Freitag, 11. November 2011

Stadtbild und Wohngeschmack: Annäherungen an Pompeji

Was macht der Klassische Archäologe, wenn er nach zehn Jahren wieder nach Pompeji fährt? Ein paar Eckpunkte des Stadtplans sind noch präsent, die vier Stile der pompejanischen Malerei kann ich noch ähnlich gut (oder schlecht) auseinander halten wie damals, aber sonst riskierte ich, ziemlich wie ein Tourist auszusehen. Glücklicherweise birgt die gutsortierte Handbibliothek Abhilfe. Der Griff geht freilich nicht zum grossformatigen Bildband, auch nicht zu einem der einschlägigen Ausstellungskataloge, sondern zu einem vergleichbar kompakten Werk: Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack, von Paul Zanker. Das Buch, unlängst als Geschenk bei mir gelandet, ist eine neu bevorwortete und reich bebilderte Neupublikation zweier ausführlicher Artikel – einer zum Stadtbild im Lauf der Zeit, der andere zum Wohngeschmack in den letzten beiden Dekaden Pompejis. Und die etwas zufällige Lektüreauswahl erweist sich aus zwei Gründen als ideale Vorbereitung auf den Besuch: Obwohl Zanker keine allgemeine Einführung in diese berühmteste aller Ruinenstätten vorlegt, erwähnt er implizit und explizit eine Fülle von Basics, die sich mit meinen fragmentarischen Erinnerungen zu einem brauchbaren Gesamtbild zusammenfügen. Und weil die Argumentation immer sehr nahe an den Befunden bleibt, steckt er dem Reisenden eine Vielzahl von interessanten Details ins Handgepäck, die es vor Ort zu überprüfen gilt.

Zwei Erkenntnisse nehme ich mit aus der Lektüre. Zum einen ist da die zentrale Aussage, dass den aufstrebenden, in einer gewissen Austerität befangenen Römern die hellenistische Wohnkultur als Idealbild vor Augen stand, genauer: der Luxus an den Fürstenhöfen der Diadochenreiche. Da in den Städten, und ganz besonders in Rom selber, eine ziemlich rigide öffentliche Moral jegliche Zurschaustellung von Reichtum als unrömisch ächtete, konnten die ersten Experimente mit diesem Idealbild nicht dort stattfinden. Zum Ort der frühesten Adaptationen dieser hellenistischen Einflüsse wurden daher die villae, die Landsitze der vornehmen Römer, wie sie gerade in der Bucht von Neapel sehr häufig waren. Von dort wurden dann diese neuen Formen allmählich hinter die Mauern der Stadthäuser übernommen, zuerst wiederum in der Provinz, wie eben paradigmatisch in Pompeji. Von besonderer Bedeutung war dabei offensichtlich die Verbindung von Architektur und Natur. Was in den Villen eine Selbstverständlichkeit war, bedurfte in den Städten eines gewissen Talents zur Anpassung. Für die reichen Familien war es freilich ein Leichtes, in ihren riesigen Stadthäusern ausgedehnte, elegante Gärten einzurichten, die oft mit Brunnen und Kanälen durchsetzt waren und nicht selten die Wohnfläche an Grösse übertrafen. Besonders eindrücklich (und in Pompeji auf Schritt und Tritt überprüfbar) ist jedoch, wie selbst in mittleren und kleinen Häusern mit allen Mitteln versucht wurde, die Illusion vom Wohnen im Grünen zu inszenieren. Auch wer auf seiner Parzelle kaum Platz fand für die nötigsten Räume, vermochte in der Regel doch noch eine Ecke freizuhalten, in der hinter ein paar Säulen etwas Grün wachsen konnte. Brunnen und weitere Vegetation wurden dabei auch gerne mittels Wandmalereien angedeutet. Weil die Wohnhäuser nicht wie bei uns exklusiv privat waren, sondern eine halböffentliche Funktion als Ort für Klientenempfang und Geschäfte hatten, muss man sich die Eingangstüren tagsüber geöffnet vorstellen, womit diese Gärten durch raffiniert inszenierte Blickachsen für alle Passanten sichtbar waren. (Dies kommt, nebenbei bemerkt, auch dem heutigen Besucher zugute, der so durch die vergitterten Eingänge vieler geschlossener Häuser das für den damaligen Bewohner Wesentliche in gleicher Weise erblicken kann.)

Meine andere Erkenntnis ist methodischer Art; dass es nämlich wichtig und bereichernd ist, abstrakte historische Fakten darauf hin zu befragen, welche konkreten Auswirkungen sie auf das Leben der Menschen hatten. Ein grossartiges Beispiel ist dies: Nach dem Bundesgenossenkrieg und der Eroberung durch Sulla 89 v. Chr. wurde Pompeji zur römischen Kolonie. So weit, so gut. Dies bedeutet freilich, dass in der Stadt eine beachtliche Anzahl Veteranen angesiedelt wurden; Zanker geht von mindestens 2000 Mann (mit Anhang) aus. Allein die Zahl ist schwindelerregend für eine Stadt, die zu ihrer späteren Blütezeit gerade mal 15‘000 Einwohner gezählt haben muss. Noch spektakulärer muss man sich den Kontrast vorstellen zwischen der von Raffinement und griechischer Kultur geprägten, blühenden Provinzstadt und den Neuankömmlingen, denen man nach Jahren im Feldlager eine gewisse Rauheit nicht absprechen kann, und die zudem nicht etwa als Bittsteller, sondern als die neuen Herren aufgetreten sein werden. Die Umwälzungen im Stadtleben müssen sehr tief gereicht haben; und wenn man dann liest, dass dieses Gebäude aus einer bestimmten Epoche stammt, jenes aus einer anderen, so muss man sich dauernd bewusst sein, dass wir hier eigentlich von zwei völlig verschiedenen Städten sprechen, die sich im katastrophenbedingt relativ uniform anmutenden Stadtgebiet durchdringen und überlagern.

Der Bookshop in Pompeji hat mich enttäuscht: Der Raum ist klein und beengend, die Auswahl ordentlich, aber der Bedeutung des Ortes nicht angemessen, und es gab keinen Führer und keine andere Publikation zu Pompeji, die sich aufgedrängt hätte. So sah ich mich in meiner Herangehensweise unerwartet bestätigt, mich vor dem Besuch mit der wissenschaftlichen Literatur zu informieren, um mich dann vor Ort ohne Führer, aber mit durch die Lektüre geschärftem Blick durch die Gassen und Häuser treiben zu lassen.


Technisches: Paul Zanker, Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack. Kulturgeschichte der antiken Welt, Band 61. Mainz, Philipp von Zabern 1995. ISBN 3 8053 1685 2. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen