Montag, 26. September 2011

Was Ikarus sah

Wer der Meinung war, dass die Serie von Georg Gersters Luftbildern archäologischer Stätten Griechenlands im Verlag Philipp von Zabern nach den beiden Bänden über das Festland und die Inselwelt bereits zu Ende sei, hat den besonderen Status Kretas nicht bedacht. Die grösste Insel Griechenlands kann nicht en passant zusammen mit all den kleineren behandelt werden, sondern rechtfertigt wegen ihrer historischen Bedeutung und ihres archäologischen Reichtums einen separaten, dritten Band. Im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern, welche die Fülle ihres Materials zu einer anthologischen, teils relativ kursorischen Betrachtung zwang, kann dieser aus dem Vollen schöpfen. Umfang und Rang vieler archäologischer Stätten rechtfertigen eine ausführliche Besprechung, und die thematische Beschränkung auf einen limitierten, weitgehend sehr einheitlichen kulturellen Raum erlaubt es, ein abgerundetes Gesamtbild zu zeichnen. Da vier Fünftel des Bandes der minoischen Epoche gewidmet sind, ist es vor allem diese Periode, die mit einleuchtender Gliederung, ausführlichen Einleitungen und vielen Querverweisen als Einheit präsentiert wird; der Band ist mithin ein knappes, reich bebildertes Kompendium der Architektur und Geschichte dieser frühen Blütezeit Kretas.

Gersters Luftbilder umfassen weit reichende Überblicke und erstaunlich aufgelöste Details. Insbesondere die Art, wie sie Zusammenhänge zwischen Architektur und Landschaft vermitteln, ist von souveräner didaktischer Qualität. Die Verantwortung für den Text wiederum bleibt in diesem dritten Band in der Familie: Als Autorin zeichnet Margret Karola Nollé. Im Gegensatz zu Johannes Nollé und Hertha Schwarz in den ersten beiden Bänden hatte sie die Gnade, vollständig auf jene bemühten Scherze zu verzichten, die alles, nur nicht witzig sind. Der Text ist flüssig und informativ; der Leser erhält ein weit über die Architektur hinausgehendes, abgerundetes Bild insbesondere des minoischen Kretas. Inwieweit dieses dem aktuellen Forschungsstand entspricht, kann ich wegen reichlich angejahrter Kenntnis desselben leider nicht beurteilen; immerhin ist der Text in sich stimmig, sind die Querverweise konsistent. Meine beiden Hauptkritikpunkte an den Vorgängerbänden muss ich allerdings auch hier anbringen. Zum einen bleibt das Lektorat der Bildlegenden unsorgfältig. In mindestens vier Fällen (pp. 13, 15, 29 und 60) sind die Blickrichtungen der Fotos falsch angegeben. (Schade ist überdies, dass in diesem Band, anders als in den ersten beiden, darauf verzichtet wurde, konsequent bei jedem Bild den Norden zu bezeichnen. Die Orientierung der Bilder erschliesst sich deshalb nur dort, wo sie in der Legende ausdrücklich angegeben ist.) Das andere, gewichtigere Manko, auf das ich hinweisen muss, ist die vergebene Chance, Bild und Text besser miteinander zu verzahnen. Ich will nicht ungerecht sein: In vielen Fällen erläutert der Text die dazugehörigen Fotos relativ präzise. In etlichen anderen Fällen hingegen stehen Text und Bild kaum verbunden nebeneinander, wird keine Hilfe zur Bildlektüre gegeben, werden nach Schema F Abfolgen von Räumen beschrieben, die auf den Bildern nicht zu erkennen sind – als hätte die Autorin einen gewöhnlichen Reiseführer geschrieben, ohne die Fotos überhaupt gesehen zu haben. Wer daneben ein bisschen zusätzliche archäologische Literatur im Regal stehen hat, oder wer in Google Maps zu navigieren weiss, kann sich gewissermassen am eigenen Schopf aus der Orientierungslosigkeit ziehen. Und es ist ja jene Lektüre am anregendsten, die zum regelmässigen Aufspringen vom Pult und zum Griff nach Sekundärliteratur reizt. Trotzdem bleibt der Eindruck zurück, dass der Verlag mit gehobenem Mittelmass zufrieden war, wo Exzellenz möglich gewesen wäre.


Technisches: Margret Karola Nollé, Kreta in Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Mainz am Rhein, Philipp von Zabern 2009. ISBN 978 3 8053 3832 5.

Donnerstag, 22. September 2011

Wiederaufnahmen

Der nahende Herbst bedeutet Saisonstart auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Der Newsletter des Stadttheaters Bern weist mich darauf hin, dass zwei Stücke, die ich letzte Saison gesehen und über die ich geschrieben habe, in den nächsten Wochen nochmals über die Bühne gehen: der tapsig-mysteriöse Parzival von Lukas Bärfuss nach Wolfram von Eschenbach und die witzig-rasante Semele von Georg Friedrich Händel. Wer sich also von meinen immer etwas zu spät publizierten Rezensionen inspiriert fühlt, hat hier die Gelegenheit, etwaige Lücken zu füllen. Und wenn wir schon dabei sind: Im Juni 2012 wird auch das Ballett Momo wieder aufgenommen, und zwar gleich fünf Mal. Grossen und kleinen Märchenfreunden empfehle ich, die Daten jetzt schon zu notieren.

Samstag, 17. September 2011

La solitudine dei numeri primi

Primzahlen (auch Nicht-Mathematiker erinnern sich) sind Zahlen, die nur durch eins und sich selber teilbar sind, also mit keiner anderen Zahl einen gemeinsamen Nenner haben: Einzelgänger im Reich der Zahlen gewissermassen, selbst ihresgleichen nie richtig nah, sondern nur mit Distanz aufeinander folgend. Mit Primzahlen werden Alice und Mattia verglichen, die Hauptfiguren im Film La solitudine dei numeri primi nach dem gleichnamigen Erfolgsroman von Paolo Giordano. Alice und Mattia lernen sich im Gymnasium kennen, und sogleich ist eine merkwürdige, starke gegenseitige Faszination spür- und sichtbar. Da haben zwei einen Draht zueinander gefunden, die ansonsten beide Aussenseiter und Einzelgänger sind, zurückgezogen in ihrer imaginären Kugel, welche von aussen fast nur durch die Gemeinheiten der Kolleginnen durchbrochen wird – und beide leiden an einer tiefen Wunde, die auf ihre Kindheit zurückgeht: Alice wurde von ihrem jovial-ehrgeizigen Vater zum Skitalent herangezüchtet, bis sie übermüdet im Nebel beide Beine brach und seither staksig auf Prothesen geht. Der hochbegabte Mattia musste sich fast Tag und Nacht um seine autistische kleine Schwester kümmern. Aus schierer Verzweiflung deponierte er sie eines Tages, statt sie zum Kindergeburtstag mitzunehmen, kurz auf einer Parkbank; als er nach Stunden endlich zurückkehrte, war sie verschwunden und ist nie mehr aufgetaucht.

Dieser Schrecken enthüllt sich allmählich, als Regisseur Saverio Costanzo behutsam zwischen Kindheit, Pubertät und Erwachsenenalter von Alice und Mattia hin- und herwechselt. Abweisende Architektur, trostloses Mobiliar, Nebel und Regen sind die Kulissen für kurze, beklemmende Szenen in den zwei Leben. Erst nach ihren Uniabschlüssen, als wir die beiden bei einer Hochzeitsfeier wieder sehen, mischt sich eine zärtliche Hoffnung in die omnipräsente Beklemmung. Doch im Ganzen bleibt La solitudine dei numeri primi ein trauriger Film. Für die drei Alice und Mattia hat Costanzo hervorragende Schauspielerinnen und Schauspieler gefunden, allen voran die wunderbare Alba Rohrwacher, die der erwachsenen Alice gleichzeitig Eleganz und tiefe Traurigkeit verleiht.

In einer Art Coda sehen wir die Protagonisten am Schluss wieder – Alice nach gescheiterter Ehe völlig von der Rolle und bis zur Unkenntlichkeit abgemagert; Mattia, wiewohl erfolgreicher Wissenschaftler, mit dem wirren Bart und leeren Blick eines russischen Mönchs. Ist ihre inzwischen ferne Verbundenheit genügend stark, um die beiden noch einmal aus dem Elend ziehen? Mit dieser Frage endet der Film.


Technisches: Die Einsamkeit der Primzahlen läuft nur noch vereinzelt in Schweizer Kinos. Ich verweise deshalb auf die DVD sowie auf die deutsche Übersetzung des Romans.

Sonntag, 4. September 2011

Katzenfüttern am Grab

Ich bin vornehmlich ein Gelegenheitsleser. Das heisst nicht in erster Linie, dass ich dann lese, wenn ich Gelegenheit dazu habe – denn auf Gelegenheiten soll man nicht warten, man schafft sie sich –, sondern vielmehr, dass ich das lese, wozu ich Gelegenheit habe, konkret: irgendein Buch, das halt hier grad so im Regal steht. Viele dieser Bücher sind irgendwann einmal von jemandem aussortiert worden und direkt oder indirekt bei mir gelandet. So ist mein Leseprogramm hauptsächlich vom Zufall zusammengestellt, und nur bei der Priorisierung greife ich selber noch helfend ein.

Eines dieser Bücher, das ich selber vielleicht nie gekauft hätte, aber mit Genuss gelesen habe, ist Thomas Hürlimanns Novelle Das Gartenhaus. Eine Novelle, so erinnert sich der Maturus, ist eine (in der Regel relativ kurze) Geschichte, die um eine unerhörte Begebenheit kreist. Die unerhörte Begebenheit im Gartenhaus klingt, wenn ich sie hier notiere, vielleicht etwas banal: Ein pensionierter Oberst füttert heimlich eine Katze, die um den Grabstein seines vor der Zeit verstorbenen Sohnes kreist, durch den Winter. Wie er sich dabei aber anstellt – das ist freilich unerhört. Militärisches Räsonieren ist in des Obersten Kopf dermassen fest verdrahtet, dass er nahtlos in den Manövermodus schaltet und in militärischen Kategorien zu denken beginnt: Nachschub muss organisiert werden, Lagerung und Versorgung müssen vor den Augen des Feindes verborgen werden, Kreativität und persönliche Opfer sind gefragt; und dabei unterlaufen dem alternden Regimentskommandanten mehrfach peinliche Fehler. Einmal mehr bin ich beeindruckt, welch unerschöpfliche Quelle für ironisches Amusement der schweizerische Militärjargon ist! Aber natürlich erschöpft sich die Novelle nicht in Gefechtsprosa. Vielmehr gibt sie Einblick in eine Fabrikantendynastie, welche zwar wacker die Traditionen und den schönen Schein aufrecht erhält, damit aber nur noch behelfsmässig verdecken kann, dass körperliche und seelische Gebrechlichkeit unerbittlich fortschreiten und ihre Opfer fordern, genauso wie der Zahn der Zeit bedrohlich an der Villa nagt, in der eigentlich nur noch die Leere mächtig ist. Zufluchtsort wird am Schluss das titelgebende Gartenhaus – Zufluchtsort und gleichzeitig Ort eines letzten Wiederfindens zwischen dem Obersten und seiner Frau.

Korpsgeist in Militär und Dynastie kennt der Bundesratssohn Hürlimann natürlich aus eigener Lebenserfahrung. Das Sittengemälde einer gutbürgerlichen Familie, dieses Pfeilers von Staat und Armee, ist ihm jedenfalls lebensecht gelungen. Es ist kein Zufall, dass Thomas Hürlimann in den seltenen Fällen, wenn er sich aus seinem Berliner Exil zu Schweizer Gegenwartsfragen äussert, aktuelle Sachverhalte präziser erfasst und treffender benennt als viele andere. Das Gartenhaus zeigt einmal mehr: Hürlimann hat intimstens verstanden, wie die Schweiz der letzten paar Jahrzehnte funktioniert hat.


Technisches: Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. Novelle. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 1993 (ursprünglich Zürich, Ammann 1989). ISBN 3 596 11878 6 (bzw. neu 978 3 596 14688 8).