Freitag, 12. Oktober 2007

Romic

Wenn man im Musée Romain von Vallon die Treppe hochsteigt, ist man erst mal sprachlos: Dort hängt, drei auf zwei Meter gross, mit feinstem Tuschstrich gezeichnet, der Vogelschau-Plan der Stadt Rom zur Zeit Konstantins von Gilles Chaillet. Eine Wucht. Das opus magnum ist Dreh- und Angelpunkt der neuen Sonderausstellung „La Rome des Césars“ und ihrer Begleitveranstaltungen.

Eigentlich ist es aussichtslos, einem solchen Werk noch mehr Magie hinzufügen zu wollen. Die Teams aus Arles, das die Ausstellung konzipiert, und aus Vallon, das sie für die Schweiz adaptiert hat, explorieren jedoch geschickt die verschiedenen Dimensionen des Plans, die archäologisch-kulturgeschichtliche, zeichnerisch-künstlerische und persönliche.

Das geballte archäologische und historische Wissen, das im Plan steckt, wird auf fünfzehn thematischen Schautafeln vertieft, die einen Aspekt aus der Fülle des Materials herauspicken, beleuchten und in Vergleich bringen mit Arles und der römischen Schweiz. Etwas textlastig, gewiss, etwas vorhersehbar, aber durchaus stringent geschrieben, innert nützlicher Frist gelesen und besonders aufschlussreich, was den Schweizer Teil angeht. (Nur schade, dass es in Vallon etwas eng ist und man sich vor den Tafeln gelegentlich auf die Füsse tritt.)

Der Glanz des zeichnerischen Handwerks strahlt den Betrachter schon aus dem monumentalen Plan an. Eindrücklich ist es, dem Zeichner im Video beim Tuschen zuzuschauen – eine Fleissarbeit sondergleichen. Für Comiclaien aufschlussreich sind die ausgestellten Originalseiten aus Comics von Chaillet: Bleistiftentwürfe, getuschte Reinzeichnungen, kolorierte und teilkolorierte Blätter. Der Arbeitsprozess wird sichtbar. Gleichzeitig vermisst man genauere Informationen über das Vorgehen des Künstlers, die auch sein Vortrag am Tag vor der Eröffnung nur beschränkt liefert: Was ist gesichert, was erfunden? Wo und wie ergänzt der Künstler die Wissenslücken der Archäologen? Und damit verbunden auch: Was sind Sinn und Unsinn, Nutzen und Risiken von Rekonstruktionen? Einige Modelle und Rekonstruktionen von römischen Gebäuden in der Schweiz liefern dazu weiteres Anschauungsmaterial; die Diskussion wird aber leider nicht geführt.

Dafür rückt zu Recht Gilles Chaillet selber in den Fokus, dieser Verrückte („Je ne savais pas que vous étiez fou“, sagte ihm sein Verleger, als er den Plan zum ersten Mal sah), dieser grosse Junge, der sich seinen Kindertraum erfüllt hat: Als er mit acht Jahren beim Warten auf seinen Haarschnitt Le journal de Tintin gelesen hatte, beschloss Klein-Gilles, Comiczeichner zu werden. Darauf entdeckte er die Comic-Serie um den gallorömischen Helden Alix und damit seine Faszination für die Antike. Und bereits im zarten Teenageralter machte er sich an seinen Plan von Rom, Version 1.0. Der Massstab war noch bescheidener, die Perspektive etwas wacklig, die Fantasie noch etwas freier, aber alles war schon da. Eine zweite, bessere Version schuf er zehn Jahre später; die endgültige dann, nachdem er Unmengen archäologischer Literatur gelesen und eine riesige Kartei zu allen bekannten Monumenten des antiken Roms angelegt hatte. Neben seinem Brotberuf als Zeichner für Asterix, Alix und eigene Comics sass er insgesamt viertausend Stunden im Atelier an seinem Plan; weitere zweitausend Stunden wandte Chantal Defachelle, seine Frau, für die Kolorierung auf. Ein Hobby nur, mehr nicht. Es brauchte einen ähnlich verrückten Verleger, der davon so begeistert war, dass er beschloss, diesen Plan herauszugeben. Aber wie? Herausgekommen ist ein dickes, respektheischendes Buch. Angeordnet um die einzelnen (ausklappbaren) Teile des Plans exploriert und erklärt es die Stadtviertel Roms, ihre Architektur und Baugeschichte, das tägliche Leben. Beigelegt ist Chaillets Plan als ganzes (leider, aber einleuchtenderweise nur in halber Originalgrösse). Am Samstag war bei Payot in Freiburg Signierstunde: Ein entspannter, freundlicher Gilles Chaillet nahm sich trotz der respektablen Warteschlange alle Zeit der Welt, um in unser Exemplar das Kapitol zu skizzieren, eine launische Widmung hinzuzufügen und mit uns zu plaudern.


Ein P.S. zum Römermuseum Vallon (das ich deswegen gut kenne, weil ich dort seinerzeit Führungen gemacht habe): Das Haus wurde an der Stelle des in den Achtziger Jahren ausgegrabenen römischen Landhauses gebaut und 2000 eröffnet. Um die beiden superben Mosaiken herum zeigte eine Dauerausstellung ausschliesslich an Hand von Ort gefundenen Objekten das Alltagsleben vor Ort. Als ich das Museum am Sonntag betrat, war ich deshalb zuerst mal sprachlos: Die ganzen Vitrinen waren fort; an ihrer Stelle standen die erwähnten wenigen Modelle römischer Bauten aus der Schweiz. Die Vitrinen, so erfuhr ich, seien beim archäologischen Dienst in Freiburg zwischengelagert. Auf dessen Website werde ich beruhigt: All das gehört zur Ausstellung. Einverstanden, dass man für einen grossen Künstler das Museum freiräumt. Aber man hätte den Platz sinnvoller nutzen können als für ein paar eher zufällig ausgewählte Modelle, währenddem im Obergeschoss Enge herrscht. Und zur Gewohnheit wird das hoffentlich auch nicht werden: Das thematisch kompakte und didaktisch überzeugende Museum ist zur Manövriermasse zu schade.


Technisches: Chaillet, Gilles: Dans la Rome des Césars. Grenoble, Editions Glénat 2004. ISBN 2-7234-4050-8.

Musée Romain de Vallon, Vallon/Carignan. Am Museum fährt zwar alle paar Stunden ein Bus aus Freiburg oder Payerne vorbei, aber mit einem Individualverkehrsmittel ist man deutlich besser bedient – und kann gleichzeitig eine Spazierfahrt durch die Broye anhängen, z.B. zur Abbatiale von Payerne, der vielleicht schönsten romanischen Kirche der Schweiz, oder zu ihren kleinen Schwestern in Donatyre oder Corcelles. Oder natürlich, wenn man von den Römern noch nicht genug hat, nach Aventicum.

Dienstag, 9. Oktober 2007

Hasta siempre

Markus Somm, früher links, heute Weltwoche, ist nostalgisch: Die Linke, schreibt er in der WW 40/07, sei eine Bewegung, "die einst vor begnadeten Polemikern und kampfeslustigen Machos strotzte." Ach, nie kehrst du wieder, goldene Zeit! Inzwischen hat auf der Linken die Erkenntnis an Boden gewonnen, dass der Machismo eher Teil des Problems als Teil der Lösung ist. Ehrensache deshalb, dass der begnadete Polemiker Somm diesem Jammertal den Rücken gekehrt und bei Nachwuchs-Macker Roger "der Feminismus ist die Rache der weniger schönen Frauen an den Männern mit den schönen Frauen" Köppel eine neue Heimat gefunden hat...

Samstag, 6. Oktober 2007

Persien, animiert

Hier in Freiburg leben wir ja, kinematografisch gesehen, in einem anderen Land als der Deutschschweiz: Deutsche Filme (und auch einige amerikanische) sehen wir in der Regel mit etlicher Verspätung, dafür kommen französische Filme bei uns viel früher in die Säle als ennet der Saane (wenn überhaupt). Wenn also für diese und nächste Woche in verschiedenen Deutschschweizer Städten exklusive Vorpremieren von Persepolis angekündigt sind, zucke ich nur müde mit den Achseln. Den autobiografischen Animationsfilm von Marjane Satrapi habe ich bereits vor zwei Wochen gesehen. Leider habe ich diesen Vorsprung wieder verspielt und meinen Blogpost noch nicht geschrieben. Das liegt wohl daran, dass es eine Herausforderung ist, über diesen Film zu schreiben. Man müsste ja dazu eigentlich nicht nur in der neueren (und wenn möglich älteren) iranischen Geschichte einigermassen sattelfest sein, sondern auch in derjenigen des Animationsfilms und der Graphic Novel – und idealerweise hätte man das Buch Persepolis auch bereits gelesen. Da verliert ein armer Dilettant schon mal den Mut. Und das ist schade, denn ich bin mit einem Hochgefühl aus dem Kino gekommen; mit dem Gefühl, einen ganz besonderen Film gesehen zu haben. Wie aber erklären, warum dieser Film so besonders war?

Vielleicht muss ich bei der Form ansetzen. Besonders gefesselt hat mich nämlich, dass Persepolis ein Animationsfilm ist, der sein eigenes Potential ausschöpft. Nicht im Sinn der immer mehr auf die Spitze getriebenen computeranimierten Realistik anderer Filme; nein, dieser hier verleugnet seine Herkunft aus der Zeichnung nicht. Eine einfache, markante Strichführung, schwarz-weiss wie in der Vorlage, lässt Bilder entstehen, zu Mustern gerinnen, ineinander überfliessen. Nicht einfach künstlich generierte Wirklichkeit, sondern eine andere Wirklichkeit breitet sich auf der Leinwand aus. Und in diesem poetischen Zwischenreich zwischen Märchen, Epos und Tragödie wird mit leichter Hand eine traurige Geschichte erzählt.

Ich habe hier kürzlich eine absurde Fussnote der Zeitgeschichte erwähnt, die griechische Militärdiktatur. Es geht offenbar noch absurder – und noch brutaler: Der Iran, ein Land mit unvergleichlicher, uralter Geschichte und Kultur, navigierte im 20. Jahrhundert gleichsam zwischen Scylla und Charybdis, zwischen der westlich orientierten Diktatur des Schahs und dem islamischen Totalitarismus der Mullahs; und anders als Odysseus vermochte er weder dem einen noch dem anderen auszuweichen. Soweit die aus Funk und Fernsehen bekannte Geschichte. Dass dieses Geschehen der rigide Rahmen für das Leben von Millionen von Menschen ist, geht (wie immer in der grossen Politik und Geschichte) gerne vergessen. Marjane Satrapi war zu Zeiten des Schahs und der Revolution ein Kind; und ihre Geschichte ist ihre ganz persönliche Navigation durch diese Unzeiten. Ihre Familie, aus persischem Adel stammend, ist dem Schah-Regime gegenüber kritisch eingestellt und im Widerstand aktiv; Folter, Gefängnis und Tod sind frühe Realitäten im Leben der kleinen Marjane. Die Revolution bringt nicht den ersehnten Wandel zum Besseren, sondern eine Pervertierung. Das Leben wird zum ständigen Lavieren zwischen den eigenen Ansprüchen auf Freiheit, den absurden Vorschriften der neuen Machthaber und dem alltäglichen Schrecken des Krieges. Marjane soll aus dieser ausweglosen Situation gerettet werden, wird ins französische Gymnasium nach Wien geschickt, leidet dort unter der fremden Umwelt und arrangiert sich mit ihr, schafft aber den geistigen Spagat zwischen ihrem sicheren und etwas belanglosen Leben im Exil und der Lebensgefahr ihrer Familie im Teheran des Krieges nicht; sie kehrt zurück, studiert im Iran, heiratet – aber es nützt alles nicht, und der Film endet mit dem zweiten Exil, das bis heute andauert, mit der Ausreise nach Frankreich. Sie hat ihre Eltern seither nicht wieder gesehen.

Das alles ist tieftraurig – und zugleich leichtfüssig erzählt und von schneidender Tragikomik durchsetzt. Als Klein-Marjane, mit Punk-Jacke, Turnschuhen und Schleier, vom Schwarzmarkt zurückkehrt, wo sie eine Kim-Wilde-Kassette gekauft hat, wird sie von zwei Sittenwächterinnen angehalten. Drachengleich winden sich ihre Gestalten ins Bild: Warum sie mit Turnschuhen herumlaufe? Wieso sie einen Michael-Jackson-Button trage? Mitkommen solle sie! Nicht aufs Maul gefallen fabuliert die Kleine zurück: Die Turnschuhe? Aber ich bin in der Basketmannschaft der Schule! Der Button? Nicht Michael Jackson ist das, sondern Malcolm X, der muslimische Widerstandskämpfer! Mitkommen? Bitte nicht, meine böse Stiefmutter bringt mich sonst um! Das Unheil ist abgewendet, das Publikum atmet auf, schmunzelt, aber der Kloss im Rachen bleibt. Und so ist dieser Film ein aufrüttelnder Film. Indem er die Absurdität des Krieges und Totalitarismus mit den Augen eines Kindes betrachtet, entstellt er sie bis zur Kenntlichkeit.


Link: Zur weiteren Lektüre empfohlen wird der Artikel von Daniel Binswanger über Marjane Satrapi im Magazin.