Ich muss so elf, zwölf Jahre alt gewesen sein, als ich zum ersten Mal die Geschichte von Parzival las (in der Bearbeitung der grossen, heute etwas vergessenen Jugendbuchautorin Auguste Lechner, deren Bücher ich damals in Serie verschlang), und sie liess mich etwas befremdet zurück – befremdet von ihrer seltsamen Logik und ihrem atypischen Helden, diesem leicht blutleeren, ungelenken jungen Ritter Parzival, den das Schicksal zum Erlöser des Gralskönigs Anfortas bestimmt hatte, der aber diese einmalige Chance glatt versiebte. Und als wäre es nicht schon bei weitem genug der Ehre und der Glückseligkeit, überhaupt einmal der Gralsburg, des Grals ansichtig geworden zu sein, kriegt dieser durch Tollpatschigkeit schuldige Held, der zunächst mal eine Spur der Zerstörung hinterlässt, allen Ernstes zunächst eine ausführliche Belehrung, dann die Möglichkeit zur Bewährung und zuletzt die Gnade einer zweiten Chance. Erst mit fortschreitendem Alter merkte ich, dass ich schon richtig verstanden hatte. Dieser Legende ist mit kartesianischer Logik nicht beizukommen, vielmehr geht es – die Schlüsselbegriffe sind bereits gefallen – um Erlösung, um Schuld und um Gnade. Im Mittelpunkt steht der reine Tor, der mit der erstarrten, höfischen Welt kollidiert, an dem aber auch die Menschlichkeit, das Mitgefühl als höchster Wert aufscheint.
Im Stadttheater Bern war eine Bühnenfassung von Wolfram von Eschenbachs mittelhochdeutschem Versroman angekündigt, besorgt vom dramatischen Shooting Star Lukas Bärfuss – die vielleicht spannendste Ausgangslage dieser Theatersaison und ein Grund, umgehend in den Vidmarhallen einen Platz zu reservieren. Da beherrschte zunächst ein Regieeinfall die Szene: Die ganze Bühne war mit Plastikblachen abgedeckt, auf denen eine schmutzige Brühe schwappte, und die bedauernswerten Schauspielerinnen und Schauspieler mussten sich nach jedem ihrer häufigen Kostümwechsel umgehend in die Pfützen schmeissen und sich im braunen Wasser wälzen. Eine treffliche Metapher für das irdische Jammertal, gewiss, aber eine, die in ihrem offensiven Aufdrängen mehr schadet als nützt. Doch nun zum Stück. Bärfuss legt einen schlanken, stark abstrahierten Parzival vor, der sich trotz zwei Stunden ohne Pause relativ kurz anfühlte. Schuld, Gnade, Erlösung kommen natürlich einem Dramatiker des 21. Jahrhunderts nicht mehr so ring von den Lippen. Der christlich-mythische Überbau fehlt denn auch fast vollkommen, und im Sumpf der Vidmar-Bühne nimmt das grosse Stück häufig fast banale Züge an – am deutlichsten sichtbar bei König Arthus, einem schmächtigen Männlein im durchfallbraunen Strampelanzug und mit lächerlicher Mähne, der sich schier zu entschuldigen scheint, wenn er denn einmal überhaupt das Maul aufmacht. Die Aufmerksamkeit liegt bei dem Menschen Parzival, beim Mysterium seines Wesens (um doch noch einmal die grossen Worte zu gebrauchen). Fröhlich, interessiert, mit grossem Herzen, aber naiv bis zur Einfalt wegen der weltfremden Erziehung durch seine paranoide Mutter bricht er auf in die Welt, wo er unbewusst und unschuldig nicht nur in sämtliche Fettnäpfchen tappt, sondern auch Leid und Unheil über die Menschen bringt, denen er begegnet. Und fasziniert sehen wir ihm zu, wie er langsam, Stück für Stück, so etwas wie eine Weltsicht, ein Konzept entwickelt. Das ist häufig auf den ersten Blick mehr oder weniger komisch, auf den zweiten aber berührend oder nachdenklich machend. Eine Fülle von Themen wird angetippt; zuvorderst natürlich die alte Frage nach Erziehung versus Persönlichkeit, und vieles wird sehr beiläufig in Frage gestellt. Die Schlussszene, das erneute Zusammentreffen mit dem grässlich leidenden Anfortas, wird dann sehr banal: Dass Parzival Gralskönig werden wird, dass er jetzt endlich die entscheidende Frage stellt – all das ist nur en passant ein Thema. So wird abschliessend noch einmal klar: Um Handlung, um Spannung, um Parzivals Rolle geht es hier nicht. Es geht bei dieser Interpretation des Mythos um sein Wesen. Eine überzeugende Milva Stark bringt seine Unschuld, seine Einsamkeit und seine Verzweiflung mit grosser Intensität auf die sumpfige Bühne.
Technisches: Parzival, von Lukas Bärfuss nach dem Versroman von Wolfram von Eschenbach, steht im Stadttheater noch zwei Mal auf dem Programm. Das Stück ist ein Erfolg; mehrere Vorstellungen waren ausverkauft – wer interessiert ist, sollte sich also beeilen.
Beflügelt von der Vorstellung habe ich die nächste Buchhandlung aufgesucht, um im Original zu blättern, aber die 1200 Seiten und die betont sachliche Prosaübersetzung in Reclams zweisprachiger Ausgabe haben mich etwas entmutigt. Vielleicht sollte ich mal mit Reclams Auswahlausgabe beginnen, oder mit der Versübersetzung von Simrock. Die Alternative: mein Mittelhochdeutsch etwas aufpolieren und das Original lesen, zum Beispiel in der Bibliotheca Augustana.
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