Einige dieser Gedankenskizzen entwickle ich jetzt in Blogposts weiter, selbstverständlich als reiner Dilettant – also als Liebhaber.

Zur leichteren Handhabung habe ich die Labels germanisiert und systematisiert; ein Register gibt jetzt auch einen besseren Zugriff auf die einzelnen Kategorien. (Beibehalten habe ich das lieb gewonnene „Umbilicoscopica“ für Blog-Bezogenes, obwohl es wahrscheinlich haarsträubend falsches Latein ist, jedenfalls bei Google nirgendwo sonst auftaucht...)

Leben und Tod

Die Klosterkirche Engelberg wird derzeit (zusammen mit dem angrenzenden Innenhof) innen und aussen umfassend renoviert. Im März wurde der Innenraum fertig gestellt und neu geweiht. Im Juli betrat ich die Kirche zum ersten Mal nach zwei Jahren wieder: Der Staub der Jahrzehnte ist weg, alles ist licht, helles Gelb und zartestes Rosa schmücken die Wände; und im neuen Licht kommt auch der farbige Tonplattenfussboden zu seiner angemessenen Geltung.

Nun ist die erste Renovation einer Kirche seit dem Anfang des 20. Jahrhunderts in der Regel mehr als nur Putzen und Auffrischen. Sie ist Anlass zur Neugestaltung der liturgischen Orte, zum vollständigen architektonischen Nachvollzug des Zweiten Vatikanischen Konzils. Und so haben Abt und Konvent in den grossartigen barocken Raum mit sicherer Hand einen architektonischen und liturgischen Markstein des beginnenden 21. Jahrhunderts gesetzt.

Altar, Ambo und Taufstein sind klare, einfache geometrische Formen, Quader und Zylinder. Der Stein nimmt das Altrosa der Altarsäulen auf, der schwarze Stahl die Farbe der Chorraumstufen (Farbkonzept von Wendelin Odermatt); und so stellen sich die neuen Elemente bescheiden und auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar in den jahrhundertealten Raum. Sie verleugnen ihre Zeitgebundenheit nicht (man ist versucht, Parallelen zur aktuellen Mehrfamilienhausarchitektur zu ziehen), drängen sie aber auch nicht auf: Sie spielen ihre Rolle im Kirchenraum, aber wissen, dass es nicht die einzige Hauptrolle ist. (Einige Fotos finden sich hier.)

Oberflächlich gesehen spielt sich das liturgische Leben zu einem grossen Teil im neu gestalteten Altarraum ab. Aber eine Kirche, zumal eine Klosterkirche, ist mehr als nur Altarraum. Sie ist ein Brennpunkt von Jahrhunderten Klostergeschichte und von vielfältigen religiösen Praktiken. Und so haben die Konzeptoren, Kurt Sigrist und P. Guido Muff, in der gleichen Formensprache zwei weitere Raumelemente gestaltet: die Beichtklausen beim Kircheneingang und eine neue Grabplatte für die Mönchsgruft. Anstelle der gewöhnlich wandschrank-ähnlichen, muffigen Beichtstühle laden nun in den ersten Seitenkapellen zwei geräumige Beichtzimmer zum Gespräch ein. Die Farbgebung schafft eine moderne Klammer um den Raum und weist zugleich darauf hin, dass die Beichte nur im Zusammenhang mit den anderen Sakramenten und religiösen Verrichtungen verstanden werden kann.

Das Herzstück der Neugestaltung scheint mir aber der Einbezug der Mönchsgruft in den Kirchenraum zu sein. Die Gruft hat mich immer fasziniert: In diesem langgestreckten Raum quer zur Kirchenachse, auf der Höhe der Chorraumstufen, liegen wie in einer Katakombe einer neben dem anderen die verstorbenen Engelberger Mönche. Eine simple Tafel mit Namen und Lebensdaten bezeichnet jede einzelne Grablege. Ein kleiner Gang führt nach vorne in ein neu konzipiertes Beinhaus, das genau unter dem Zelebrationsaltar liegt. So werden die Toten aus der Kirche durch die neue Öffnung in die Gruft gesenkt, und sie bleiben in der Kirche präsent durch die Grabplatte, die mit dem Altar und den anderen liturgischen Orten eine Einheit bildet. Was sich im Altarraum abspielt, ist nicht eine isolierte religiöse Praxis im Hier und Jetzt, sondern wird durch die Architektur eingebettet in seinen theologischen und historischen Zusammenhang. Schöner hätte der Gedanke, dass ein Kloster eine Gemeinschaft von Lebenden und Toten durch die Jahrhunderte ist, kaum ausgedrückt werden können.


[UPDATE: Die Links zur Kirche und zum Innenraum sind leider in den Orkus verschwunden und wurden entfernt.]

Mittwoch, 1. August 2007

Alles Gold, was glänzt?

Ich fotografiere in den Ferien nicht mehr so viel wie früher; vielleicht als roten Faden noch jeweils so einen Film pro Reise mit der alten Kompaktkamera. Den Rest der Zeit gebrauche ich meine Augen. Als Gedächtnisstütze und Fotoersatz empfiehlt sich dann jeweils am Touristenstand ein Führer, den ich hauptsächlich an Hand der Bildqualität auswähle.

So geschehen letzten Sommer in der Markuskirche in Venedig. Wer wollte in diesem überbordenden, einzigartigen Kirchenraum fotografieren? Wer könnte es? Stattdessen erwarb ich am Verkaufsstand in der Ecke der Vorhalle ein reich illustriertes Buch von 170 Seiten, das angesichts der ungewöhnlich hohen Qualität der oft ganz- und doppelseitigen Bilder mit seinem Preis von 17 Euro getrost als Schnäppchen bezeichnet werden kann. Und mehr noch: Darüber hinaus hat der Text einen wissenschaftlichen Anspruch. Unter der Leitung des Hauptarchitekten der Kirche liefert eine Schar illustrer Autoren eine klug zusammengestellte Sammlung von Aufsätzen, die nach aufmerksamer Lektüre verlangen – und nach angemessener Würdigung in diesem Forum. Und so wandle ich ein Jahr später virtuell nochmals durch San Marco, gleichsam blind oder wenigstens stark kurzsichtig (das Fehlen eines verständlichen Gesamtplanes macht sich schmerzlich bemerkbar), aber mit einem gelehrten Cicerone an der Hand, der mir die Geschichte des Doms aus der politischen, religiösen und künstlerischen Geschichte der Lagunenstadt herausschält. Was eigentlich gar nicht geht: Kirche und Stadt sind natürlich untrennbar miteinander verflochten. Die Ankunft des Leichnams des Evangelisten 828 bewirkte in reliquienbegeisterter Zeit einen gewaltigen Statusgewinn der Stadt; der neue Stadtpatron verlangte aber natürlich auch einen entsprechenden Kultort. Der in unseren Längengraden so ungewohnte byzantinische Stil der Kirche, der in Renovationen und Ergänzungen – nochmals ein Verfremdungseffekt – mit italienischer Renaissance durchsetzt ist, kommt nicht von ungefähr, diente doch die justinianische Apostelkirche in Konstantinopel als prominentes Vorbild. Das in den Mosaiken der Kuppeln, Bögen und Wänden verwirklichte Bildprogramm aus dem 12. Jahrhundert ist ein kühner, umfassender Rundumschlag durch die Heilsgeschichte mit distinkt venezianischem Gepräge und wird im opus sectile des Bodenbelags wieder aufgenommen.

Der Führer leitet kundig durch den Reichtum, stellt einige Details und Teilkunstwerke aus dem Überfluss ausführlich vor, ohne das Gesamtwerk aus den Augen zu verlieren. Und so könnte man von diesem Kleinod von Souvenir ein durchwegs positives Fazit ziehen, wenn es nicht am gleichen Ort kranken würde wie fast alle seiner Artgenossen: an der Übersetzung. Neben kleinen Tipp- und Druckfehlern und Inkonsistenzen fällt vor allem der etwas freihändige Umgang der Übersetzerin mit dem theologischen und kunsthistorischen Fachvokabular auf: Wofür gibt es einen deutschen Begriff? Was kann auf Italienisch oder Lateinisch belassen werden? So ist der römische Kaiser Settimio Severo (p. 75) bei uns als Septimius Severus bekannt und der Apostel Sila (p. 12) als Silas (Apg 15), die Psicostasía (p. 154) würden wir eher gräzisierend Psychostasie schreiben, währenddem die Legenda aurea auch auf Deutsch so heisst – und nicht etwa Goldlegende (p. 154)... Dies ist dann wohl die Kehrseite des Schnäppchens. Unverständlich ist der Text deswegen natürlich nicht, und die Bilder vermitteln auch dem von der etwas abenteuerlichen Terminologie Verwirrten den überwältigenden Genuss der Kathedrale von Venedig.


Technisches: Die Markuskirche in Venedig, herausgegeben von Ettore Vio. Übersetzung Gerda Geyer. Florenz, SCALA Group 1999. ISBN 88-8117-476-6. Erhältlich im Narthex von San Marco und sicher auch sonst überall in Venedig.

Freitag, 20. Juli 2007

Freiburger und europäische Visionen

Schon mehrmals habe ich hier den Freiburger Festivalsommer en passant erwähnt; hier sei nochmals explizit gesagt: Was in dieser Stadt vom Juni bis im August quantitativ und qualitativ geboten wird, ist dazu angetan, weit grösseren, bedeutenderen und reicheren Städten die Schamröte ins Gesicht zu treiben. (Bern zum Beispiel hängt seit letztem Jahr unter dem Titel BernerKulturSommer Plakate aus, die im Wesentlichen ein paar Konzerte und zwei-drei Open-Air-Filme so gruppieren, dass es ein bisschen nach Gesamtkunstwerk aussieht. [UPDATE: Nicht mal mehr der Link darauf funktioniert.]) Nicht dass ich mich nun täglich (bzw. nächtlich) auf der Place Python rumtreiben würde; ich bin ein eher eklektischer Festivalgänger, entscheidend und beglückend finde ich bereits das Gefühl, dass ich mich tatsächlich täglich auf der Place Python rumtreiben könnte.

Zu berichten ist hier vom Abend des 18. Juli auf der Jazzparade. Jazzfestivals haben ja, soweit ich sehe, die praktische Eigenheit, dass sie als Vorwand zur Darbietung von allerlei Musik dienen können – so ists jedenfalls in Montreux, und in Freiburg ist das nicht anders. Am Mittwochabend war allerdings wirklich Jazz angesagt, mit Thierry Langs Lyoba Project sowie dem Vienna Art Orchestra. Lang, aus Romont gebürtiger Pianist mit inzwischen internationaler Strahlkraft, hat sich der Musik seiner Heimat angenommen, genauer: der „Volkslieder“ von Abbé Bovet und Abbé Kaelin. Zusammen mit Bass und Trompete, ergänzt durch vier klassische Celli, explorierte er Le Ranz des Vaches, Nouthra Dona di Maortsè und andere Klassiker. Der angekündigte Respekt vor dem traditionellen Liedgut war spürbar; es war allerdings keine Gralshüterei, sondern ein sehr lebhafter, kreativer und spielfreudiger Respekt. Schade, dass das ursprüngliche Projekt einer Zusammenarbeit des Jazztrios mit einem Chor nicht verwirklicht werden konnte; aber die Celli brachten einen sinfonisch-zeitlosen Touch in die Lieder, der sehr angemessen ist.

Das Vienna Art Orchestra, der Hauptact des Abends, ist zur Zeit auf Jubiläumstournee: Seit dreissig Jahren existiert die „grossartigste Big Band Europas“ (Peter Rüedi in einer wie immer höchst lesevergnüglichen Rezension), und zum Geburtstag präsentiert sie ein Werk von titanischen Dimensionen, sowohl im Umfang als auch im Anspruch: Die Trilogie American Dreams – European Visionaries – Visionaries & Dreams. Amerika und Europa im Widerstreit und im Dialog; der neue Kontinent verkörpert durch dreizehn Schauspielerinnen, der alte durch dreizehn führende Denker. Am Mittwoch wurde der europäische Part gegeben: Dreizehn Stücke also, musikalische Porträtskizzen von dreizehn Geistesgrössen durch die Jahrhunderte, von Franz von Assisi bis zu Stephen Hawking. In seiner stilistischen Vielfalt war dieser Abend ein bemerkenswerter Beitrag zur aktuellen Debatte über altes und neues Europa, über die Fundamente des Abendlandes und ihre Gefährdung. Dass die heute regelmässig beklagte oder angefeindete Abwesenheit einer strikten Wertegemeinschaft selber ein grundlegender Wert ist, hervorgegangen aus jahrhundertelangem Ringen um Erkenntnisse und Wahrheiten, dass sie aber nicht verwechselt werden sollte mit einem unbestimmten anything goes: Das alles kommt in musikalischer Form überraschend neu und zwanglos selbstverständlich daher.

Einzelheiten herauszuheben aus dem Gesamtkunstwerk European Visionaries ist mir praktisch unmöglich (auch weil ich nun wirklich kein grosser Jazzkenner bin). Erwähnen will ich aber das einzige vokale Stück, den Sonnengesang von Franz von Assisi, nach unzähligen Versionen aus dem religiösen Musikschaffen hier für mich erstmals in einer sehr berührenden Jazzversion.

Dream of consciousness

Wie bespricht man in diesem bescheidenen Blog eines der Meisterwerke der deutschen Literatur? Vielleicht so: Eichendorffs „Taugenichts“ erscheint als Konzentrat und Quintessenz der Romantik. Alles ist da: Mühle und Schloss, Volkslied, Geige und Gitarre, Maler und Musiker, Vaterlandsliebe und Italiensehnsucht, das schöne Edelfräulein und der arme Müllersohn. Alles ist innig und intensiv ausgeführt, aber aufs Rasanteste, wie ein Videoclip[1], montiert: Kaum unterwegs, trifft der Taugenichts schon auf der ersten Strasse seine Angebetete; kaum auf ihrem Wagen, sieht er sich schon eine Gärtner-, bald darauf eine Einnehmerstelle im Schloss angeboten; kaum der festen Stelle und des Liebeskummers überdrüssig, ist er schon wieder unterwegs Richtung Italien; und so geht das weiter bis am Schluss. Und wenn sich ein Übergang nicht ganz so nahtlos einstellt, taucht ohne viel Federlesens ein deus ex machina auf, der die losen Enden zusammenknüpft. In diesem tollen Ritt von der Donau nach Rom und zurück scheint sich unser Held in einer Parallelwelt zu bewegen, in der alles mit allem verknüpft, jeder mit jedem bekannt ist; und er selber stolpert, fällt hindurch, wird gestossen mehr als er sich wirklich selber bewegt, mehr Objekt als Subjekt seines eigenen Lebens, sobald er nur aufbricht und den Schritt aus der ihm nicht angemessenen kleinbürgerlichen Existenz in die Freiheit wagt. Eindeutig: Hier ist ein Traum beschrieben, eine fulminante Reise durch eine Welt, in der die Logik keinen Platz hat und Gefühle, Ängste und Wünsche die Hauptrolle spielen.

Eichendorff selber bietet in selbstreferentieller Ironie eine ähnliche Interpretation an, wenn er zum Schluss den Herrn Leonhard (der eigentlich ein Graf ist und die treibende Kraft hinter allen Irrungen und Wirrungen und glücklichen Zufällen – denn eine Erklärung und eine Logik dahinter gibt es durchaus!) zu unserem Taugenichts sagen lässt:

„Und nun müssen wir schnell in das Schloss, da wartet schon alles auf uns. Also zum Schluss, wie sich’s von selbst versteht und einem wohlerzognen Romane gebührt: Entdeckung, Reue, Versöhung, wir sind alle wieder lustig beisammen, und übermorgen ist Hochzeit!“

Eine romantische Novelle als Parodie eines Romans: Der gute Eichendorff muss dann und wann geschmunzelt haben, als er seinem Helden auf seiner tollen Fahrt zu folgen versuchte.


Technisches: Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts. Novelle. Es existieren selbstverständlich die diversesten Ausgaben; unter anderem online und frei zugänglich auf Projekt Gutenberg und Wikisource. Als Fan der gelben Büchlein habe ich die gute alte Reclam-Version gelesen: Herausgegeben von Hartwig Schultz, Universal-Bibliothek 2354 (Stuttgart 1992 u.ö.).




[1]Tatsächlich existieren zwei Verfilmungen des Taugenichts (aus dem Vor-Videoclip-Zeitalter), die ich jedoch beide nicht gesehen habe: „Aus dem Leben eines Taugenichts“ (1973) und „Taugenichts“ (1978).

Samstag, 14. Juli 2007

Endwind

Vor ein paar Jahren war ich zum ersten Mal seit einiger Zeit wieder in Einsiedeln. Ich war kurz zuvor mehrmals in Rom gewesen, was vielleicht meinen Sinn für perfekt inszenierte Plätze geschärft hatte. Auf jeden Fall fielen mir beim Einbiegen aus der Hauptstrasse auf den Klosterplatz dessen Grandeur und Proportionen als sehr unschweizerisch auf – oder andersrum gesagt: Der Einsiedler Klosterplatz ist wohl der italienischste, zweifellos aber der schönste Platz der Schweiz.

Gibt es eine fantastischere Bühne für ein Theater? Und gibt es ein passenderes Stück als eines, das den Platz nicht nur als Bühne, sondern als Handlungsort verwendet? Nach fast hundertjähriger Tradition ist das „Grosse Welttheater“ von Pedro Calderón de la Barca in Thomas Hürlimanns zweiter, radikalerer und stimmigerer Bearbeitung definitiv zum „Einsiedler Welttheater“ geworden. Es ist bei uns und in unserer Zeit angekommen. Calderón schickte seine allegorischen Figuren in bester barocker Manier ins Spiel, ins Theater des Lebens. Dort sollten sie sich bewähren und am Schluss Rechenschaft ablegen über ihre Taten und Worte. Hürlimann erdet diese Allegorien im Einsiedeln des Jahres 2007. Die Bühne ist nicht mehr der in alle Richtungen offene symbolische Spielplatz des barocken Dichters, sondern der sehr konkrete Klosterplatz mit seinen Touristen, Marktständen, Pilgern. Der Platz ist baufällig (so erfahren wir aus den aufliegenden Flyern, die zu Spenden einladen), und baufällig ist auch die Welt, die als alte Frau mit langen wirren Haaren durchs Spiel führt. Der Untergang ist nahe, die Zeichen werden klar erkannt: Es weht der Endwind, der Sihlsee kocht, die Erscheinung der Madonna mit dem Kind wird erwartet, die apokalyptischen Reiter stehen schon am Eingang zum Tal. Das Einsiedler Welttheater 2007, das wird gleich zu Beginn unmissverständlich klar, zeigt die Menschen, die Menschen aus Einsiedeln, im Angesicht der Apokalypse.

Aber plötzlich sehen wir wieder die alten Allegorien vor uns, die ganz klischeehaft reagieren, maskenhaft wie ihr jeweiliges Alter Ego mit dem grossen Kopf: Der König ergreift geübt die Chance zur populistischen Beschwichtigung. Die Reiche sieht im Endwind den Antrieb für Windturbinen. Dem Bauern ist der Weltuntergang vielfältige Entschuldigung, schnell noch ein paar Halbe zu kippen. Und das bevorstehende Ereignis der Erscheinung der Jungfrau zieht Touristen, Kranke und Pilger zu Dutzenden an. Sehenden Auges bereiten sich die Menschen auf den Untergang vor und verdrängen ihn gleichzeitig – um ihm letztlich nicht zu entgehen. Der Endwind wird zum Sturm, aus dem Kloster raucht und brennt es, und die uralten Bilder der Apokalypse, die Reiter, werden überlagert von unseren eigenen Bildern der Apokalypse: Die Klostertürme werden zu den Twin Towers, aus denen sich Verzweifelte in den Tod stürzen. Unsere Figuren tauchen noch einmal auf, in Panik, gescheitert. Die müde alte Welt weint mit ihnen, wird von der Schönheit getröstet. Zuletzt liegen sie alle tot auf dem Platz.

Volker Hesse, der Regisseur, hat richtig erkannt: Der grosse Platz erfordert grosses Theater. Die Massenszenen, von Jo Siska magistral choreografiert, nützen die gewaltige Bühne zu vollem Effekt aus. Das ist kein symbolistisch-karges Theater, das ist barocke Üppigkeit, auf Augenhöhe mit Platz und Fassade. Organisch schmiegt sich die Musik (Jürg Kienberger) ins Geschehen, zum grössten Teil live auf und hinter der Bühne gespielt und gesungen. Blaskapelle, Chor und Orchester begleiten die Lebensszenen zu Beginn. Der Pilgerzug singt betörend Mozarts Ave verum corpus, begleitet von einem bettlägrigen Kranken auf dem Schwyzerörgeli. Der Endwind schliesslich, berückend und immer bedrückender, ertönt auf Glasharfen, die zuletzt in feierlicher Prozession über den Platz ziehen.

Was bleibt? Die stringent herbeigeführte, unausweichliche Apokalypse ist noch nicht das Schlussbild. Hürlimann offeriert uns einen überraschenden, poetischen letzten Blickwinkel, einen Interpretationsansatz, der (trans-zendent) über die Notwendigkeit des Scheiterns herausweist. Er legt der Welt, die als einzige im Leichenfeld noch aufrecht steht, die Schlussworte von Calderóns Meister in den Mund:

Und da das ganze Leben
nur Theater ist
sei euch und uns
das Spiel vergeben.

Das anschliessende bruchstückhaft-brüchige Te deum unterstreicht leise die Botschaft: Unser Irren und Wirren, unsere Blindheit und Schuld sind vergeb-bar, da sie nicht die ganze, vollständige Realität ausmachen. Wir sind letztlich mehr als die Personen, die wir spielen. Und von den Hunderten von Spielenden fallen unter dem nun vollen Scheinwerferlicht ihre Figuren ab; sie lächeln, strahlen, tuscheln und werden wieder sich selber. Aber auf dem Einsiedler Klosterplatz bleiben lebendig und präsent die Bilder der alles auslöschenden Apokalypse.

Montag, 9. Juli 2007

Hohe Brücken, tiefe Gräben

Die Stadt Freiburg feiert ihr 850-Jahr-Jubiläum klug, nämlich dezentral. Anstatt eine grosse Sause zu schmeissen mit dutzenden von Rednern, hängt sie sich an all die Festivitäten an, die ohnehin schon geplant sind, und lässt sie zur Feier des Jahres besonders festlich erstrahlen. So wurde die Fête de la musique von einem auf drei Tage ausgedehnt, und das Bollwerkfestival bekam zur Eröffnung ein pyrotechnisches Spektakel der Extraklasse verpasst. Und damit nach dem Jubiläumsjahr auch etwas im Bücherregal bleibt (und nicht zu gering), gibt die Bürgergemeinde ein Buch über die Stadt im 19. und 20. Jahrhundert heraus – Pflichtlektüre für einen Wieder-Neo-Freiburger wie mich.

Das Buch setzt da an, wo die Stadt zur Stadt wird; wo nach dem Ende des Ancien Régime die Untertanen frei werden (jedenfalls mehr oder weniger) und die vordem allmächtige Stadt eine Gemeinde wie jede andere. Das heisst, fast wie jede andere: Bei der Gütertrennung zwischen Stadt und Kanton zieht erstere nachhaltig den Kürzeren, und schon gehts los. Sie sollte nun auf eigenen Beinen stehen, hat aber nicht die Muskeln dazu; und mehr als behelfsmässige Krücken gibts von den ehemaligen Untertanen auch nicht. Ein dauerndes Feilschen und Kämpfen begleitet die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts: Da die aristokratisch geprägte, aber zeitweise auch radikal regierte Stadt, dort der konservative, mittels Budget und Ammann heftig mitregierende Kanton. Freiburg scheint nicht vom Fleck zu kommen; das äussert sich auch in der Wirtschaft: Der Kanton bleibt tief agrarisch geprägt, die einzige Industrie, die die Verantwortlichen sich vorstellen können, beschäftigt sich mit der Verarbeitung der Agrarprodukte. Mehr ist da nicht. Es braucht einen Visionär wie den Neuenburger Guillaume Ritter, der der Bürgergemeinde Wälder der Saane entlang abkauft, den Maigrauge-Staudamm baut und mit einem ingeniösen teledynamischen System die Wasserkraft auf die Pérolles-Ebene lenkt, wo er in grossen Umfang Industrie anzusiedeln gedenkt. Er scheitert, legt aber trotzdem die Grundlagen für die darauffolgende Industrialisierung.

Der aktuelle Claim von Freiburg als KulturBrückenStadt weist auf die Bedeutung der Brücken in dieser Stadt der steilen Felswände hin. Seit der Stadtgründung schlängelte sich der ganze Verkehr mühsam zur Saane hinunter, über die drei Brücken der Unterstadt und drüben wieder hoch. Die grosse Hängebrücke von 1834, damals die längste der Welt (und heute noch, so sie denn noch hinge, eine der elegantesten), die Galterenbrücke, später der Grandfeyviadukt der Bahn und die Perollesbrücke hoben den Verkehr eine Etage nach oben, banden die Stadt flüssiger ans Umland und an den Rest der Schweiz an. Den Preis zahlte wohl die Unterstadt, die über Jahrzehnte hinweg und bis weit ins 20. Jahrhundert ein vollgepacktes Elendsviertel war, um dann vom erwachenden bauhistorischen Bewusstsein beinahe trockengelegt zu werden, bis sie zum lebendigen Wohn- und Ausgehviertel unserer Zeit wurde. Die Symbolik des Füni, welches die Arbeiter aus der Unterstadt mittels der Abwässer der Elite aus der Oberstadt in die Fabriken transportierte, ist schon vielfach besprochen und herausgehoben worden.

Bei der Lektüre eröffnen sich dem lokalhistorisch Ungebildeten Zusammenhänge; so die Bedeutung der „République chrétienne“ des allmächtigen Georges Python, von dessen ideologisch unterfütterten Schöpfungen die Uni nur das prominenteste ist. Dem Stadtspaziergänger erschliesst sich Bekannt-Unbekanntes; so die Ablaufrinne entlang von Escaliers du Collège und Ruelle des Maçons, die seinerzeit als Kanal für das Löschwasser aus dem Collège-Weiher dienten, falls es in der Grand-Rue brannte. Und dem Architekturgwundrigen werden eine ganze Reihe von Monumenten ans Herz gelegt, die es baldigst genau zu begutachten gilt, von der (durchaus bekannten) Jugendstilsiedlung im Gambach über die massive Präsenz des Heimatstils quer durch die ganze Stadt bis zu den architektonisch einzig bemerkenswerten Wohnblöcken des Schönbergs (Henri-Dunant und Vieux-Chêne). Nach der Lektüre fühle ich mich noch besser angekommen in Freiburg. Und zwischendurch bietet es sich fürs Gemüt an, die beigelegte CD-ROM einzulegen und mit dem bimmelnden Tram durch das Freiburg der Belle Epoque zu fahren.


Technisches: Bourgeoisie de la ville de Fribourg (ed.): Fribourg, une ville aux XIXe et XXe siècles / Burgergemeinde der Stadt Freiburg (ed.): Freiburg, eine Stadt im 19. und 20. Jahrhundert. Freiburg, Editions la Sarine 2007. ISBN 978-2-88355-108-4