Sonntag, 25. März 2012

A Single Man

George Falconer (Colin Firth) zieht sich langsam an: Er setzt die markante Hornbrille auf, zerreisst das Siegel der Reinigung um das makellos gestärkte, weisse Hemd, bindet die schmale schwarze Krawatte. Der dunkle Anzug ist rasiermesserscharf geschnitten, das blütenreine Einstecktuch steht exakt einen Zentimeter über der Brusttasche. Die ästhetische Perfektion von Modeschöpfer Tom Fords erstem Spielfilm ist atemberaubend. Die flamboyante Julianne Moore als Georges beste Freundin Charley sorgt mit generös toupiertem Haar und wallendem farbigem Kleid für den Wow-Effekt. Georges weisser Mercedes brilliert, seine avantgardistische Villa hoch über Los Angeles ist eine architektonische Wucht.

A Single Man ist ein hundertminütiger Genuss für die Augen – und gleichzeitig ein ungewöhnlich dichtes, intensives Kammerspiel, ein klassisches Drama, in dem sich zwischen drei Hauptpersonen und wenigen Figuranten ein Tag am emotionellen Abgrund entwickelt – unter weitgehender Wahrung der drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung. Es ist der Tag, den der englischstämmige Literaturprofessor George Falconer ausgewählt hat, um aus dem Leben zu scheiden. Die Papiere sind geordnet, ein Wort des Abschieds an die Haushälterin geschrieben, der Revolver steckt in der Aktentasche. Vor acht Monaten ist Georges langjähriger Partner Jim bei einem Autounfall gestorben. Zum unerbittlich nagenden Schmerz kommt die Unmöglichkeit der Trauer (wir schreiben das Jahr 1962): Die Beziehung war nicht öffentlich, Jims Familie ignoriert seinen Freund kategorisch. Jetzt ist das Mass voll, das aufgestaute Leiden nicht länger zu ertragen. Wir begleiten George Falconer durch seinen letzten Tag und erleben die Intensität jedes der nunmehr gezählten Augenblicke, kosten die aufgeladenen Begegnungen mit Schülern, Freunden und Unbekannten aus, werden durch die stetig changierenden Stimmungslagen transportiert, von Hoffnung über Bitternis zur Trostlosigkeit und zurück.

Drei wunderbare Schauspieler tragen den Film ohne Aussetzer durch diese intensive und heikle Thematik hindurch. Colin Firth setzt George Falconer präzis auf den schmalen Grat zwischen Verzweiflung und Selbstbeherrschung. Ich habe keine Ahnung, wie er das macht, aber im einen Moment verströmt er beruhigende Präsenz ­– der Blick klar und bestimmt, der Massanzug wie eine Rüstung –, und alsbald ist er unversehens völlig geknickt, ist das gleiche leicht zerdrückte Gesicht plötzlich ein Mahnmal der Trostlosigkeit, füllt zähflüssige Traurigkeit jeden Winkel des Raumes. Julianne Moores Charley erleben wir zunächst mit brüchiger Stimme, rauchend im zerknüllten Bett, eine scheiternde Existenz auch sie, die aber im Sarkasmus immer noch souverän ihre leichtfüssige Jugend aufleben lassen kann. Mit George verbindet sie eine lange Geschichte, die in einer zentralen Szene des Films gipfelt: einem grossartigen und grossartig inzenierten gemeinsamen Nachtessen, wo die unbeschwerte Vertrautheit plötzlich in Verstörung umschlägt, als klar wird, dass nicht einmal Charley ihren Freund wirklich verstehen und seinen Schmerz begreifen kann. Nicholas Hoult als Falconers glutäugiger Student Kenny schliesslich bringt Offenheit und Zukunft in diese in der Vergangenheit klebende Geschichte. Ihre ausführlich erzählte Begegnung in der Nacht dieses intensiven Tages, fast schwerelos in einem glücklichen Niemandsland zwischen Nostalgie, Verführung und unverhofft aufkeimendem Optimismus birgt den Schlüssel zur Katharsis, zur Auflösung der unüberwindlich geglaubten Verzweiflung.


Technisches: A Single Man ist an den üblichen Orten auf den üblichen Datenträgern erhältlich. Zu erwähnen ist daneben die gleichnamige Romanvorlage von Christopher Isherwood bei University of Minnesota Press, die ich leider noch nicht gelesen habe.

Sonntag, 18. März 2012

Von Laokoon zur Skylla: Archäologische Ermittlungen

Archäologisches habe ich in letzter Zeit regelmässig gelesen und hier auch darüber berichtet. Aber eine Monografie, die mit elegantem, sicherem Strich das Porträt nicht nur einer, sondern gleich mehrerer Epochen entwirft, die aus der Alten und Neuen Geschichte ihre Quellen heranzieht und deutet, die von eigenen, spektakulären Ausgrabungen berichten kann, und die all diese Fäden mit deutscher Gelehrsamkeit zu einem Gesamtbild verwebt, zu einer neuen Interpretation eines bekannten, ja berühmten Bildwerks – ein solches Buch ist kein alltägliches Phänomen. Deshalb ist hier zunächst das Vergnügen zu erwähnen, das mir die Lektüre von Bernhard Andreaes 1988 erschienenem Band über Laokoon und die Gründung Roms bereitet hat. Ansetzend bei der frühen Rezeptionsgeschichte der Laokoon-Gruppe referiert er die verschiedensten archäologischen, historischen und philologischen Themenkomplexe, taucht unvermittelt in detaillierteste Stilkritik ein, streift dabei wie von ungefähr Indizien, die sich viel später als entscheidend herausstellen sollen, um dann nach dieser Ausbreitung seines gesamten argumentativen Materials mit unerbittlicher Stringenz auf seine Schlussfolgerungen hin zu fokussieren. Das ist hochwissenschaftlich und gleichzeitig beste Unterhaltung.

Der vatikanische Laokoon steht also im Zentrum von Andreaes Überlegungen: eine der bedeutendsten antiken Skulpturen, weit über die Spezialistenzirkel hinaus bekannt und berühmt, was sich beispielsweise in einer Fülle von Parodien und künstlerischen Zitaten äussert. In den Jahrhunderten der Forschung und Rezeption haben sich die Widersprüche um die Datierung (und damit um die kunstgeschichtliche Einordnung) dieses Meisterwerks immer stärker akzentuiert und schliesslich in eine vollkommene Aporie gemündet. Eine etruskische Gemme, die gemäss Andreae eindeutig die Laokoon-Gruppe zum Modell hatte, liefert einen terminus ante quem kurz nach der Mitte des 2. Jh. v.Chr., in welches die Gruppe gemeinhin auch aus stilistischen Überlegungen datiert wurde. Der hintere Teil des Altarblockes jedoch ist aus Marmor von Carrara gearbeitet – von einem Steinbruch also, der erst um 50 v.Chr. eröffnet wurde. Diese Aporie aufzulösen, hat sich Andreae zur Aufgabe gemacht.

Im Rückblick erstaunt, dass die eigentlich nächstliegende Lösung nie wirklich in Betracht gezogen wurde: dass nämlich der vatikanische Laokoon eine römische Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals sein könnte. Andreae identifiziert den Grund dafür im schieren Nimbus dieses Kunstwerkes. Es gehört zu den wenigen, die in der uns erhaltenen antiken Literatur erwähnt sind, notabene vom römischen Universalgelehrten Plinius dem Älteren höchstpersönlich, der den Laokoon allen anderen Werken der Malerei und Bildhauerkunst vorziehen wollte (so jedenfalls die herkömmliche Übersetzung der entsprechenden Passage in Naturalis historia 36, 37). Und in seine Auffindung war ein illustres Dreigestirn – Papst Julius II., sein Architekt Giuliano da Sangallo und Michelangelo – unmittelbar verwickelt. Die Begeisterung war grenzenlos, der Link zu Plinius schnell hergestellt und die Interpretation der Laokoon-Gruppe als Illustration der entsprechenden Szene im zweiten Buch von Vergils Aeneis zu verlockend: Schnell etablierte sich die Datierung als ein (freilich etwas isoliertes) römisches Originalwerk in die Jahre um 30 v.Chr.

Ein archäologischer Glücksfall lieferte schliesslich 1957 den fehlenden Kontext, der die Laokoon-Gruppe aus ihrer Isolation herausholte. In der Grotte des Tiberius von Sperlonga wurden Reste von skulpturalen Monumentalensembles mit Szenen der Odyssee gefunden. Von besonderem Interesse ist eine Gruppe mit Skylla und dem Schiff des Odysseus, die von exakt den drei rhodischen Bildhauern signiert ist, welche Plinius als Urheber des Laokoons erwähnt. Andreae diskutiert die Skylla-Gruppe ausführlich. Er führt sie auf ein Bronzeoriginal des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts zurück und hebt die ausserordentliche Qualität der Kopistenarbeit hervor. Das verwundert nicht, da der Auftraggeber ein Kaiser war, legt aber gleichzeitig eine andere, korrektere Übersetzung der erwähnten Pliniusstelle nahe: Er hat die Laokoongruppe wohl „nur“ allen anderen Werken des Bronzegusses vorgezogen, was wenig erstaunt, wenn man die Vorliebe der Römer für Marmorskulpturen kennt. So wurde der Nimbus zerschlagen, der den richtigen Deutungsansatz überstrahlte, und der vatikanische Laokoon zugleich in den Kontext der hellenistischen Monumentalskulpturen gesetzt, die vor allem mit Rhodos verbunden werden.

Solch monumentale Werke wurden selbstredend nicht einfach so geschaffen und aufgestellt, sondern sind unweigerlich mit politischen Absichten und klaren Aussagen verbunden. Andreae skizziert abschliessend einen wahrscheinlichen Aufstellungskontext: Es könnte sich um die Stadt Pergamon im Jahr 139 handeln. König Attalos II. herrschte dort über ein blühendes Reich mit hochstehender Kultur. In Anbetracht der römischen Expansionspolitik könnte die Laokoon-Gruppe als eindringliches Mahnmal gegen die menschliche Hybris und die Schrecken des Krieges gedacht worden sein. Obwohl Bernard Andreae den Indizienprozess mit geballtem Wissen und punktgenauer Analyse führt, muss diese Deutung vorerst hypothetisch bleiben. Nichtsdestoweniger überzeugt sie durch Stringenz und eine zeitlose Botschaft.


Technisches: Bernard Andreae, Laokoon und die Gründung Roms. Kulturgeschichte der antiken Welt, Band 39. Mainz, Philipp von Zabern 1988. ISBN 3 8053 0989 9. Das Buch ist in verschiedenen Aggregatszuständen, aber nur noch antiquarisch erhältlich.

Freitag, 9. März 2012

Banker enthaupten

Gefragt, was ihn dazu bewogen habe, Der Name der Rose zu schreiben, antwortete Umberto Eco seinerzeit, er hätte den Drang gehabt, einen Mönch zu vergiften. Ob es Petros Markaris mit Ληξιπρόθεσμα δάνεια (Fällige Kredite) ähnlich erging? Ob er den Drang verspürte, einen Banker zu enthaupten? Damit hat er freilich seinen Detektiv, Kommissar Charitos, ziemlich in die Bredouille gebracht. Denn solches, nämlich als Selbstjustiz umgesetzte Bankenkritik, kommt international überaus schlecht an, vor allem zu einer Zeit, da ohnehin schon alle gebannt und etwas herablassend auf Griechenland schauen. Entsprechend gross ist die Hektik in Polizei und Politik. Zunächst beherrscht Charitos‘ Intimfeind Stathakos, Chef der Antiterror-Abteilung, die Szene. Dessen wilde Theorie, dass eine Terrororganisation hinter dem Mord stecken müsse, überzeugt unseren Helden nicht im Geringsten, dafür die nationale und internationale Öffentlichkeit – und die zählen offenbar mehr als der gesunde Menschenverstand. Charitos ist gezwungen, mit angezogener Handbremse zu ermitteln, um dem Platzhirsch nicht zu öffentlich in die Parade zu fahren. Entsprechend kommt er trotz schöner punktueller Erfolge kaum voran, währenddem spektakuläre Plakataktionen und weitere Morde die Öffentlichkeit aufrütteln.

So hat Markaris genügend Zeit, in diesem ersten Band seiner Trilogie der Krise über Griechenland im Sommer 2010 nachzudenken. Aus der Sicht eines ausländischen Lesers ist es nicht das geringste Verdienst dieses Krimis, dass er aufzeigt, was die reichlich abstrakten Berichte und Beschlüsse konkret bedeuten, die uns aus Griechenland in betäubender Regelmässigkeit erreichen. Wohlgemerkt: Das Buch spielt lange bevor die Hilfe der europäischen Partner Griechenlands Wirtschaft erwürgt hat. Dennoch spürt jeder in Charitos‘ kleinem Umfeld die Krise: Er selber kann sich immerhin glücklich schätzen, dass er seine Tochter Katerina studieren und dissertieren lassen konnte, bevor die Talfahrt begann, muss aber fürs Erste mit ein paar Jahren Arbeit mehr rechnen bis zur Rente. Seine Kollegen mit kleineren Kindern bezweifeln rundheraus, ob sie sich deren Ausbildung überhaupt noch leisten können. Koula, die Sekretärin seines Chefs, hat ein ganz anderes Problem: Im Namen der Gleichberechtigung muss auch sie nun vierzig volle Jahre gearbeitet haben, bevor sie in Pension gehen kann. Entweder zieht sie ihre Kinder nebenbei gross, oder ihre Rente verspätet sich. Katerina macht ein unbezahltes Praktikum; der zurechtgestutzte Lohn ihres Ehemannes Fanis, Arzt an einer öffentlichen Klinik, ermöglicht dem jungen Paar nur eine spärlich möblierte Wohnung und kaum mehr einen Abend im Restaurant.

In einer Mischung aus Fatalismus und Pflichtgefühl ermittelt Charitos weiter. Sein Instinkt hat ihn natürlich nicht getrogen, und nachdem sich sein Konkurrent öffentlich blamiert hat, hat er selber endlich freie Bahn. Mit zäher Detailarbeit, untrüglichem Bauchgefühl und tatkräftiger Unterstützung von Koula, die sich an die Front versetzt als Naturtalent erweist, gelingt es Charitos endlich, die diversen Fäden, die er erhascht hat, zu jenem Netz zu verknüpfen, das sich lückenlos um den Mörder zusammenzieht. Die Auflösung ist allerdings fast zu perfekt: Die Mordopfer sind allesamt widerliche Gestalten, der Mastermind des Verbrechens dadurch fast schon ein Wohltäter, der zudem seine Komplizen nur soweit nötig und immer abstreitbar mit Schuld belastet hat und einem Winkelried gleich sich selber für seine hehre Sache opfert. Das ist als literarische Konstruktion grossartig, aber als tatsächlicher Verbrechensplot ein kleines Bisschen unrealistisch. Dem Lesevergnügen tut dies freilich keinen Abstrich.


Technisches: Auf Deutsch ist Ληξιπρόθεσμα δάνεια unter dem Titel Faule Kredite 2011 bei Diogenes erschienen, übersetzt wie immer von Michaela Prinzinger (ISBN 978 3 257 06793 4). Das griechische Original ist bei Gavriilidis erhältlich. Teil zwei der Trilogie der Krise liegt bereits vor (Περαίωση, 2011), und Markaris sitzt gegenwärtig am dritten Teil.

Freitag, 2. März 2012

Heilige Strippenzieher

In den letzten Monaten macht der Vatikan seinem zweifelhaften Ruf als Weltzentrum der Intrigen wieder einmal alle Ehre. Da war zunächst der auf Wikileaks aufgetauchte Brief von Erzbischof Carlo Maria Viganò, seinerzeit die Nummer zwei im Governatorato, der Regierung des Vatikanstaates, an Benedikt XVI, in welchem er von seinen Bemühungen berichtet, mit Korruption und Vetternwirtschaft in den heiligen Palästen aufzuräumen, und den Papst bittet, ihn nicht ausgerechnet jetzt wegzubefördern, da er sich kurz vor dem Ziel wähnt. Genau dies ist freilich passiert: Viganò ist nun Apostolischer Nuntius in Washington, ein prestigeträchtiger Top-Job innerhalb der päpstlichen Diplomatie, aber eben weit entfernt vom Machtzentrum. Und vor ein paar Wochen machte ein seltsames angebliches Mordkomplott gegen Papst Benedikt XVI und seine rechte Hand, Tarcisio Kardinal Bertone SDB, die Runde in den Medien. Das las sich zwar so wirr wie Dan Brown mit Alzheimer; die Reaktion der Presse zeigte jedoch deutlich, dass diese den vatikanischen Eminenzen buchstäblich alle Schandtaten zutraut.

Die Gefahr ist freilich, dass solch krude Theorien von den tatsächlichen Strippenziehern in der katholischen Hierarchie ablenken. Denn dass im Vatikan diverse Seilschaften mit unterschiedlichem Erfolg um Einfluss ringen, steht ausser Zweifel. Hilfreicher als aufgeregte Zeitungsartikel ist in dieser Hinsicht das Buch von Hanspeter Oschwald, Im Namen des Heiligen Vaters. Oschwald, ein Vatikankenner mit jahrzehntelanger Erfahrung, verspricht im Untertitel nichts weniger als aufzuzeigen, „wie fundamentalistische Mächte den Vatikan steuern“. Seine zentrale Aussage: Wer verstehen will, was wie läuft im Vatikan unter Benedikt XVI, tut gut daran, die neuen konservativen und charismatischen Bewegungen in den Fokus zu nehmen.

Erstere sind einem breiteren Publikum bekannt, vor allem das berüchtigte Opus Dei, aber auch die militärisch-elitäre Kongregation der Legionäre Christi, die freilich in den letzten Jahren hauptsächlich wegen des skandalösen Doppellebens ihres Gründers Schlagzeilen gemacht hat. Die neuen charismatischen Bewegungen stehen weniger im Rampenlicht: Die Focolarini, Comunione e Liberazione und der Neokatechumenale Weg sind vordergründig von Laien dominierte Erweckungsbewegungen, welche die Offenheit des Zweiten Vatikanischen Konzils mit einer sehr konservativen Spiritualität und teils sektenähnlichen Gehorsamsstrukturen kombinieren. Hinter den Kulissen streben sie jedoch auf nicht immer nur subtile Weise nach handfestem Einfluss in der Hierarchie. Wer innerkirchlich Karriere machen will, tut offensichtlich gut daran, sich mit diesen Bewegungen gut zu stellen. Oschwald zählt darüber hinaus auch die Gemeinschaft von Sant’Egidio zu den heimlichen Strippenziehern. Er hegt zwar sichtlich Sympathien für die linkskatholisch dominierte „UNO von Trastevere“, die durch ökumenische Offenheit und friedensstiftende Diplomatie bekannt geworden ist, kann ihr aber einen ausgeprägten Machtinstinkt dennoch nicht absprechen. (Ihr Gründer Andrea Riccardi ist übrigens inzwischen Minister ohne Portefeuille in der Expertenregierung Monti – soviel zum Thema Machtstreben.)

Hanspeter Oschwald liefert zahllose Indizien für seine These, und Im Namen des Heiligen Vaters liest sich packend wie ein Krimi. Das Buch leidet allerdings unter zwei Mängeln. Der erste ist gewissermassen unvermeidlich: Wie die regelmässigen Enthüllungen zahlreicher bestens informierter Vatikanisten belegen, gibt es zwar innerhalb der römischen Kurie genügend lose Mäuler, die gerne pikante Interna ausplaudern, wenn es ihrer Sache dient. Aber es ist praktisch unmöglich, aus dieser verschwiegenen Welt belastbare Informationen herauszukriegen. So kann auch Oschwald eine Fülle meist beunruhigender Details liefern, muss jedoch über weite Strecken im Ungefähren bleiben und sich auf Andeutungen, Vermutungen und Gerüchte beschränken. Das schränkt den Wert seiner Aussagen natürlich ein – oder anders ausgedrückt: Um zu vermuten, dass das Opus Dei grossen Einfluss im Kardinalskollegium hat, brauche ich nicht extra ein Buch zu lesen.

Der zweite Mangel wiegt umso schwerer, als dass Oschwald ein altgedienter Journalist und langjähriger Leiter der Burda-Journalisten-Schule ist. Seinem Buch mangelt es nämlich empfindlich an Stringenz. Mehrmals steigt er mit einer pikanten Anekdote ins Thema ein, verpasst es dann aber, präzise den Bogen zum Kern hin zu schlagen. Viele Kapitel stehen reichlich unverbunden nebeneinander, Querbezüge fehlen häufig, einzelne Themen werden mehrfach von neuem behandelt. Vor allem vermisste ich die inhaltliche Geschlossenheit. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, als hätte Oschwald nichts weniger als eine Fundamentalkritik von Benedikts Pontifikat angestrebt. So berechtigt eine solche ist: Ein Buch, das die heimlichen Strippenzieher entlarven will, hätte gut daran getan, nicht auch noch die Umstände von Ratzingers Wahl, den päpstlichen Geheimdienst und die Situation der Frauen in der Kirche ausführlich durchzunehmen. So aber sitzt man nach der Lektüre ein bisschen wie betäubt da; als hätte man einen Haufen bunter Steinchen betrachtet, aber kein fertiges Mosaik. Ich tröste mich mit dem Wissen, dass dies das Schicksal jeder zeitgeschichtlichen Darstellung ist, und dass allenfalls aus historischer Distanz ein schlüssiges Bild entstehen kann.


Technisches: Hanspeter Oschwald, Im Namen des Heiligen Vaters. Wie fundamentalistische Mächte den Vatikan steuern. München, Heyne 2010. ISBN 978 3 453 16724 7. Das Buch ist, wenn ich richtig sehe, nurmehr als E-Book erhältlich.