Samstag, 30. Januar 2010

Ein Tag und ein Leben im Kloster

Liegt es nur an meinem einseitig fokussierten Interesse, oder sind in letzter Zeit religiöse Themen im kulturellen Geschehen tatsächlich besser vertreten? Vor Weihnachten lief hier in Fribourg für kurze Zeit Soeurs, ein Dokumentarfilm über das Leben in drei Frauenklöstern: die Benediktinerinnen-Abtei in Pradines bei Lyon, das Dominikanerinnen-Kloster in Estavayer-le-Lac und das Kloster der Visitandinnen in Fribourg selber. Soeurs erwies sich als diskreter, unspektakulärer Film. Er verzichtete weitgehend auf poetische Inszenierungen der klösterlichen Architektur und Stimmung, und seine sehr dokumentarische Bildsprache war weit entfernt von der fast liturgischen Intensität, die vor vier Jahren den Karthäuser-Film Die grosse Stille ausgezeichnet hatte. Rhythmisiert durch den strengen klösterlichen Tagesablauf rückte er vielmehr den ganz gewöhnlichen Alltag hinter Klostermauern in den Fokus der Kamera, die uralte Abfolge von Gebet und Arbeit, von Gemeinschaft und Einsamkeit. In kurzen Porträts gaben einzelne Nonnen Auskunft über ihren Glauben und ihre Art, ihn zu leben. Dabei entstanden so berührende Momente wie im Gespräch mit einer alten Dominikanerin aus Frankreich, die schon drei Mal ihr Leben in einem aussterbenden Kloster hatte aufgeben müssen, um an einen neuen Ort zu ziehen, oder wie in den Erinnerungen der Benediktinerin, die 1945 an einem Samstag zum letzten Mal zum Tanz ging und tags darauf ins Kloster.

Besonderen Raum gab die junge Schweizer Regisseurin Katharine Dominice den Vorsteherinnen der drei Klöster. In ausführlichen Gesprächen analysierten sie ihre Rolle als Oberhaupt ihrer Gemeinschaft und die Ausübung von Autorität in einem Umfeld der Demut und des Gehorsams. Bei allen Ähnlichkeiten in der Rollenauffassung wurden dort die Unterschiede zwischen den Orden deutlich: Das Spektrum reicht von der benediktinischen Äbtissin, die sehr wohl weiss, wie sehr sie mit ihrem auf Lebenszeit ausgeübten Amt nolens volens ihre Gemeinschaft prägt, über die dominikanische Priorin, die in burschikos-kollegialer Art ihre Mitschwestern zusammenhält, bis zur jeweils für vier Jahre gewählten Superiorin der Visitandinnen: Sie interpretiert ihre Leitungsfunktion als temporäre Aufgabe wie jede andere – so wie sich jemand um die Werkstatt kümmert, muss halt auch jemand an der Spitze der Gemeinschaft stehen.

Dass Dominice diese Thematik so prominent präsentiert, unterstreicht ihre Wichtigkeit. Ich denke, dass die Art und Weise, wie mit Autorität, Gehorsam und Entfaltung der Persönlichkeit umgegangen wird, für die jeweils spezifische Spiritualität eines Klosters, eines Ordens sehr entscheidend ist; ja ich sehe darin einen wesentlichen Unterschied zwischen Männer- und Frauenorden in der katholischen Kirche. Was ich damit meine: Mönche sind vielfach Priester und haben damit ganz von selbst eine definierte Autorität innerhalb der katholischen Hierarchie. Orden wie die Dominikaner oder Jesuiten definieren sich stark über die Intellektualität, stellen Professoren und Lehrer; Benediktinerklöster sind schon von ihrer Architektur her Zitadellen, spielten und spielen als Lehrorte eine gewichtige Rolle. Regelmässig greift die Kirche zudem für Bischofs- und andere Leitungsämter auf Ordensangehörige zurück. So sehe ich bei Angehörigen von Männerorden in der Regel ein breites Spannungsfeld zwischen ihrem Gehorsam gegenüber den Ordensregeln und der Autorität ihrer Oberen und der Möglichkeit, ihre eigene Persönlichkeit zur Geltung zu bringen. Demgegenüber spielen – von aussen gesehen – bei Angehörigen von Frauenorden Demut und Selbstaufgabe eine viel zentralere Rolle: Ihre Klöster sind oft geschlossen und unzugänglich, ihre Aufgaben dienender und betreuender Art. Ich fürchte, dass dieser mein Eindruck ein etwas oberflächlicher ist, und hätte gerade deshalb gerne mehr darüber gelernt.

Dass dies in anderthalb Stunden Film kaum möglich ist, ist mir freilich klar. Was durchscheint in allen Gesprächen: Der Entscheid zum Klosterleben ist im höchsten Grad persönlich und individuell. Dem Aussenstehenden können die spezifischen Charakteristika der einzelnen Orden und Klöster, können Worte und Gesten der Nonnen immerhin eine Ahnung davon vermitteln. Gleichwohl: Das Mysterium wird beleuchtet, bleibt aber mysteriös.


Technisches: „Soeurs“ läuft inzwischen nicht mehr im Kino. Beim Warten auf die DVD kann die Website schon mal einen guten, umfangreichen Einblick in den Film und seine Hintergründe geben.

Sonntag, 24. Januar 2010

Fribourg miniature

Beschäftigungsprogramme für Arbeitslose stehen oft im zweifelhaften Ruf, dass sie nicht mehr sind als eben das: Programme, damit die Arbeitslosen irgendwie beschäftigt sind. Kürzlich war jedoch in Fribourg das Resultat eines Arbeitslosenprojekts zu besichtigen, das nichts weniger als spektakulär zu nennen ist: das Modell der Stadt Fribourg im Jahr 1606. 1996 gaben Stadtrat und Arbeitsamt den Anstoss zum Projekt, die berühmte Stadtansicht des Graveurs Martinus Martini in drei Dimensionen zu realisieren, und seither haben insgesamt 450 Stellensuchende über 150'000 Stunden in das Stadtmodell investiert und sich dabei Zusatzqualifikationen in Gebieten wie AutoCAD oder Modellbau erworben. Jetzt ist das Modell fertig und konnte über die Weihnachtszeit zum ersten Mal in seiner Gesamtheit der Öffentlichkeit präsentiert werden. Ort des Geschehens war die Safe Gallery im Untergeschoss der Kantonalbank; grosszügige, weitläufige Räumlichkeiten an einem Ort, wo man gemeinhin Tresore erwarten würde. Das Modell füllte den grossen Saal allerdings locker: Auf 55 m2 breitet sich die Canyonlandschaft von Saane und Galterenbach aus, 17 Laufmeter Stadtmauern umgeben 1'700 präzise nachgebildete (und von innen beleuchtete) Miniaturgebäude im Massstab 1:250. Von schmalen Podesten rundherum konnte man sich dieses Miniatur-Fribourg zu Gemüte fügen, soweit einem nicht jemand anderes die Sicht verdeckte – der Publikumszuspruch war enorm, das Interesse riesig. Eine Art son et lumière liess einen Tag im Fribourg von 1606 wieder aufleben, beleuchtete die einzelnen Quartiere und ihre Geschichte, berichtete aus dem Alltag und ergänzte das Modell mit virtueller Realität. Noch spannender und bereichernder fand ich aber das einfache Betrachten, Entdecken und Analysieren. Die aussergewöhnliche didaktische Wirkung einer Luftansicht verband sich dabei mit dem Entdeckungspotential eines Stadtrundganges zu einem tieferen Verständnis der Geschichte, der Entwicklungen, der geografischen und baulichen Struktur.

Das Projekt ist zu Ende, das Modell ist fertig – was jetzt? Selbstverständlich wäre es jammerschade, dieses fantastische historische Anschauungsmaterial wieder zu magazinieren und nur alle paar Jahre an irgendwelchen Messen aufzubauen. Deshalb sammelt ein Unterstützungsverein Geld, um diesem Kunstwerk im kürzlich abgebrannten und wiedererrichteten Werkhof an der Unteren Matte einen festen Platz zu geben. Ich kann mir keine bessere Ergänzung zu einem Rundgang durch die Freiburger Altstadt vorstellen als dessen Nachvollzug anhand des Stadtmodells, zumal mehr als zwei Drittel der darauf dargestellten Gebäude immer noch stehen. Deshalb wünsche ich dem Verein Association Werkhof-Frima raschen Erfolg mit seinem Vorhaben und werde selber natürlich auch mein Scherflein beitragen.

Sonntag, 17. Januar 2010

Ein Winternachtstraum

Neben dem Theatergebäude von Nuithonie steht gegenwärtig ein eigenartiger, zwölfeckiger, gedrungener Turm, kunstvoll aus Holz errichtet: eine verkleinerte Nachbildung des Londoner Globe Theatre aus Elisabethanischer Zeit und gleichzeitig eine Wanderbühne (mit dem sinnigen Namen Tour Vagabonde), auf der bzw. in der das unmittelbare, volkstümliche, interaktive Theatererlebnis wiederbelebt wird, das Shakespeare seinem Publikum geboten hatte. Man sitzt im Parterre hart unter der Bühne oder auf den beiden schmalen Etagen rund um sie herum und sieht die Akteure aus nächster Nähe – oder sieht sie gelegentlich auch nicht, denn gespielt wird überall, auch in den toten Winkeln. Der englische Regisseur Pip Simmons bringt in diesem ungewohnten Raum eines der bekanntesten Stücke Shakespeares zur Aufführung, die Komödie A Midsummer Night’s Dream. Das ist ein furioses Spektakel, ein Stück der Irrungen und Wirrungen, durchsetzt mit viel handfester Komik. Simmons fokussiert stark auf diese derbe Seite, die Schauspielerinnen zeigen viel Unterwäsche und nackte Haut, die Figuren sind häufig grotesk überzeichnet. Das kommt dem ursprünglichen Shakespeare wohl sehr nahe, hat aber auch etwas Ermüdendes: Bald hat man begriffen, dass der Elfenkönig Oberon und sein Helfer Puck famos heitere Gesellen sind, so dass das neckische Lachen, mit dem sie jeden Satz beschliessen, etwas aufgesetzt zu wirken beginnt. Und auch Theseus’ Macke, keinen Busen und kein Champagnerglas unangetastet vorbeigehen zu lassen, nützt sich mit der Zeit ab. So war vieles überdeutlich gespielt, waren alle Figuren letztlich sehr eindimensional. Ob das gewollt war, gar ebenfalls Shakespearisch? Ich weiss es nicht. (Nicht hilfreich war bei dem Ganzen natürlich, dass ich vom rasanten, kunstvollen französischen Text einiges nicht verstand. Meine Gewährsperson bestätigt mir allerdings, dass die Übersetzung geistreich und gelungen war und sich durch viel Wortwitz auszeichnete.)

So bleibt mir von diesem winterlichen Theaterabend weniger die Interpretation in Erinnerung als vielmehr der einmalige Rahmen: die kunstvolle Turmskulptur im gefühlten Niemandsland neben den Hochhäusern von Cormanon, die zirkusartige Atmosphäre der schmalen Bänke, die von schräg oben den Blick auf das Geschehen gewähren, die raumgreifende Bespielung der Etagen, Treppen und Säulen. In den wärmeren Jahreszeiten, lese ich, kann das Dach entfernt werden, und die Tour vagabonde wird gewissermassen zum geschlossenen Freilichttheater. Wenn sie im Mai wieder in der Gegend ist, gehe ich gern wieder hin.


Technisches: „Songe d’une nuit d’été“ wird noch bis am nächsten Sonntag in Fribourg gespielt; im Februar und März gastiert die Tour vagabonde dann auf dem Campus der Uni Lausanne.

Dienstag, 12. Januar 2010

Julia und Romeo

Die erneute lange Blogpause ist Cablecom geschuldet, beziehungsweise deren Unfähigkeit, innert nützlicher Frist unser neues Modem zu aktivieren. Nach einer Woche digitaler Abstinenz steht jetzt immerhin die Verbindung mit dem Internet wieder. Das ermöglicht es mir, den längst fälligen Bericht zur Saisoneröffnung des (glücklicherweise geretteten) Berner Balletts nachzuliefern. Auf dem Programm stand Shakespeare, „Romeo und Julia“ – beziehungsweise „Julia und Romeo“. So benennt Cathy Marston ihre Interpretation von Prokofjews Ballettmusik, so gewichtet sie. Julia steht im Zentrum, und sie liegt ganz zu Beginn vorne an der Bühne; zum wuchtigen, dissonanten Einsatz des Orchesters spielt sie selbstverloren mit dem Dolch, der hier noch mehr Accessoire als Mordinstrument ist (zumal es sich um eine Spiegelscherbe handelt), aber trotzdem von Anfang an das Stück überschattet und schneidend deutlich auf dessen tragisches Ende hinweist. Cathy Marston zeigt in ihrer Choreografie zunächst auf, dass das eigentlich nicht so sein müsste. Denn eigentlich ist diese Julia ein vom Glück angelachter Mensch. Ihre Beziehung zu Romeo ist unbeschwert und innig, und in den dunklen Stunden der Angst und des Zweifels steht ihr liebevoll und aufmunternd Bruder Lorenzo zur Seite. Doch das private Glück der Julia hat keine Chance gegen die Mächte des Schicksals. Wie die verfeindeten Familien bedrohlich ihre Fehden austragen und brutal das Leben aller Involvierten in Beschlag nehmen, wie der mögliche Ausweg immer schmaler, immer weniger gangbar wird, wie schliesslich alle Lösungen bis auf eine ausser Betracht fallen – auch das wird deutlich und schonungslos gezeigt. Zuletzt sehen wir die tote Julia in einer Schlussszene von plötzlicher poetischer Schönheit.

Hier werden grosse Gefühle verhandelt; hier verbindet sich die expressionistische Intensität der Musik mit der Körperbeherrschung der Tänzerinnen und Tänzer zu jenem Gesamtkunstwerk, als das ich das Ballett lieben gelernt habe. Das Bühnenbild, eine Stahlgerüstkonstruktion, erinnert (passend für dieses tänzerische Stück) an die Stangen im Tanzsaal, an die Burgen und Paläste, die den Rahmen der Handlung bilden, aber auch an ein Gefängnis, dessen Mauern sich die Protagonisten entlang hangeln, ohne sie bezwingen zu können.


Technisches: Zwischen Zügelstress und Kommunikationspannen kommt dieser Post nur noch der Form halber rechtzeitig vor der Dernière. Aber die Saison geht ja noch vielversprechend weiter…