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Freitag, 27. September 2013

Ara Pacis (Katalogreisen, Nr. 4)

Es gibt Museumskataloge, zu deren Lektüre nicht einmal eine Katalogreise motivieren kann. Auf dem römischen Regal bleiben vorläufig ungelesen: die beiden schmalen Bändchen zum Forum Romanum und zum Kolosseum, die eigentlich in die Kategorie Reiseführer gehören; der Führer durch die Domus Aurea, weil ich diese zunächst überhaupt mal besichtigen möchte; und der Katalog des grossartigen Palazzo Massimo alle Terme, der mir jetzt einfach zu gewichtig, zu katalogig ist (und den ich seinerzeit, meinem Italienischen zu wenig vertrauend, auf Englisch gekauft hatte).

Eine Station müssen wir aber unbedingt noch machen in Rom, bevor wir nordwärts weiterreisen, einen Katalog lesen, ein Monument besichtigen: die Ara Pacis Augustae. Jeder Studierende der Klassischen Archäologie hat dieses Denkmal und seine Reliefs vorwärts und rückwärts durchgearbeitet. Allen anderen sei einleitend erklärt, dass es sich um einen Altar handelt, den der Senat 13 v.Chr. zu Ehren des Augustus errichten liess; und weil „Altar“ jetzt nicht gerade umwerfend tönt, sei sogleich präzisiert, dass das Wesentliche an der Ara Pacis ihre Umfriedung ist, eine Art monumentaler rechteckiger Paravent aus Marmor mit reicher Reliefdekoration. Es gibt wenige antike Monumente, die ideologisch, historisch und künstlerisch derart aufgeladen sind wie die Ara Pacis. Anlass für ihre Weihung war Augustus‘ Rückkehr von einer dreijährigen Kampagne nördlich der Alpen, wo er in Iberien, Gallien, der heutigen Schweiz und an der Donau zum Rechten sah und aus Sicht Roms die Periode des augusteischen Friedens einleitete. Die imperiale Propaganda verbreitete das Bild von Augustus als Befrieder des Reiches mittels offizieller Kunstwerke bis in dessen entfernteste Winkel, und Initialzündung und Ausgangspunkt dieser Propaganda war eben der Altar, der dieser Pax Augusta geweiht wurde. Der Botschaft und dem Geehrten angemessen gehören die Reliefs der Umfriedung zu den besten Stücken der römischen Kunst: Im unteren Register ranken sich Akanthus, Palmetten und Blüten; Eidechsen und Skorpione huschen durch das lebendige Grün. Darüber stehen römische Gründungsmythologie und göttliche Symbolik, und über die beiden Schmalseiten schreitet gewichtig eine Prozession (zum Altar hin, mag man sich denken), in der die höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger Roms erkennbar sind (und unter denen die erwähnten Studierenden jeweils auch noch die Grossneffen dritten Grades von Augustus zu identifizieren haben).

Zur künstlerischen Qualität und zum ideologischen Gewicht kommt die bewegte Fundgeschichte der Ara Pacis. Im sechzehnten Jahrhundert tauchten erste Fragmente auf dem Kunstmarkt auf, gelangten in bedeutende Sammlungen. Da der Altar jedoch unter den Fundamenten eines Palazzo lag, waren systematische Ausgrabungen schwierig, bis es einigen Haudegen der 1930er Jahre gelang, 600 Kubikmeter Untergrund einzufrieren, um die Reste der Ara Pacis gefahrlos unter dem Palast herauszuholen. Auftraggeber der archäologischen Kommandoaktion war ein alter Bekannter, Benito Mussolini, der seine eigenen imperialen Ansprüche regelmässig durch ausführliche Rückgriffe auf die Antike ideologisch untermauerte. Zur Zweitausendjahrfeier von Augustus‘ Geburt 1937 wollte der Duce die Ara Pacis rekonstruiert haben, was in einem in aller Eile errichteten Pavillon am Tiberufer auch tatsächlich gelang. Das Providurium musste erst vor wenigen Jahren einem Neubau weichen, einem beeindruckenden Monument von Richard Meier (darunter macht mans nicht), das jetzt den Altar und seinen Kontext mustergültig präsentiert.

Glücklich der Archäologe, der zu einem solchen Denkmal den Katalog schreiben darf! Das Material ist überschaubar genug, dass man bei der Beschreibung ins Detail und daneben in die Breite und Tiefe gehen, Bau- und Grabungsgeschichte rekonstruieren, Verwandtes und Ergänzendes referieren kann. Orietta Rossini hat sich für den offiziellen Führer der Aufgabe gewachsen gezeigt. Ihr Buch, eher eine Monografie denn ein Katalog zu nennen, überzeugt durch seine Systematik, den gelehrten, verständlichen Text, die Auswahl verwandter Themen, zu denen ein Kurzabriss von Augustus‘ Rechenschaftsbericht Res Gestae gehört, und durch die opulente, präzise und detailgetreue Bebilderung. Die endlosen Hypothesen darüber, welche Verwandten von Augustus wo genau in der Prozession dargestellt sind, kann der Nicht-Archäologe ja grosszügig überfliegen. So liest sich das gewichtige, fast furchteinflössende Werk erstaunlich leicht und vergnüglich, und beschwingt verabschieden wir uns vom imperialen Rom heimwärts.

Technisches: Orietta Rossini, Ara Pacis. Milano, Einaudi 22007. ISBN 978 88 370 5367 3. Beim Stöbern in meiner Bibliothek fiel mir ein Vorvorgänger dieses neuen Katalogs in die Hände, Die Ara Pacis Augustae von Giuseppe Moretti (Deutsch von Ernst Hohenemser) von 1938 aus der Reihe der Führer durch die Museen und Kunstdenkmäler Italiens. Das kleine Heftchen bot eine angenehme Zusammenfassung zum Abrunden, ist jedoch vor allem wegen zweier Kuriositäten erwähnenswert: wegen der Preisetikette von 250 Lire und wegen des Datums auf dem Titelblatt: A. XVII E.F. – ja genau, im Jahre 17 der faschistischen Ära. Die anderen erwähnten Führer: Paola Guidobaldi, Il Foro Romano. Milano, Electa 22004. ISBN 88 435 6333 5. Letizia Abbondanza, Le Colisé. Traduction de Jérôme Nicolas. Milano, Electa 22005. ISBN 88 435 8226 7. Elisabetta Segala, Ida Sciortino, Domus Aurea. Traduction de Jérôme Nicolas. Milano, Electa 22005. ISBN 88 370 4107 1. Adriano La Regina (ed.), Museo Nazional Romano, Palazzo Massimo alle Terme. English Edition. Milano, Electa 1998. ISBN 88 435 6584 2.

Sonntag, 4. August 2013

Villa Adriana (Katalogreisen, Nr. 3)

Die Katalogreisegruppe verlässt Rom mit der Metrolinie B, wechselt in Ponte Mammolo in den Bus Richtung Tivoli, fährt durch ärmliche Banlieue ostwärts, steigt rechtzeitig vor dem Anstieg nach Tivoli aus, irrt ein wenig durch ein Mittelklass-Wohnviertel und langt endlich glücklich bei der Villa Adriana an. Während der langen, intensiven Besichtigung kommt ein Diktum von Moses I. Finley (Die antike Wirtschaft, p. 118) in den Sinn: Auch sehr reiche Römer konnten „keinem Vergleich mit den Kaisern selbst standhalten, deren Ansammlung von Grundeigentum … insgesamt eine Grösse erreichte, die unsere Vorstellungskraft, wären uns die Zahlen bekannt, übersteigen würde.“ Die Villa Adriana, Herrschaftssitz des Kaisers Hadrian, auf dem Land gegen die Albaner Berge angelegt, sprengt alle Dimensionen und entzieht sich allen Vergleichen: imperiale Residenz und World Miniature gleichermassen, in freier, fast chaotischer Anordnung in die natürlichen Hügel und Senkungen eingepasst, die gesamte römische Architektur zitierend und gleichzeitig nach Belieben innovativ, Arbeits- und Wohnort Hunderter von Menschen.

Wer an einem heissen Herbsttag stundenlang durch die hektarweise sich ausdehnenden Ruinen wandert, mit Hilfe des abgegebenen Plans sich einen Reim auf die Architektur zu machen sucht, vor der Fülle von Material, Details und Information jedoch zwangsläufig kapitulieren muss, besucht beim Ausgang gerne den Shop: Das Gefühl, der grossartigen Stätte nicht gerecht geworden zu sein, verleitet wie von selbst zum Kauf des Ablasses, sprich des Katalogs, mit dem Ziel, die detaillierte Beschreibung der Villa mindestens durch Besitz sich zu eigen zu machen. Eher unwahrscheinlich ist der Idealfall, dieselbe sogar nachzulesen, und ohne meinen Katalogreisenvorsatz hätte auch ich es wohl bleiben lassen. Das wäre schade gewesen: Das schmale, handliche Buch vermittelt effizient ein gutes Verständnis der antiken Stätte. Es liefert die notwendigen biografischen Hintergründe zum Bau- und Hausherrn, skizziert die grossen Linien des architektonischen Projekts, seine Geschichte und Umsetzung, und beschreibt dann knapp, aber mit dem gebotenen Detail alle Gebäude, Höfe und Plätze und versucht eine Interpretation ihrer Funktion. Die Lektüre dauert wenig länger als eine ausführliche Besichtigung der Villa Adriana und ruft dem Katalogreisenden die schon verblassten Eindrücke seines Besuches wieder schlüssig ins Gedächtnis. Kritisch zu bewerten ist einzig (gerade im Vergleich mit den grossartigen Katalogen der Centrale Montemartini und der Kapitolinischen Museen) das Bildmaterial. Gewisse Illustrationen sind von mittelmässiger Qualität, gewisse Gebäude sind gar nicht oder nur mit wenig repräsentativen Aufnahmen bebildert. Am schwersten ins Gewicht fallen die unzulänglichen Pläne: Der Katalog enthält mehrere Karten, Gesamtansichten und Rekonstruktionen, aber wirklich hilfreich ist nichts von alledem – ganz besonders nicht das Foto des Modells auf Seite 26, das seitenverkehrt abgedruckt wurde... Der an sich gute Gesamtplan hätte unbedingt mit vergrösserten Details ergänzt werden sollen, um eine komfortable Periegese zu ermöglichen. So wird die Orientierung etwas zum Sport. Wer kombinieren und Karten lesen kann, erfährt dafür die Befriedigung, sich sein Gesamtbild aus den bescheidenen Grundlagen selber erarbeiten zu können.

Technisches: Benedetta Adembri, Villa Adriana. Milano, Mondadori 22008. ISBN 978 88 435 7718 7. Der Katalog ist ausser in Italienisch auch in Deutsch, Französisch, Englisch und Spanisch erhältlich.

Sonntag, 21. Juli 2013

Kapitolinische Museen (Katalogreisen, Nr. 2)

Unerwähnt und ungeklärt geblieben ist auf der ersten Etappe der Katalogreisen, weshalb sich bei mir die Kataloge und Führer dermassen stapeln. Auf die Frage werden wir im Reiseverlauf noch das eine oder andere Mal im Detail zurückkommen, aber ursprünglichster und edelster Grund ist zweifellos, dass ich mir als Archäologie-Student eine anständige Handbibliothek anlegen wollte. Wenn immer ich also das Glück hatte, eines der grossen Häuser dieser Welt zu besichtigen, war der Besuch im Shop obligatorisch und diente der Dokumentation des eben Gesehenen. Überdies waren mit den Kameras, die wir damals hatten, ohne Blitz und Stativ kaum passable Bilder zu erreichen. So liess ich das Fotografieren bald bleiben, konzentrierte mich aufs Sehen und nahm das Bildmaterial in gedruckter Form nach Hause.

Case in point: die kapitolinischen Museen in Rom, eine der Referenzsammlungen für den Studenten der Klassischen Archäologie (und nach dem Filialmuseum Centrale Montemartini hier die logische nächste Reiseetappe). Ich gestehe freilich, dass ich das Haus erst gesehen habe, als ich schon gar nicht mehr Student war, aber der Reflex blieb (und bleibt) der gleiche. Der erneute Griff zum Katalog zehn Jahre später macht allerdings auch gleich zwei Nachteile des Unterfangens Katalogreisen deutlich. Der erste ist die Übersetzung. Wenn auch der Katalog des Kapitols nicht mit jenen traurig bekannten, stilblütenreichen deutschen Versionen italienischer Touristenführer zu vergleichen ist, hätte man sich doch häufig gewünscht, die Übersetzerin würde vom komplexen, verschnörkelten Stil des Originals ein paar Ecken abschneiden. Es ist alles richtig, aber vieles etwas schwerfällig. (Und im Nachhinein erscheint es mir als glückliche Fügung, dass ich in der Centrale Montemartini direkt die italienische Version gekauft hatte.)

Gewichtiger, aber zugleich fast unvermeidlich, ist der zweite Nachteil: Ein Museumskatalog, der seinem Namen Ehre macht, kann keine besonders spannende Lektüre sein. Die detaillierte, fachlich korrekte und deshalb notwendigerweise trockene Beschreibung aller (oder doch der wesentlichsten) Stücke des Hauses mit all ihren technischen Details reisst niemanden wirklich vom Hocker. Ein solcher Katalog hat seinen eigentlichen Platz folgerichtig nicht auf dem Tischchen neben dem Lesesessel, sondern eben in der erwähnten Referenzbibliothek, wo er bei konkreten Fragen konsultiert wird. Entsprechend habe ich im Katalog der kapitolinischen Museen die Objektbeschreibungen nur kursiv gelesen, die Abfolge der unzähligen Umbauten und Neueinrichtungen zügig überflogen. Ungemein lehrreich war es jedoch, die Rolle des Kapitols in der Geschichte der Stadt Rom dargelegt zu bekommen. Auf die zentrale Funktion des Hügels als heilige Akropolis der Urbs und des gesamten Römischen Reichs griffen im Mittelalter die Römer gezielt zurück, als sie die politischen Einrichtungen ihrer entstehenden Stadtgemeinde ebendort ansiedelten; und so wurde das Kapitol zum symbolischen Austragungsort der Konflikte zwischen Stadt und Papst. In diesem Kontext entstand das Kapitolinische als ältestes öffentliches Museum der Welt, begründet durch die Schenkung der Bronzestatuen aus dem Lateran durch Sixtus IV. im Jahr 1471 – subtile Demonstration des Anspruchs auf Kontinuität zwischen Römerreich und Papsttum im Gewand eines grosszügigen Geschenks.

Technisches: Margherita Albertoni et al., Kapitolinische Museen. Übersetzung Maria Böhmer. Milano, Electa 2005. ISBN 88 435 7514 7. Leider ist mein Bericht veraltet: Kurz nach meinem Besuch wurde dieser Führer durch eine Neuauflage ersetzt und ist deshalb nicht mehr erhältlich.

Sonntag, 16. Juni 2013

Centrale Montemartini (Katalogreisen, Nr. 1)

Zum Glück dauert der Vaterschaftsurlaub auf diesem Blog ein paar Monate und nicht nur eine Woche wie im richtigen Leben: Zeit für Unmittelbareres als Theater, Packenderes als Bücher, Lehrreicheres als Museen. Allmählich schaufle ich mir in einem intensiven Stundenplan wieder gelegentlich einen Moment für mich selber frei. Und habe so Zeit gefunden für eine neue Idee, die aus der Not eine Tugend macht: Da ich in den nächsten Jahren nicht mehr so viel und auch nicht mehr gleich in Europa herumkommen werde wie bis anhin, reise ich stattdessen virtuell. Das Material dafür steht laufmeterweise in den Regalen hinter mir – all die Führer und Kataloge, denen ich in den Museumsshops dieser Welt selten widerstehen kann. Wann, wenn nicht jetzt, ist der Zeitpunkt, in ihren Seiten alte Erinnerungen aufzufrischen und all das zu lernen, das in der (oftmals leider) Eile des Besuchs übersehen und überlesen wurde?

Eine eher wenig bébétaugliche Destination macht den Anfang meiner Katalogreisen: Rom. Veteranen des Blogs erinnern sich an meinen hymnischen Bericht aus der Centrale Montemartini, dem zum archäologischen Museum gewordenen Elektrizitätswerk im Industriegebiet der Via Ostiense. Allein die Erinnerung macht gute Laune und motiviert, den stattlichen Katalog zur Hand zu nehmen – der sich als Glückstreffer erweist: Viel eher als ein Museumskatalog ist das nämlich ein Buch über die grossen römischen Ausgrabungen vom Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts und ihren museologischen Niederschlag. In die Centrale Montemartini, erfahre ich, sind nicht einfach querbeet ein paar Statuen aus den Kapitolinischen Museen ausgelagert worden, sondern in erster Linie die Früchte jener umfangreichen Ausgrabungen, welche die urbanistischen Umwälzungen des zur Hauptstadt Italiens gewordenen Roms so gut wie möglich begleiteten. So viel bedeutender Boden wie weltweit niemals sonst wurde da in kurzer Zeit umgegraben, weite Teile der Stadt innerhalb der Mauern; darunter insbesondere am Pincio und auf dem Esquilin Gegenden, in denen die Villen der Reichsten mit ihren weitläufigen Gartenanlagen protzten. Den künstlerischen Reichtum, der da ans Licht kam, kann man sich ansatzweise vorstellen; und man muss den Archäologen jener Zeit einen dicken Kranz winden, dass sie in aller Eile mit unermüdlichem Einsatz wenigstens so viel gerettet haben, wie möglich war. Auf dem Kapitol waren die schönsten Stücke seinerzeit nach Gattungen geordnet präsentiert worden. Erst die Neuaufstellung rund um die Maschinen der Centrale Montemartini hat die für das Verständnis so eminent wichtigen Fundkomplexe wieder zusammengefügt – die republikanischen Grabkomplexe im Untergeschoss, das monumentale Zentrum im Maschinensaal, die horti der prächtigen Villen im Kesselraum.

Das alles erläutert gelehrt und verständlich der vorbildliche Führer und präsentiert dazu fast beiläufig die wichtigsten Werke in Text und schönem Bild. Das Ziel war eindeutig nicht die vollständige Dokumentation der im Museum versammelten Kunstwerke, sondern waren die grossen Linien; und mithin ist das Buch für den Katalogreisenden eine ideale, weiterbildende Lektüre. Ich gestehe verschämt: Diese grossen Linien hatte ich bei meinem Besuch schlicht übersehen; meine fehlenden Grundlagen in stadtrömischer Urbanistik taten das Ihrige. Die Versäumnisse sind nachgeholt, die Lücken gestopft; Gott sei Dank gibt es Museumskataloge…

Technisches: Marina Bertoletti, Maddalena Cima, Emilia Talamo: Centrale Montemartini. Milano, Electa 2007. ISBN 978 88 370 4622 4. Der Katalog ist auf Italienisch und Englisch erhältlich, wir hatten uns standesgemäss für ersteres entschieden.

Sonntag, 18. März 2012

Von Laokoon zur Skylla: Archäologische Ermittlungen

Archäologisches habe ich in letzter Zeit regelmässig gelesen und hier auch darüber berichtet. Aber eine Monografie, die mit elegantem, sicherem Strich das Porträt nicht nur einer, sondern gleich mehrerer Epochen entwirft, die aus der Alten und Neuen Geschichte ihre Quellen heranzieht und deutet, die von eigenen, spektakulären Ausgrabungen berichten kann, und die all diese Fäden mit deutscher Gelehrsamkeit zu einem Gesamtbild verwebt, zu einer neuen Interpretation eines bekannten, ja berühmten Bildwerks – ein solches Buch ist kein alltägliches Phänomen. Deshalb ist hier zunächst das Vergnügen zu erwähnen, das mir die Lektüre von Bernhard Andreaes 1988 erschienenem Band über Laokoon und die Gründung Roms bereitet hat. Ansetzend bei der frühen Rezeptionsgeschichte der Laokoon-Gruppe referiert er die verschiedensten archäologischen, historischen und philologischen Themenkomplexe, taucht unvermittelt in detaillierteste Stilkritik ein, streift dabei wie von ungefähr Indizien, die sich viel später als entscheidend herausstellen sollen, um dann nach dieser Ausbreitung seines gesamten argumentativen Materials mit unerbittlicher Stringenz auf seine Schlussfolgerungen hin zu fokussieren. Das ist hochwissenschaftlich und gleichzeitig beste Unterhaltung.

Der vatikanische Laokoon steht also im Zentrum von Andreaes Überlegungen: eine der bedeutendsten antiken Skulpturen, weit über die Spezialistenzirkel hinaus bekannt und berühmt, was sich beispielsweise in einer Fülle von Parodien und künstlerischen Zitaten äussert. In den Jahrhunderten der Forschung und Rezeption haben sich die Widersprüche um die Datierung (und damit um die kunstgeschichtliche Einordnung) dieses Meisterwerks immer stärker akzentuiert und schliesslich in eine vollkommene Aporie gemündet. Eine etruskische Gemme, die gemäss Andreae eindeutig die Laokoon-Gruppe zum Modell hatte, liefert einen terminus ante quem kurz nach der Mitte des 2. Jh. v.Chr., in welches die Gruppe gemeinhin auch aus stilistischen Überlegungen datiert wurde. Der hintere Teil des Altarblockes jedoch ist aus Marmor von Carrara gearbeitet – von einem Steinbruch also, der erst um 50 v.Chr. eröffnet wurde. Diese Aporie aufzulösen, hat sich Andreae zur Aufgabe gemacht.

Im Rückblick erstaunt, dass die eigentlich nächstliegende Lösung nie wirklich in Betracht gezogen wurde: dass nämlich der vatikanische Laokoon eine römische Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals sein könnte. Andreae identifiziert den Grund dafür im schieren Nimbus dieses Kunstwerkes. Es gehört zu den wenigen, die in der uns erhaltenen antiken Literatur erwähnt sind, notabene vom römischen Universalgelehrten Plinius dem Älteren höchstpersönlich, der den Laokoon allen anderen Werken der Malerei und Bildhauerkunst vorziehen wollte (so jedenfalls die herkömmliche Übersetzung der entsprechenden Passage in Naturalis historia 36, 37). Und in seine Auffindung war ein illustres Dreigestirn – Papst Julius II., sein Architekt Giuliano da Sangallo und Michelangelo – unmittelbar verwickelt. Die Begeisterung war grenzenlos, der Link zu Plinius schnell hergestellt und die Interpretation der Laokoon-Gruppe als Illustration der entsprechenden Szene im zweiten Buch von Vergils Aeneis zu verlockend: Schnell etablierte sich die Datierung als ein (freilich etwas isoliertes) römisches Originalwerk in die Jahre um 30 v.Chr.

Ein archäologischer Glücksfall lieferte schliesslich 1957 den fehlenden Kontext, der die Laokoon-Gruppe aus ihrer Isolation herausholte. In der Grotte des Tiberius von Sperlonga wurden Reste von skulpturalen Monumentalensembles mit Szenen der Odyssee gefunden. Von besonderem Interesse ist eine Gruppe mit Skylla und dem Schiff des Odysseus, die von exakt den drei rhodischen Bildhauern signiert ist, welche Plinius als Urheber des Laokoons erwähnt. Andreae diskutiert die Skylla-Gruppe ausführlich. Er führt sie auf ein Bronzeoriginal des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts zurück und hebt die ausserordentliche Qualität der Kopistenarbeit hervor. Das verwundert nicht, da der Auftraggeber ein Kaiser war, legt aber gleichzeitig eine andere, korrektere Übersetzung der erwähnten Pliniusstelle nahe: Er hat die Laokoongruppe wohl „nur“ allen anderen Werken des Bronzegusses vorgezogen, was wenig erstaunt, wenn man die Vorliebe der Römer für Marmorskulpturen kennt. So wurde der Nimbus zerschlagen, der den richtigen Deutungsansatz überstrahlte, und der vatikanische Laokoon zugleich in den Kontext der hellenistischen Monumentalskulpturen gesetzt, die vor allem mit Rhodos verbunden werden.

Solch monumentale Werke wurden selbstredend nicht einfach so geschaffen und aufgestellt, sondern sind unweigerlich mit politischen Absichten und klaren Aussagen verbunden. Andreae skizziert abschliessend einen wahrscheinlichen Aufstellungskontext: Es könnte sich um die Stadt Pergamon im Jahr 139 handeln. König Attalos II. herrschte dort über ein blühendes Reich mit hochstehender Kultur. In Anbetracht der römischen Expansionspolitik könnte die Laokoon-Gruppe als eindringliches Mahnmal gegen die menschliche Hybris und die Schrecken des Krieges gedacht worden sein. Obwohl Bernard Andreae den Indizienprozess mit geballtem Wissen und punktgenauer Analyse führt, muss diese Deutung vorerst hypothetisch bleiben. Nichtsdestoweniger überzeugt sie durch Stringenz und eine zeitlose Botschaft.


Technisches: Bernard Andreae, Laokoon und die Gründung Roms. Kulturgeschichte der antiken Welt, Band 39. Mainz, Philipp von Zabern 1988. ISBN 3 8053 0989 9. Das Buch ist in verschiedenen Aggregatszuständen, aber nur noch antiquarisch erhältlich.

Sonntag, 20. November 2011

Villa mit Meerblick, verzweifelt gesucht

Die römischen Villen von Stabiae – soweit stimmten unser Reiseführer und meine entfernte Erinnerung überein – liegen in der Stadt Castellammare di Stabia am Golf von Neapel. Dort schien sich dies freilich noch nicht wirklich herumgesprochen zu haben. Als wir nämlich in Castellammare aus der Circumvesuviana stiegen, der inzwischen etwas heruntergekommenen Banlieue-Metro von Neapel, und uns nach dem Bus zu den Villen erkundigten, trafen wir zwar auf lauter freundliche Menschen, aber erhielten keine einzige kompetente Antwort. Hier das Kurzprotokoll unseres leicht kafkaesken Parcours:

Junger Mann am Ticketschalter: „Oh, die römischen Villen, das ist aber weit, so sechs bis sieben Kilometer – da müsst ihr ein Taxi nehmen, oder einen Bus, auf dem Platz unterhalb des Bahnhofs.“ Älterer Herr in einem zufällig auf dem Platz unterhalb des Bahnhofs haltenden Bus: „Die römischen Villen, äh (überlegt) – ja, steigt ein! Ich sage euch, wann ihr umsteigen müsst.“ Anderer älterer Herr im Bus, etwas später: „Nein, noch nicht jetzt, an der nächsten Haltestelle!“ An der nächsten Haltestelle, der gleiche ältere Herr: „Falsch, vorher war die richtige, steigt bei der nächsten aus und nehmt irgendeinen anderen Bus zurück!“ Eine Frau bei der nächsten Haltestelle: „Römische Villen? Keine Ahnung. Vielleicht Bus Nummer 13? Aber ich weiss nicht, wo der fährt.“ Ein Touristenfallensteller, die Verzweiflung und ein Geschäft witternd: „Ich habe einen Minibus, für zehn Euro fahre ich euch hoch!“ Drei junge Frauen auf der Strasse: „Keine Ahnung, aber [auf den FS-Bahnhof deutend] nehmt doch hier einen Zug!“

Unsere Rettung war das Tourist Office vis-à-vis des Bahnhofs. Ein distinguierter Angestellter revanchierte sich mit begeisterter Dienstfertigkeit quasi im Alleingang für die Inkompetenz seiner Mitbürger: „Die römischen Villen? Gute Idee! Da geht ihr zu Fuss, in einer Viertelstunde seid ihr dort. Und der Eintritt ist frei!“ Er überhäufte uns mit Gadgets (Stadtplan, archäologischer Führer, Kartenset und Poster), entliess uns mit besten Wünschen – und behielt recht: In fünfzehn Minuten hatten wir das Hochplateau über Castellammare erklommen und standen vor der Villa Arianna.

Wer findet, ich gehe mit den hilfsbereiten Passanten zu streng ins Gericht, dem empfehle ich einen Augenschein vor Ort: Die Villen von Stabiae sind nichts weniger als spektakulär. Die Villa Arianna wirkt wie an den steilen Abhang geschoben, auf nicht enden wollender Breite zum Meer hin aufgefächert, das in der Antike nur einen beherzten Steinwurf entfernt an den Fuss des Plateaus stiess, wo sich heute die Mietskasernen der Stadt ausbreiten. Rechter Hand thront der Vesuv, am Horizont liegen die Inseln der Bucht, und die Räume sind mit Mosaiken und Wandmalereien von höchster Qualität geschmückt. Ähnliches gilt für die Villa San Marco, unser zweites Ziel etwas nordöstlich vom ersten: mehr in sich geschlossen, aber noch luxuriöser, mit verschwenderischen Höfen und Gärten sowie meisterhaften Fresken ausgestattet. Wer solche Schätze in seiner Stadt hat und nicht mal den Weg dorthin kennt, der ist – mit Verlaub – ein Banause. Und es ist ja nicht so, dass man auf den Besucher nicht vorbereitet wäre: Die nötige Infrastruktur ist vorhanden und das Personal auch (darunter eine sehr kompetente Aufseherin in der Villa Arianna, die uns in aller Ausführlichkeit durch die Räume führte und sämtliche Fragen beantworten konnte). Aber wir waren an diesem schönen Spätsommertag in beiden Villen praktisch alleine.

Gewiss, Pompeji stellt alles in den Schatten; und wer dort war, dann in Herculaneum, vielleicht noch in Oplontis, der hat seine Dosis Archäologie wohl gehabt. Dennoch hätte es Stabiae verdient, aus seinem Aschenputtel-Dasein herausgeholt zu werden. Dieses beginnt übrigens bei der sehr beiläufigen Erwähnung in Reiseführern aller Art und setzt sich fort im offiziellen Kombiticket zu den archäologischen Stätten des Vesuvs: Da sind die Villen von Stabiae nämlich grossspurig „inbegriffen“, obwohl der Eintritt frei ist… Ich beneide unseren zuvorkommenden Helfer im Verkehrsbüro nicht um seine Aufgabe, diesem Juwel einer archäologischen Stätte seinen gebührenden Rang zukommen zu lassen.


Technisches: Fairerweise muss ich hinzufügen, dass unser Führer uns richtig geraten hatte, in Castellammare Via Nocera auszusteigen und von dort einen Bus zu nehmen. Tatsächlich fährt Bus Nummer 1 über die Passeggiata Archeologica an beiden Villen vorbei – allerdings sahen wir ihn auf dem ganzen Weg kein einziges Mal. Wer nicht den Bus oder ein Taxi nehmen will, steigt ebenfalls in Via Nocera aus der Circumvesuviana und folgt diesem (Rund-)Weg. Zu Fuss ist das gut machbar, allerdings ist die erwähnte Passeggiata Archeologica nicht etwa ein romantischer Panoramaweg, sondern eine abfallgesäumte Umfahrungsstrasse ohne Trottoir. Die Villa Arianna und die Villa San Marco sind signalisiert. Man geht hier, wie erwähnt, auf wenig begangenen Wegen: Wer den Eindruck hat, auf einem Hühnerhof gelandet zu sein, lasse sich nicht beirren; der Eingang zur Villa San Marco ist da nur noch wenige Meter entfernt.

Einen Tag nach uns war offensichtlich User leics von virtualtourist.com unterwegs, dessen präzise Hinweise uns äusserst nützlich gewesen wären…

Freitag, 11. November 2011

Stadtbild und Wohngeschmack: Annäherungen an Pompeji

Was macht der Klassische Archäologe, wenn er nach zehn Jahren wieder nach Pompeji fährt? Ein paar Eckpunkte des Stadtplans sind noch präsent, die vier Stile der pompejanischen Malerei kann ich noch ähnlich gut (oder schlecht) auseinander halten wie damals, aber sonst riskierte ich, ziemlich wie ein Tourist auszusehen. Glücklicherweise birgt die gutsortierte Handbibliothek Abhilfe. Der Griff geht freilich nicht zum grossformatigen Bildband, auch nicht zu einem der einschlägigen Ausstellungskataloge, sondern zu einem vergleichbar kompakten Werk: Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack, von Paul Zanker. Das Buch, unlängst als Geschenk bei mir gelandet, ist eine neu bevorwortete und reich bebilderte Neupublikation zweier ausführlicher Artikel – einer zum Stadtbild im Lauf der Zeit, der andere zum Wohngeschmack in den letzten beiden Dekaden Pompejis. Und die etwas zufällige Lektüreauswahl erweist sich aus zwei Gründen als ideale Vorbereitung auf den Besuch: Obwohl Zanker keine allgemeine Einführung in diese berühmteste aller Ruinenstätten vorlegt, erwähnt er implizit und explizit eine Fülle von Basics, die sich mit meinen fragmentarischen Erinnerungen zu einem brauchbaren Gesamtbild zusammenfügen. Und weil die Argumentation immer sehr nahe an den Befunden bleibt, steckt er dem Reisenden eine Vielzahl von interessanten Details ins Handgepäck, die es vor Ort zu überprüfen gilt.

Zwei Erkenntnisse nehme ich mit aus der Lektüre. Zum einen ist da die zentrale Aussage, dass den aufstrebenden, in einer gewissen Austerität befangenen Römern die hellenistische Wohnkultur als Idealbild vor Augen stand, genauer: der Luxus an den Fürstenhöfen der Diadochenreiche. Da in den Städten, und ganz besonders in Rom selber, eine ziemlich rigide öffentliche Moral jegliche Zurschaustellung von Reichtum als unrömisch ächtete, konnten die ersten Experimente mit diesem Idealbild nicht dort stattfinden. Zum Ort der frühesten Adaptationen dieser hellenistischen Einflüsse wurden daher die villae, die Landsitze der vornehmen Römer, wie sie gerade in der Bucht von Neapel sehr häufig waren. Von dort wurden dann diese neuen Formen allmählich hinter die Mauern der Stadthäuser übernommen, zuerst wiederum in der Provinz, wie eben paradigmatisch in Pompeji. Von besonderer Bedeutung war dabei offensichtlich die Verbindung von Architektur und Natur. Was in den Villen eine Selbstverständlichkeit war, bedurfte in den Städten eines gewissen Talents zur Anpassung. Für die reichen Familien war es freilich ein Leichtes, in ihren riesigen Stadthäusern ausgedehnte, elegante Gärten einzurichten, die oft mit Brunnen und Kanälen durchsetzt waren und nicht selten die Wohnfläche an Grösse übertrafen. Besonders eindrücklich (und in Pompeji auf Schritt und Tritt überprüfbar) ist jedoch, wie selbst in mittleren und kleinen Häusern mit allen Mitteln versucht wurde, die Illusion vom Wohnen im Grünen zu inszenieren. Auch wer auf seiner Parzelle kaum Platz fand für die nötigsten Räume, vermochte in der Regel doch noch eine Ecke freizuhalten, in der hinter ein paar Säulen etwas Grün wachsen konnte. Brunnen und weitere Vegetation wurden dabei auch gerne mittels Wandmalereien angedeutet. Weil die Wohnhäuser nicht wie bei uns exklusiv privat waren, sondern eine halböffentliche Funktion als Ort für Klientenempfang und Geschäfte hatten, muss man sich die Eingangstüren tagsüber geöffnet vorstellen, womit diese Gärten durch raffiniert inszenierte Blickachsen für alle Passanten sichtbar waren. (Dies kommt, nebenbei bemerkt, auch dem heutigen Besucher zugute, der so durch die vergitterten Eingänge vieler geschlossener Häuser das für den damaligen Bewohner Wesentliche in gleicher Weise erblicken kann.)

Meine andere Erkenntnis ist methodischer Art; dass es nämlich wichtig und bereichernd ist, abstrakte historische Fakten darauf hin zu befragen, welche konkreten Auswirkungen sie auf das Leben der Menschen hatten. Ein grossartiges Beispiel ist dies: Nach dem Bundesgenossenkrieg und der Eroberung durch Sulla 89 v. Chr. wurde Pompeji zur römischen Kolonie. So weit, so gut. Dies bedeutet freilich, dass in der Stadt eine beachtliche Anzahl Veteranen angesiedelt wurden; Zanker geht von mindestens 2000 Mann (mit Anhang) aus. Allein die Zahl ist schwindelerregend für eine Stadt, die zu ihrer späteren Blütezeit gerade mal 15‘000 Einwohner gezählt haben muss. Noch spektakulärer muss man sich den Kontrast vorstellen zwischen der von Raffinement und griechischer Kultur geprägten, blühenden Provinzstadt und den Neuankömmlingen, denen man nach Jahren im Feldlager eine gewisse Rauheit nicht absprechen kann, und die zudem nicht etwa als Bittsteller, sondern als die neuen Herren aufgetreten sein werden. Die Umwälzungen im Stadtleben müssen sehr tief gereicht haben; und wenn man dann liest, dass dieses Gebäude aus einer bestimmten Epoche stammt, jenes aus einer anderen, so muss man sich dauernd bewusst sein, dass wir hier eigentlich von zwei völlig verschiedenen Städten sprechen, die sich im katastrophenbedingt relativ uniform anmutenden Stadtgebiet durchdringen und überlagern.

Der Bookshop in Pompeji hat mich enttäuscht: Der Raum ist klein und beengend, die Auswahl ordentlich, aber der Bedeutung des Ortes nicht angemessen, und es gab keinen Führer und keine andere Publikation zu Pompeji, die sich aufgedrängt hätte. So sah ich mich in meiner Herangehensweise unerwartet bestätigt, mich vor dem Besuch mit der wissenschaftlichen Literatur zu informieren, um mich dann vor Ort ohne Führer, aber mit durch die Lektüre geschärftem Blick durch die Gassen und Häuser treiben zu lassen.


Technisches: Paul Zanker, Pompeji. Stadtbild und Wohngeschmack. Kulturgeschichte der antiken Welt, Band 61. Mainz, Philipp von Zabern 1995. ISBN 3 8053 1685 2. Das Buch ist nur noch antiquarisch erhältlich.

Montag, 26. September 2011

Was Ikarus sah

Wer der Meinung war, dass die Serie von Georg Gersters Luftbildern archäologischer Stätten Griechenlands im Verlag Philipp von Zabern nach den beiden Bänden über das Festland und die Inselwelt bereits zu Ende sei, hat den besonderen Status Kretas nicht bedacht. Die grösste Insel Griechenlands kann nicht en passant zusammen mit all den kleineren behandelt werden, sondern rechtfertigt wegen ihrer historischen Bedeutung und ihres archäologischen Reichtums einen separaten, dritten Band. Im Unterschied zu seinen beiden Vorgängern, welche die Fülle ihres Materials zu einer anthologischen, teils relativ kursorischen Betrachtung zwang, kann dieser aus dem Vollen schöpfen. Umfang und Rang vieler archäologischer Stätten rechtfertigen eine ausführliche Besprechung, und die thematische Beschränkung auf einen limitierten, weitgehend sehr einheitlichen kulturellen Raum erlaubt es, ein abgerundetes Gesamtbild zu zeichnen. Da vier Fünftel des Bandes der minoischen Epoche gewidmet sind, ist es vor allem diese Periode, die mit einleuchtender Gliederung, ausführlichen Einleitungen und vielen Querverweisen als Einheit präsentiert wird; der Band ist mithin ein knappes, reich bebildertes Kompendium der Architektur und Geschichte dieser frühen Blütezeit Kretas.

Gersters Luftbilder umfassen weit reichende Überblicke und erstaunlich aufgelöste Details. Insbesondere die Art, wie sie Zusammenhänge zwischen Architektur und Landschaft vermitteln, ist von souveräner didaktischer Qualität. Die Verantwortung für den Text wiederum bleibt in diesem dritten Band in der Familie: Als Autorin zeichnet Margret Karola Nollé. Im Gegensatz zu Johannes Nollé und Hertha Schwarz in den ersten beiden Bänden hatte sie die Gnade, vollständig auf jene bemühten Scherze zu verzichten, die alles, nur nicht witzig sind. Der Text ist flüssig und informativ; der Leser erhält ein weit über die Architektur hinausgehendes, abgerundetes Bild insbesondere des minoischen Kretas. Inwieweit dieses dem aktuellen Forschungsstand entspricht, kann ich wegen reichlich angejahrter Kenntnis desselben leider nicht beurteilen; immerhin ist der Text in sich stimmig, sind die Querverweise konsistent. Meine beiden Hauptkritikpunkte an den Vorgängerbänden muss ich allerdings auch hier anbringen. Zum einen bleibt das Lektorat der Bildlegenden unsorgfältig. In mindestens vier Fällen (pp. 13, 15, 29 und 60) sind die Blickrichtungen der Fotos falsch angegeben. (Schade ist überdies, dass in diesem Band, anders als in den ersten beiden, darauf verzichtet wurde, konsequent bei jedem Bild den Norden zu bezeichnen. Die Orientierung der Bilder erschliesst sich deshalb nur dort, wo sie in der Legende ausdrücklich angegeben ist.) Das andere, gewichtigere Manko, auf das ich hinweisen muss, ist die vergebene Chance, Bild und Text besser miteinander zu verzahnen. Ich will nicht ungerecht sein: In vielen Fällen erläutert der Text die dazugehörigen Fotos relativ präzise. In etlichen anderen Fällen hingegen stehen Text und Bild kaum verbunden nebeneinander, wird keine Hilfe zur Bildlektüre gegeben, werden nach Schema F Abfolgen von Räumen beschrieben, die auf den Bildern nicht zu erkennen sind – als hätte die Autorin einen gewöhnlichen Reiseführer geschrieben, ohne die Fotos überhaupt gesehen zu haben. Wer daneben ein bisschen zusätzliche archäologische Literatur im Regal stehen hat, oder wer in Google Maps zu navigieren weiss, kann sich gewissermassen am eigenen Schopf aus der Orientierungslosigkeit ziehen. Und es ist ja jene Lektüre am anregendsten, die zum regelmässigen Aufspringen vom Pult und zum Griff nach Sekundärliteratur reizt. Trotzdem bleibt der Eindruck zurück, dass der Verlag mit gehobenem Mittelmass zufrieden war, wo Exzellenz möglich gewesen wäre.


Technisches: Margret Karola Nollé, Kreta in Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Mainz am Rhein, Philipp von Zabern 2009. ISBN 978 3 8053 3832 5.

Samstag, 4. Juni 2011

Traumorakel im stillen Tal

In der griechischen Mythologie bedaure ich am meisten die Seher. Sie sehen das Unheil, das sich aus eskalierender menschlicher Masslosigkeit aufbaut, furchterregend klar kommen, aber können nichts dagegen tun – und gehen oft auch selber daran zugrunde. Die trojanische Königstochter Kassandra ist das bekannteste, im Deutschen sprichwörtlich gewordene Beispiel. Vergleichbar erging es einem weniger bekannten Helden, dem Seher und Fürsten von Argos, Amphiaraos. Sein Verderben war der Feldzug gegen Theben, den Polyneikes, Sohn des Ödipus, gegen seinen Bruder Eteokles anstrengte. Adrastos, der König von Argos, sagte ihm seine Unterstützung zu und stellte ein Heer zusammen, angeführt von jenen sieben Helden, die in der Folge als die „Sieben gegen Theben“ bekannt wurden. Adrastos‘ Schwager Amphiaraos sollte ein Teilnehmer dieses Unterfangens sein, dessen tödlicher Ausgang für die meisten Beteiligten ihm bereits bekannt war. Deshalb versteckte er sich, um sich dem Untergang zu entziehen, wurde aber von seiner Frau Eriphyle verraten, die sein Versteck im Austausch gegen ein von Götterhand gefertigtes Halsband preisgab. So kam es, wie es kommen musste: Die Sieben zogen los, gelangten auf Umwegen, die hier nichts zur Sache tun, nach Theben, und liessen bis auf Adrastos alle ihr Leben vor den sieben Toren der Stadt. Ein besonderes Schicksal hingegen war für Amphiaraos reserviert: Als er verfolgt und dem Tode nahe war, öffnete sich auf Zeus‘ Geheiss die Erde vor ihm und verschluckte ihn samt seinem Gespann. Amphiaraos erhielt die Unsterblichkeit – und (gleichsam als ausgleichende Gerechtigkeit für sein übles Schicksal) als Kultort eines der schönsten, gewiss aber das lauschigste Heiligtum Griechenlands, das Amphiareion von Oropos, im äussersten Nordosten Attikas an der Grenze zu Böotien.

Das Amphiareion liegt im kleinen Tal eines Wildbaches, der nur gelegentlich Wasser führt. Bei unserem Besuch hörten wir ihn von unten rauschen, und blühende Bäume und Blumen verzierten die tiefgrüne Landschaft mit intensiv leuchtenden Farben. Die Gebäude des Heiligtums erstrecken sich dem Bach entlang das Tal hinunter: zunächst der Tempel des Heros Amphiaraos mit seinem Altar, dann eine Reihe von Statuenbasen, zuletzt die grosse Säulenhalle. Hinter ihr liegt ein kleines Theater. Die Sitzreihen sind durch die Jahrhunderte und Erdbeben fragmentiert und verformt, aber fünf grossartige Ehrensitze haben sich erhalten sowie das Proskenium, der Bühnenunterbau, der sich an die Rückwand der Stoa anlehnt. Auf dem gegenüberliegenden Ufer befindet sich der profane Teil des Heiligtums, das kleine Dorf, das ihm angegliedert war; heute ein relativ unübersichtliches Ruinenfeld, aus dem eine gut erhaltene Klepsydra, eine Wasseruhr, heraussticht.

In der Antike herrschte hier ein reger Kultbetrieb, animiert von zahllosen Pilgern, die von Amphiaraos Heilung von Krankheit erbaten. Pausanias erklärt, wie das ging: Man brachte dem Hausherrn zunächst ein Opfer dar und legte sich danach in der Säulenhalle schlafen. Im Schlaf, genauer: im Traum erwartete man dann vom Heros den Hinweis darauf, wie die Heilung bewerkstelligt werden sollte. Inschriften und Weihgeschenke bezeugen die Dankbarkeit zahlloser Geheilter. Wer diesen friedlichen, wohltuenden Ort heute erlebt, hat keinen Anlass, an ihrem Wahrheitsgehalt zu zweifeln.


Technisches: Dass ich zuvor noch nie im Amphiareion war, liegt auch daran, dass dieses Heiligtum ohne eigenes Fahrzeug äusserst mühsam zu erreichen ist. Kein Zug, kein Bus führt den Interessierten in das stille Tal bei Oropos. Nach ausführlichem Studium der Lokalgeografie sowie der Regionalbuslinien hatte ich endlich gemeint, eine besonders schlaue Lösung gefunden zu haben. Wir nahmen den Bus nach Agioi Apostoloi und stiegen in Kalamos aus. Dort würde sich doch sicher ein Taxi für die drei Kilometer bis zum Amphiareion finden lassen, oder? Fehlanzeige. Im Dorfladen, im Kiosk und im Café beschied man uns einstimmig, es gäbe im Ort kein Taxi; und der üblicherweise nächststationierte Taxifahrer, den man freundlicherweise für uns anrief, war diesen Tag abwesend. Als wir schon dachten, wir müssten uns mit Plan B abfinden und zu Fuss zur archäologischen Stätte gelangen, anerbot sich ein freundlicher älterer Herr, uns mit seinem Auto hinzubringen. Dem Manne sei rückblickend noch einmal herzlich gedankt! Für den Rückweg rief uns der Aufseher dann ein Taxi nach Oropos, was eine sehr praktische Lösung war, aber den Ausflug schliesslich relativ teuer werden liess... Als Fazit gilt daher: Man kommt durchaus mit dem ÖV zum Amphiareion, wenn man anschliessend ein bisschen Fussmarsch nicht scheut. Am einfachsten, gut 3 Kilometer, ist es von Kalamos an der Linie Athen-Agioi Apostoloi. Mehr Busse fahren nach Oropos; wenn man den Chauffeur dazu bringt, am richtigen Ort, kurz vor Markopoulo, an der Abzweigung nach Kalamos anzuhalten, hat man von dort praktisch gleich weit. (Die Busse fahren von der Platia Aigyptou ab; nach Agioi Apostoloi vom Südrand, nach Oropos von der Nordostecke des Platzes.) Die Taxivariante ist natürlich, wie wir gezeigt haben, auch machbar; genügend Taxis (zudem viele Verpflegungsmöglichkeiten) finden sich im Hafen von Oropos; für die einfache Fahrt haben wir, wenn ich mich richtig erinnere, 18 Euro bezahlt. Praktischer ist man zweifellos im Mietauto unterwegs, was zudem den Vorteil hat, dass gleichentags auch andere archäologische Stätten wie Marathon und Rhamnous erreichbar sind. (Dazu ein Geheimtipp: Wer mit Metro oder Bus zum Flughafen fährt und dort einen Mietwagen nimmt, vermeidet die aktive Bekanntschaft mit dem Athener Verkehrschaos und ist sofort auf dem attischen Land.)

Die archäologische Stätte selber ist zu den üblichen Zeiten geöffnet, nämlich Dienstag bis Sonntag von 9 bis 15 Uhr. Eine Informationstafel gibt vor Ort eine relativ gute Übersicht über die Ruinen; wer weitergehend interessiert ist, kann zur Vertiefung auch den (nicht mehr ganz neuen) Führer von Vassilios Petrakos erstehen. An Online-Informationsquellen erwähnt seien die Kulturdatenbank des Tourismusministeriums (leider nur auf Griechisch) sowie die Wikipedia (wie für griechische archäologische Stätten üblich in der englischen Version besser und ausführlicher als in der deutschen).

Sonntag, 27. März 2011

Karthaia

Die Insel Kea (für Altgriechen: Keos) liegt dem Festland von allen Kykladen am nächsten, gehört aber dennoch nicht zu den ausserhalb Griechenlands bekannten Reisezielen. Wer ein Auto zur Verfügung hat, erreicht den kleinen Hafen Lavrio an der Südostspitze Attikas von Athen aus relativ speditiv; mühsamer reist an, wer auf den öffentlichen Verkehr angewiesen ist. In Lavrio schifft man sich auf der Fähre ein, die einen in gut einstündiger Fahrt, vorbei an der langgestreckten ehemaligen Gefängnisinsel Makronissos, in Keas Hafenort Korissia bringt. Die eindrücklichste Attraktion der ruhigen, grünen Insel ist der Hauptort Ioulis, spektakulär auf einem Sattel zwischen zwei Hügeln gelegen, mit seiner archaischen Kolossalstatue eines liegenden Löwen. In der klassischen Antike bestanden auf Kea vier politische Zentren: neben Ioulis und Koressia auch Poieessa und Karthaia, dessen Akropolis sich an der Südostküste auf einem schmalen Felshügel zwischen zwei Bachbetten erhebt. Wer nicht per Boot an dem flachen Strand an Land gehen kann, erreicht Karthaia nur per mindestens einstündigen Fussmarsch auf einem der diversen Wanderwege, die sich die Flanken der Insel hinunterwinden.

Dieser unzugänglichen, aber spektakulär gelegenen und archäologisch wertvollen Stätte wurde zwischen 2002 und 2008 durch das „Programm zur Konservierung und Entwicklung des antiken Karthaia“ – unter anderem mit Geldern aus dem Europäischen Fonds für Regionalentwicklung – neues Leben eingehaucht: Die Steine wurden vom Wildwuchs befreit, Mauern gerade gerichtet und ausgebessert, Bauglieder der Tempel und anderen Gebäude identifiziert, und die Rekonstruktion einzelner Säulen und Maueransätze (zusammen mit den Informationstafeln) erleichtert dem unerfahrenen Besucher das Verständnis der Fundamente. Parallel dazu vervollständigten punktuelle Ausgrabungen das Bild, das sich die Fachwelt bisher von der archäologischen Stätte gemacht hatte. Ausdrückliches Ziel war es, in Karthaia einen sanften, möglichst naturnahen Tourismus anzuregen. Entsprechend wurden die althergebrachten Wander- und Ziegenwege nicht zu Autobahnen ausgebaut, sondern einzig instand gestellt und markiert. Karthaia soll weiterhin hauptsächlich zu Fuss erreicht werden.

Die Restaurierungs- und Rekonstruktionsarbeiten wurden vor bald zwei Jahren abgeschlossen. Dazu erschien die Publikation, um die es hier eigentlich gehen soll: Καρθαία / Karthaia. Ich muss gleich anfügen, dass ich das Buch nicht gekauft, sondern geschenkt bekommen habe, und zwar von einer der Autorinnen, meiner Studienkollegin Tania Panagou. Wenn ich mir trotzdem eine kurze Besprechung erlaube, dann aus zwei Gründen: Erstens glaube ich nicht, dass irgendjemand, der hier mitliest, zum potentiellen Käuferkreis des Werkes gehört. Zweitens aber finde ich es wichtig zu betonen, wie schön und zugleich nützlich die Publikation einer archäologischen Stätte sein kann, wenn alle Ingredienzen stimmen – wenn Geld und Zeit vorhanden sind, um Stress und Schludrigkeit zu verhindern, wenn eine kleine Equipe mit Herzblut bei der Sache ist, und wenn auf die Selbstbespiegelung in einer abgehobenen Fachdiskussion verzichtet wird zugunsten einer zugänglichen, aber immer präzisen Darstellung. Dass eine relativ entlegene Stätte mit einer so gelungenen Publikation geehrt wird, ist beglückend. Das Buch ist reich und hilfreich bebildert, und der in drei Sprachen parallel gehaltene Text (Griechisch-Englisch-Französisch) überlässt dem geneigten Leser jederzeit die Wahl, welche Fremdsprache er aktuell gerade revidieren möchte.


Technisches: E. Simantoni-Bournia, L.G. Mendoni, T.-M. Panagou, Καρθαία. ...ἐλαχύνωτον στέρνον χθονός... Athen 2009. ISBN 978 960 89366 2 1. Einen Link zum Buch konnte ich beim besten Willen nicht finden.

UPDATE: Wer des Neugriechischen mächtig ist, findet hier ziemlich ausführliche Informationen zur Restaurierung von Karthaia mitsamt der zugehörigen Bilddokumentation. Und anstatt auf Google Maps zeigt der Link zu Kea jetzt auf die offizielle Website der Insel.

Montag, 7. März 2011

Geschacher um Sarpedon

Im Mittelpunkt dieses Beitrags hätte der Krater des Euphronios mit Eros und Thanatos stehen sollen, die den toten Sarpedon aus der Schlacht tragen: vielleicht die schönste bekannte griechische Vase, ein Meisterwerk der Kunstgeschichte – und zentrales Objekt eines Kunsthandelsthrillers, packender als jede Fiktion. Wer sich mal ein Stündchen gut unterhalten will, dem sei die mitreissende Aufzeichnung dieser Verwicklungen durch Thomas Hoving herzlichst empfohlen, dem damaligen Direktor des Metropolitan Museum of Art. Ihm wurde nämlich dieses Meisterstück im Herbst 1971 vom bereits damals skandalumwitterten Antikenhändler Robert Hecht angeboten. Hecht machte vage Andeutungen zur herausragenden Bedeutung und zum exorbitanten Preis einer bislang unbekannten Vase vorerst unklarer Provenienz und lud zur Besichtigung in Zürich ein (of all places). Kann man „Grabraubgut“ noch deutlicher schreiben? Hoving, der sich damals stark für einen Ehrenkodex der Antikenmuseen zum Umgang mit Antiquitäten zweifelhafter Herkunft engagierte, war natürlich auf der Hut. Er beschreibt aber auch offen, wie absolut rettungslos ihn der Krater faszinierte, als er ihn zum ersten Mal zu Gesicht bekam – und wie erleichtert, als Hecht Nachweise für die Provenienz des Kunstwerks aus altem Privatbesitz lieferte, die sich zuerst zwar etwas unglaubwürdig anhörten, sich aber nach und nach unter dem prüfenden Blick der italienischen Justiz und der Presse erhärteten. Hoving handelte den Kaufpreis auf eine Million Dollars herunter, zahlte, und der Krater kam nach New York.

Dabei hätte es bleiben können, wenn Hecht wirklich ein anständiger Händler gewesen wäre. War er aber nicht: In jenem Herbst 1971 gingen nämlich nicht ein, sondern unglaublicherweise gleich zwei Kratere von Euphronios durch seine Hände, beide in Scherben: einer aus libanesischem Privatbesitz, der andere aus der illegalen Ausgrabung eines etruskischen Grabes bei Cerveteri. Sein Geniestreich war es, letzteren mit der Provenienzdokumentation des ersteren zu adeln und ihn so vermeintlich gefahrlos auch einem kritischen Kunden, nämlich einem renommierten Museum, zu verkaufen. Und da nun Italien seit einigen Jahren eine intensive Kulturaussenpolitik betreibt, um den Antiquitätenschmuggel zu beleuchten, zu denunzieren, und um Kunstwerke zu repatriieren, die ganz offensichtlich unrechtmässig das Land verlassen haben, wurde alsbald der zweite Akt des Thrillers geschrieben, der (für mich reichlich überraschend, siehe z.B. die Parthenonskulpturen) damit endete, dass der Euphronios-Krater an den italienischen Staat zurückgegeben wurde. Mit Pomp und Prominenz wurde das gute Stück willkommen geheissen und fand seinen ihm zustehenden Platz im Museo nazionale etrusco in der Villa Giulia in Rom.

Damit rückte dieses Meisterwerk für mich sozusagen in Griffweite und ein Besuch der Villa Giulia ins Pflichtprogramm für die nächste Romreise. Im Oktober des letzten Jahres war es endlich so weit. Doch dann: Als wir zur Kasse der Villa Giulia kamen, begrüsste uns ein Plakat mit der Information, dass der Krater des Euphronios zurzeit nach Venedig ausgeliehen sei, an die Ausstellung I Carabinieri per l’arte. Tessere di un patrimonio recuperato… Ich hätte das gesamte Personal samt Putzfrau würgen können, aber die gute Erziehung machte sich glücklicherweise noch rechtzeitig bemerkbar, und wir lösten artig zwei Eintritte. Tatsächlich lohnte sich der Besuch auch ohne Euphronios, mindestens im kürzlich neugestalteten ersten Teil. Das Ordnungsprinzip ist dort der Fundzusammenhang der Objekte, sind die einzelnen etruskischen Siedlungen und Nekropolen. Dennoch gelingt den Gestaltern eine klare, verständliche Darstellung der Epochen und Stile, und ich muss gestehen, dass wir etliche Meisterwerke entdecken konnten. Deutlich mühsamer und anstrengender war dann die zweite, noch nicht aktualisierte Partie der Villa Giulia, wo in nicht enden wollenden Räumen randvolle Vitrinen im Sechziger-Jahre-Design dumpf aufeinander folgten. Und in sträflicher Nonchalance haben es die Verantwortlichen fertig gebracht, das Highlight des Hauses (jedenfalls für mich) sehr effizient zu verstecken: In einem kleinen, düsteren Nebenraum standen drei Vitrinen wie zwischengelagert eng aufeinander, von wenigen Spots halbbatzig beleuchtet – und erst im letzten Moment, schon beim Herausgehen, entdeckte ich in der einen von ihnen die Olpe Chigi, Meisterwerk der korinthischen Vasenmalerei und seinerzeit Stammgast in meinen archäologischen Vorlesungen.

Bei solchen und ähnlichen Erlebnissen bin ich durchaus versucht, mich zu fragen, ob es wirklich Sinn macht, einem Staat Kunstwerke zurückzugeben, der mit seinen eigenen Schätzen so lieblos umgeht. Aber als Schweizer hält man bei dieser Thematik wohl besser den Mund. Nichts hätte dies treffender illustrieren können als der grosse Saal neben der erwähnten Abstellkammer. Dort wird anscheinend ein neuer Ausstellungsteil zum Thema Kunstraub und Kunsthandel aufgebaut, und bereits sind da einige in den letzten Jahren wiedergefundene Objekte höchster Qualität versammelt. Eine besonders unrühmliche Rolle spielt dabei das Zollfreilager Genf – was mich unweigerlich wieder einmal zu der Frage führt, weshalb die offizielle Schweiz während Jahrzehnten nicht nur nichts gegen den internationalen Kunstraub unternahm, sondern ihn durch spezielle Gesetze sogar noch aktiv beförderte. Da ist viel Unheil angerichtet worden, und Patentrezepte gibt es keine. Eines immerhin zeigen das Schicksal des Euphronios-Kraters, aber auch die aktuellen Prozesse gegen der erwähnten Robert Hecht oder die Getty-Kuratorin Marion True: Das Bewusstsein für das Unrecht steigt.


Technisches: Das Museo nazionale etrusco befindet sich in der Villa Giulia, der ehemaligen Sommerfrische von Papst Julius III. am Nordrand der Villa Borghese. Von der Piazza del Popolo (Metro A, Flaminio) ist das ein angenehmer Spaziergang; man kommt aber auch mit Bus 19 oder Tram (Bus) 3 bis fast vor die Tür. Nur erkundige ich mich nächstes Mal vielleicht vorher, ob das Objekt meiner Begierde im Haus ist…

Donnerstag, 25. März 2010

Antike am Königsplatz

Neulich benutzte ich einen Nachmittag in München, um mir die beiden Tempel der klassischen Archäologie am Königsplatz, die Antikensammlung und die Glyptothek, anzusehen. Da sich mein kurzes Mittagessen mit zwei Kollegen im Franziskaner wegen der dortigen krankheitsverdünnten Personaldecke etwas über Gebühr erstreckte, blieben mir für die beiden Museen zusammen allerdings nur gerade zwei Stunden. Eine radikale Beschränkung auf das Wesentliche war angesagt – alles andere als einfach in diesen Häusern. Bayerns König Ludwig I., der die Vasen- und Skulpturensammlung seinerzeit begründet hatte, wollte sich eine kleine, aber wertvolle Kollektion zusammenstellen lassen: „An Zahl werden die grossen Museen das meinige übertreffen; in der Quantität kann sich nicht, an Qualität soll sich meine Sammlung auszeichnen.“ Dies merkt man den Nachfolgeinstitutionen immer noch an: Ihre Grösse ist überschaubar, die Dichte an Meisterwerken jedoch überdurchschnittlich hoch.

Mein besonderes Interesse galt den Kronjuwelen der Glyptothek, den Giebelskulpturen vom Aphaiatempel in Aegina. Vor ein paar Monaten war ich wieder einmal dort oben; durchaus passend also, jenen sonnig-windigen Besuch bei der Ruine mit der Reverenz an den Skulpturenschmuck im Münchner Regen zu ergänzen. Ich gestehe, dass ich in sprachloser Ergriffenheit vor diesen Kunstwerken stand. Die beiden Ensembles, die zu den besterhaltenen griechischen Giebelskulpturen zählen, dokumentieren eine Scharnierzeit der griechischen Kunst: das eine die letzte Stufe der archaischen Epoche, hinter deren Strenge wahrnehmbarer als zuvor das Leben pocht; das andere, um ein Weniges jüngere, das In-sich-Ruhende der frühesten Klassik mit ihrer gebändigten Bewegung und meisterhaften Komposition. Die Figuren sind überraschend klein und von überwältigender Schönheit; der Marmor glitzert, die Oberflächen sind makellos. Die Wiederbegegnung mit den Aegineten war einer der grossen Momente meiner Museumserfahrungen.

Es wäre noch von vielen anderen Höhepunkten zu berichten: von den Porträts, Grabreliefs und Jünglingsstatuen in der Glyptothek; vom atemberaubenden Netzglasbecher; von den frühen rotfigurigen Vasen der sogenannten Pioniere mit ihrem erfolgreichen Ringen um die Darstellung des Menschen und ihrer unbeschwerten Kollegialität und Rivalität. Erwähnt sei hier aber vor allem die Geschichte der Glyptothek. Ein Blick auf alte Fotos und in die entsprechenden Akten zeigt, wie im 19. Jahrhundert ein idealtypisches Antikenmuseum eingerichtet wurde. Die Säle, in ihrer Form teilweise antiken Innenräumen nachempfunden, waren farbig ausgemalt und reich dekoriert. Die Antiken wurden weniger nach historischen, als vielmehr nach dekorativen Gesichtspunkten auf die Räume verteilt und angeordnet. Klassische Bedeutung in der Rezeptionsgeschichte hat die Ergänzung der Aegineten durch Bertel Thorvaldsen, der letzte solche Versuch an einem wichtigen antiken Ensemble; aus heutiger Sicht natürlich kritisiert, aber gleichzeitig ein herausragendes Dokument des Klassizismus, jener Epoche, die antike und zeitgenössische Skulptur nicht als Gegensätze, sondern als Teile einer Gesamtkunst verstand. Die „Verschlimmbesserungen“ wurden längst wieder entfernt und der dokumentierte Ursprungszustand so gut wie möglich wiederhergestellt. Die reichen Säle der Glyptothek ihrerseits wurden durch die Bomben des Zweiten Weltkriegs zerstört. Der Wiederaufbau stellte die Bauvolumina wieder her, verzichtete aber auf jeglichen Dekor; nur leicht geschlämmte, nackte Ziegelmauern umgeben jetzt in gebührender Zurückhaltung die Statuen.


Technisches: Glyptothek und Antikensammlung am Münchner Königsplatz (ein paar Minuten zu Fuss oder eine Station weit mit der U2 vom Hauptbahnhof) sind dienstags bis sonntags von 10 bis 17 Uhr geöffnet, donnerstags sogar bis 20 Uhr. Das Kombiticket für beide Häuser kostet sagenhafte 5,50 €! Bei schönem Wetter lockt ein Café im Hof der Glyptothek. Aus Zeit- und Wettergründen musste ich für Kaffee, Kuchen und Apéro eine Alternative ausserhalb der Museen suchen und habe sie in der sympathischen Brasserie Treznjewski wenige hundert Meter weiter nördlich gefunden.

Als Andenken an meinen Besuch habe ich in der Glyptothek den sehr schön gestalteten Katalog von Raimund Wünsche erstanden: Glyptothek München. Meisterwerke griechischer und römischer Skulptur. München, C. H. Beck 2005. ISBN 3-406-42288-8.

Freitag, 19. März 2010

Mit dem Bauforscher durch Griechenland

Mein Neujahrsvorsatz Nummer drei, mich von neuem und möglichst systematisch mit den Themen und Inhalten meines Studiums auseinanderzusetzen, erweist sich als exzellente Idee. Zwar ist es inzwischen über acht Jahre her, dass die Antike aus dem Hauptfokus meiner Aufmerksamkeit verschwunden ist, aber die Ruinen meines Wissens sind erfreulicherweise noch so gut erhalten, dass ich sie ohne grossen Aufwand festigen, auf und an ihnen auf- und anbauen kann. Grundlagenwerke sind dazu eine besonders geeignete Lektüre, denn sie leisten auf unaufdringliche Weise beides, die Festigung des Bestehenden und seine kluge Ergänzung.

(In einer Klammerbemerkung sei dazu der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ein Kränzchen gewunden. Seitdem ich mich aus Platzgründen entschieden habe, nur noch die Bücher zu kaufen, die ich gleichentags noch zu lesen beginne, bin ich dort zwar nicht mehr Mitglied. Was die WBG jedoch an Grundlagenliteratur für alle möglichen Disziplinen, und insbesondere für die Altertumswissenschaften bereitstellt, ist grossartig. Sie bleibt unbeirrt jenem aussterbenden Phänomen verpflichtet, das man „Bildungsbürgertum“ nennt, und das ist so beeindruckend wie beruhigend.)

Und damit zu den Grundzügen der griechischen Architektur von Heiner Knell, einem der führenden antiken Bauforscher. Das Buch ist gleichsam eine Periegese durch das gesamte griechische Kulturgebiet, denn Knell geht durchwegs von der genauen Beobachtung der Denkmäler aus. Er führt uns zu den Hauptmonumenten der griechischen Antike, die er prägnant analysiert und aus deren Analyse er die wichtigen Entwicklungslinien und gemeinsamen Charakteristika ableitet. So fügt sich die Beschreibung der wichtigsten dorischen Ringhallentempel von den Anfängen bis in die klassische Zeit durch kluges Hervorheben kennzeichnender Eigenschaften quasi en passant zur Entwicklungsgeschichte dieses Bautypus zusammen. Solcherart an die Hand genommen kann der interessierte Laie selbständig nachvollziehen, wie sich die einzelnen Bauelemente nach und nach zu einem skulpturalen Ganzen zusammenfügten und zu einer immer perfekteren Einheit gelangten, aber auch wie in klassischer Zeit das Interesse an der Innenraumgestaltung aufkam und bald überhand nahm. Ähnliches lässt sich zur Entwicklung der schmückenden Elemente am ionischen Tempel, zu dessen verschiedenen Entwicklungslinien und ihren Glanzzeiten sagen. Und Heiner Knell bleibt bei den Einzelmonumenten nicht stehen, sondern stellt auch wichtige Heiligtümer und Stadtanlagen in einer Gesamtsicht vor, was es ihm ermöglicht, einzelne Bauwerke in ihren örtlichen und historischen Zusammenhang zu setzen. Dass man bei der Lektüre das Gefühl erhält, hier nicht ex cathedra belehrt, sondern zum eigenen Verständnis angeleitet zu werden, ist nicht das geringste Verdienst des Autors.

Etwas erstaunt hat mich der Platz, den er der religiösen Architektur einräumt: Fast drei Viertel des Buches sind den dorischen und ionischen Tempeln sowie den bedeutenden Heiligtümern gewidmet, währenddem der Städtebau sehr kurz abgehandelt wird. Ich bin mir der überragenden Bedeutung der Kultbauten für die griechische Baukunst sehr wohl bewusst, ebenfalls ihres relativ guten Erhaltungszustandes sowie des Interesses, welches die Archäologie ihnen klassischerweise entgegenbringt. Zudem bemerkt Knell in der Einleitung zur Behandlung von Wohnhaus und Stadtanlage, dass sich die Forschung für diese Themen erst seit relativ kurzer Zeit vertiefter interessiert – wäre sein Buch 2010 erschienen, hätten diese Kapitel an Länge wohl gewonnen. Dennoch bedaure ich etwas, das beispielsweise Typologie und Beispiele öffentlicher Bauten kaum zur Sprache kommen; und auch Kultbauten wie die Theater werden im Vergleich zu ihrer Bedeutung etwas stiefmütterlich behandelt.

Im Lichte der Einleitung des Buches lese ich diese Gewichtung als eine Grundaussage des Autors zur griechischen Architektur. Ohnehin gilt: Es ist immer möglich, sich ein solches Werk noch ausführlicher vorzustellen. Das gilt für die Auswahl und Gewichtung des Inhalts ebenso wie für die zurückhaltende Bebilderung, die hauptsächlich mit Bauplänen arbeitet. Entscheidend ist, dass Knell auf dreihundert leicht zu lesenden Seiten einen klaren Gesamtüberblick über mehrere Jahrhunderte einer Kunstform gibt, die technisch und ästhetisch weiterhin gültige Massstäbe gesetzt hat.


Technisches: Heiner Knell, Grundzüge der griechischen Architektur. (Grundzüge Band 38.) Darmstadt, WBG 1980. ISBN 3-534-08018-1. Das Buch ist zurzeit nur antiquarisch erhältlich.

Sonntag, 7. Februar 2010

Von den Altertümern

Mit dem Begriff Ἀρχαιολογία (Archaiologia) bezeichneten die Griechen ganz allgemein die Kunde aus alter Zeit, später auch die Untersuchung der Anfänge einer Kultur, der Vorgeschichte. Schleiermacher übersetzt das Wort bei seinem ersten uns bekannten Vorkommen in Platons Hippias Maior (285d) mit „Altertümer“, und darin klingt schon elegant die Bedeutung an, die uns heute vertraut ist: Die Archäologie ist die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der materiellen Substanz unseres geschichtlichen Erbes beschäftigt.

Und damit zu Hans Georg Niemeyers Einführung in die Archäologie, mit der ich, meinen guten Vorsätzen folgend, noch an Neujahr mein diesjähriges Lektüreprogramm in Angriff genommen habe. Das Buch datiert zwar (in dritter Auflage) von 1983, hat also die Fortschritte des letzten Vierteljahrhunderts nicht mehr mitgekriegt, aber das ist kein Unglück. Was es bietet, ist ein kurzgefasster, präziser und sehr gelehrter Überblick über die wissenschaftliche Disziplin Archäologie, und wenn da und dort methodisch oder definitorisch ein weniges nachzutragen wäre, bleibt doch alles Wesentliche gültig. Im Fokus des Buches steht das Objekt der Archäologie, die Denkmäler. Die klare und übersichtliche Darstellung beginnt mit ihrer Überlieferung, Wiedergewinnung und Beschreibung und führt über Kapitel zur Zeitbestimmung und zu Stil, Entwicklung, Struktur schliesslich zur Erklärung und Deutung. Das alles ist in jenem schönen literarischen Deutsch des klassischen Gelehrten abgefasst, das die Lektüre zu einem intellektuellen Genuss macht.

Von besonderer Dichte, Prägnanz und Eleganz sind einleitend die nur zwölf Seiten zur Geschichte der Archäologie als universitäres Lehrfach. Ihre Wurzeln liegen bekanntermassen im Klassizismus des 18. Jahrhunderts, verkörpert vor allen anderen durch den „Gründerheros“ J.J. Winckelmann. Neben der Wiederentdeckung der antiken Kunst (und ihrer Erhebung zum Ideal) verdanken wir ihm vor allem den Begriff der Entwicklung, der heute als Selbstverständlichkeit angesehenen Abfolge verschiedener Epochen und ihrer Stile. Die Etablierung der Archäologie an den Universitäten und damit als Wissenschaft in ihrem eigenen Recht wurde von klassischen Philologen betrieben, die als erste auf die neu errichteten archäologischen Lehrstühle berufen wurden und das Fach in seinen Anfängen entscheidend prägten. Mit den grossen Ausgrabungskampagnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in Mykene, Troia, Olympia, Delphi und anderswo) – und erst dann! – wurde die Archäologie zur Grabungswissenschaft und erweiterte gleichzeitig ihren Horizont von den römischen auf die bald in grosser Zahl zugänglichen griechischen Denkmäler. Die Betrachtungsweise blieb jedoch eine kunstgeschichtliche; erst deutlich im 20. Jahrhundert wuchs das Interesse an der materiellen Hinterlassenschaft der Antike im weiteren Sinn, womit auch der Verzicht auf die Idealisierung des Klassischen einher ging.

Archäologie und klassische Antike bleiben aber für Niemeyer untrennbar verbunden. Das wird auf den ersten Seiten des Buches deutlich, wo er die (oben kurz angedeutete) Begriffsdefinition zu einem programmatischen Bekenntnis nutzt: Da unser geschichtliches Erbe dasjenige der klassischen Kulturen des Mittelmeerraumes ist, ist die Wissenschaft, die sich mit den Denkmälern dieser Kulturen befasst, die Archäologie schlechthin. Alle anderen Archäologien benötigen ein charakterisierendes Beiwort. (Und Disziplinen wie der altamerikanischen Archäologie spricht er die korrekte Verwendung des Begriffs mit leichter Polemik gar ab, da es bei ihrem Studienobjekt nicht um ein lebendiges historisches Erbe gehe.) Diese Position ist mit Blick auf die Geschichte des Fachs unbestreitbar korrekt. Was mir übertrieben (und damit eben doch wieder klassizistisch) scheint, ist die Einschränkung des europäischen historischen Erbes auf die griechische und römische Antike. Die Mittelalterarchäologie mag zur Abfassungszeit der vorliegenden Einführung noch wenig etabliert gewesen sein; ihr Forschungsgegenstand ist für das Verständnis der abendländischen Gegenwart jedoch nicht weniger wichtig als die Antike. Und die vor- und frühgeschichtliche Archäologie ist stetig mit der äusserst komplexen Aufgabe befasst, solche Aspekte unserer Geschichte zu erhellen, die kaum durch literarische Überlieferung beleuchtet sind. Dass die verschiedenen Archäologien nicht scharf gegeneinander abzugrenzen sind und methodisch ohnehin alle voneinander profitieren, gesteht Niemeyer aber diskussionslos zu.

Die Einführung in die Archäologie war für mich eine ideale Einführung in die erneute Beschäftigung mit der Antike. Die klare Darstellung ihrer Methodik und Struktur wird mir als Leitfaden für die weitere Lektüre dienen.


Technisches: Hans Georg Niemeyer, Einführung in die Archäologie. Darmstadt, WBG 31983. ISBN 3-534-03962-9.

[UPDATE: Bei der Jungius-Gesellschaft und beim Projekt Gutenberg hat die Linkstruktur geändert...]

Sonntag, 30. August 2009

Im Dunkeln tappen

Das Kunsthistorische Museum Wien ist zusammen mit seinem Pendant, dem Naturhistorischen Museum, nicht nur ein seinem herrschaftlichen Standort angepasster Palast, sondern auch eines der ersten Grossmuseen, das eigens zu diesem Zweck gebaut wurde. Die monumentale Architektur weckt Erwartungen, die das Gebäude selber im Inneren mehr als erfüllt. Über ein prächtiges, mit Skulptur und Malerei dekoriertes Treppenhaus gelangt man in hohe Säle. Fresken von Grotesken und überbordender, goldglänzender Stuck schmücken die Gewölbe. Das Museum ist gewissermassen sein eigenes spektakulärstes Exponat und würde auch leer einen Besuch rechtfertigen. Darüber hinaus beherbergt es aber eine der bedeutendsten Sammlungen der Welt. Bei meinem letzten Besuch in Wien war die Antikenabteilung in Renovation, worauf ich mich, mit unerwarteter Ausdauer sowie einem hervorragenden Audioguide gewappnet, stundenlang zwischen den Alten Meistern herumtrieb. Dieses Mal wollte ich endlich die Altertümer sehen.

Die Sammlung besticht zunächst durch ihre thematische Breite. Gut vertreten sind neben den üblichen Verdächtigen einer solchen Kollektion, den griechischen Vasen, römischen Porträts und Konsorten, vor allem die vorrömischen Kulturen Italiens sowie die zyprische Kultur. Dies verleiht der Ausstellung eine zeitliche und thematische Breite, welche sich am anderen Ende des Spektrums bis zu byzantinischen und frühmittelalterlichen Denkmälern erstreckt. In diesem Jahrhunderte überspannenden Reichtum funkeln viele Glanzlichter. Ein spezielles Vergnügen sind für mich in solch renommierten Häusern immer die Stücke, die ich aus der Literatur schon kenne und dann endlich zum ersten Mal im Original vor mir sehen kann. So genoss ich in Wien besonders die Reliefs vom Heroon von Trysa, den Stamnos des Brygos mit Hektors Lösung oder die spektakuläre Gemma Augustea.

Nicht auf der Höhe der Exponate war hingegen die Museografie. Im Rahmen der Restauration und Neueinrichtung der Säle sind hier viele energische Akzente gesetzt worden, die sich aber leider oft als nicht sehr praktisch erweisen. Dies gilt zunächst für die Anordnung des Rundgangs, die uns etwas unvermittelt und unklar erschien. (Zur Verwirrung trägt auch die in Gold gefasste, ursprüngliche Beschriftung der Säle bei, die den nach Orientierung suchenden Besucher leicht in die falsche Richtung gehen lässt.) Es gilt aber vor allem für den Entscheid, die Säle der altitalischen und -ägäischen Kulturen sowie der Kleinkunst dunkel zu halten und nur die Objekte mit gezielt gesetztem Licht herauszuschälen. Die weihevoll-magische Stimmung passt zwar gut zu den grossartigen Räumen, aber das Besuchserlebnis leidet unter der zu extremen Umsetzung der Idee: Einige Objekte sind so sparsam ausgeleuchtet, dass ihre Schauseite zwar gut sichtbar ist, die Rückseite sich aber nur schemenhaft im Halbschatten abzeichnet. Gerade bei Vasen ist das natürlich eine Todsünde. Nur halbwegs gelungen ist auch der museografische Einfall, bei den unteritalienischen Vasen mit einem raumhohen, vollgestellten Glasschrank die Massenproduktion und den Überfluss der Magazine zu inszenieren. Der Effekt gelingt zweifellos, aber der Frust darüber, mehr als die Hälfte der Exponate nicht adäquat betrachten zu können, trübt die Freude an dieser Vitrine. Was anderswo funktioniert (beispielsweise in den niederen Räumen des ehemaligen Luzerner Zeughauses, im schaulagerartigen Historischen Museum), stiftet in den palastartig hohen Sälen des KHM eher Verwirrung.

So hinterlässt die Neugestaltung der Antikensammlung den etwas schalen Nachgeschmack eines ambitionierten, aber nicht immer genügend durchdachten Vorhabens. Aber gemach: Der Reichtum der Sammlung und die Pracht der Räume holen das Museum da locker wieder heraus.


Technisches: Das Kunsthistorische Museum Wien kann man kaum übersehen; es steht am Maria-Theresien-Platz zwischen Neuer Hofburg und Museumsquartier. Der Eintritt kostet 10 EUR; alle weiteren praktischen Informationen finden sich auf der gut gemachten Website. Besonders zu empfehlen ist nach dem anstrengenden Museumsbesuch eine Pause im edlen Museumscafé oben im Kuppelsaal.

Samstag, 25. Juli 2009

Homer revisited

Es ist ein Fluch mit den Ausstellungskatalogen. Zu mächtigen Bergen aufgeschichtet warten sie hochglänzend im Museumsshop auf den geneigten Besucher. Dieser weiss: Hier findet er den aktuellen Forschungsstand von führenden Experten aufgearbeitet und dargelegt, illustriert mit qualitativ hochstehenden, grossformatigen Farbbildern der erstklassigen Exponate – und das alles zu einem höchst fairen Preis. Wer möchte da, beeindruckt und leicht ermüdet vom Ausstellungsbesuch, widerstehen? Ich nicht; oft jedenfalls. Nach dem Kauf und nach kurzem Blättern und Schmökern verstaue ich das gute Stück dann im überfüllten Bücherregal, wo es fortan vor sich hinaltert.

Doch da ich vor geraumer Zeit den Vorsatz gefasst hatte, mich beherzt der vielen Leichen im Regal anzunehmen, jener Bücher also, die ungelesen verstauben, habe ich unlängst zu einem jener monumentalen Kataloge gegriffen: zu dem der letztjährigen grossen Basler Homer-Ausstellung. Ich sollte es nicht bereuen. Zum bekannten Glücksgefühl, das mich immer befällt, wenn ich wieder einmal Philologisches oder Archäologisches lese und durcharbeite, gesellte sich ein grosses Lesevergnügen. Gliederung und Textauswahl sind souverän; die einzelnen Artikel durchwegs von jener schwer zu erreichenden, konzentrierten Kürze, welche die Lektüre gehaltvoll macht; der Katalogteil in Text und Bild nach allen Regeln der Kunst gestaltet. An Erkenntnissen und wirklichen Aha-Erlebnissen besonders reich waren die Artikel von Joachim Latacz (Spiritus Rector der Basler Ausstellung und begnadeter Didaktiker) über die Struktur der Ilias und von Martin L. West über die Überlieferung der homerischen Schriften. Da gab es zuhauf diese glücklichen, fruchtbaren Momente, wo ich gerade so viele Grundlagen und Halbwissen abrufen konnte, dass ich die Argumentationen und Schlüsse in hoher Kadenz voll nachvollziehen konnte, ohne dass sie mir banal erschienen.

Einzig ein leises Bedauern darüber schwang bei der Lektüre mit, dass ich mich in den sechs Jahren meines Philologiestudiums nie wirklich gründlich mit Homer befasst hatte. Das ist nicht nur, aber auch meine Schuld. Ich habe durchaus ein paar Bücher Ilias und Odyssee im Original gelesen, auch ein bisschen was an Sekundärliteratur, aber diese Explorationen nie vertieft. Die meisterhaften Darstellungen von Latacz, West und anderen werfen ein schwaches Licht auf die Erkenntnisse, die ich hätte gewinnen können, als ich im Vollbesitz meiner philologischen Kenntnisse war. Diesen Flow der (vor allem späteren) Studienjahre bringe ich jetzt natürlich nicht mehr hin und muss mich mit seinem Abglanz trösten.


Technisches: Homer – Der Mythos von Troia in Dichtung und Kunst. Hg. von Joachim Latacz, Thierry Greub, Peter Blome. München, Hirmer 2008. ISBN 978-3-777-43965-5. Leider ist der Katalog bereits vergriffen und allenfalls noch antiquarisch erhältlich.

Sonntag, 15. März 2009

Centrale Montemartini

Es ist nicht besonders originell, die Centrale Montemartini für ein spektakuläres und eindrückliches Museum zu halten. Aber ich kann mir nicht helfen: Der Besuch hat mich tatsächlich begeistert. Die Rede ist von einem alten thermoelektrischen Kraftwerk, einem prächtigen neoklassizistischen Industriedenkmal südlich des Zentrums von Rom, das 1912 als erstes öffentliches Elektrizitätswerk auf dem Gebiet der schnell wachsenden Stadt eröffnet und bis in die Fünfziger Jahre regelmässig weiter ausgebaut wurde. In erster Linie produzierte die Centrale Bandenergie über eine mit Kohle alimentierte Dampfturbine von 20 MW Leistung; zu den Spitzenzeiten am frühen Abend wurden zusätzlich die beiden 5-MW-Dieselgeneratoren angeworfen. Ab 1963 wurde das Kraftwerk ausser Betrieb genommen und lag jahrelang brach, bevor es Ende der Achtziger Jahre renoviert und zunächst als Kulturzentrum gebraucht wurde. Die zündende Idee war dann die Verwendung dieses Industriemuseums als provisorischer Ausstellungsraum für die ausgelagerten antiken Skulpturen aus den zu renovierenden Kapitolinischen Museen. Die Originalität und überzeugende Ästhetik dieser Kombination führten zu einer Überführung des Provisoriums in ein dauerhaftes Museum.

Man steigt also an der Station Garbatella aus der Metro der Linie B, überquert das ausufernde Gleisfeld und schlängelt sich zwischen Brachen, Parkplätzen und Schnellimbiss zur Via Ostiense. Schräg gegenüber führt ein schmaler Durchgang auf einen schon fast lieblich zu nennenden, palmenbestandenen kleinen Platz, auf dem sich die markante, elegante Fassade der Centrale Montemartini erhebt. Gleich beim Betreten des Gebäudes empfängt einen der charakteristische Geruch von Maschinen und Motoren. Der erste, der republikanischen Kunst gewidmete Teil des Museums spielt sich gewissermassen im Untergrund ab. Nur da und dort weisen massive Rohre, Schlackensammler und übergrosse Werkzeuge auf die titanischen Vorgänge hin, die sich im Stockwerk darüber abspielten. Über eine schmale Treppe steigt man dann in den Maschinensaal, eine hohe, helle Halle, dominiert von der Wucht der beiden dreifach mannshohen und zwanzig Meter langen Zehnzylindermotoren und den mächtigen Rädern ihrer Generatoren. Aufgereiht rund um diese rohen Giganten der Industriekultur ist der helle Marmor der Skulpturen aus dem Zentrum der kaiserlichen Stadt. Der Kontrast fasziniert auf den ersten Blick. Die Gegenüberstellung der antiken Statuen mit den schwarzen Kolossen lässt ihre Leuchtkraft, ihre Körperlichkeit, ihre Lebendigkeit noch stärker als üblich hervortreten. Gleichzeitig lässt sich durch das Studium der Schaltpulte, Leitungen und Räder das Funktionieren der Motoren und Generatoren nachvollziehen. Das Hin-und-Zurück zwischen Antike und Industriezeitalter sorgt für einen anregenden, unangestrengten Museumsbesuch. Abgerundet wird dieser durch den ebenso imposanten Kesselsaal. Vor einem letzten erhaltenen gemauerten Dampfkessel ganz hinten ist rund um das Jagdmosaik von Santa Bibiana eine Gartenlandschaft mit Statuen und Wasserbecken rekonstruiert, welche die Atmosphäre der horti, der gestalteten Natur inmitten der Stadt evoziert.

Bewunderns- und betonenswert ist, wie hier aus zwei (bereits erstklassigen) Ausgangspunkten ein Ganzes geschaffen wurde, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Dazu kommt, dass die Centrale Montemartini etwas abseits der Haupt-Touristenströme, aber in einer spannenden Gegend liegt. Gegenüber, im ehemaligen Zentralmarkt, hat sich ein Kulturzentrum eingerichtet. Und wenige Gehminuten Richtung Zentrum stösst man auf die Stadtmauer mit der Cestius-Pyramide, auf den idyllischen protestantischen Friedhof und den antiken Scherbenhügel des Testaccio.

Freitag, 27. Februar 2009

Archipelagus ab alto

Wieder hat sich Georg Gerster in den griechischen Luftraum geschwungen. Nach den archäologischen Stätten des Festlandes waren dieses Mal die Inseln sein Ziel (mit den unvermeidlichen politisch-militärischen Implikationen, je weiter östlich diese lagen...). Entstanden ist erneut ein opulenter, faszinierender Bildband. Naturgemäss ist die archäologische Ausbeute etwas geringer: Viele der griechischen Inseln lagen die meiste Zeit abseits der grossen Verkehrsströme, ihr karger Boden vermochte (und vermag) nur wenige Menschen zu ernähren, und entsprechend fehlen häufig die grossen Siedlungszentren und Heiligtümer. Einige bedeutende Ausnahmen sind zu nennen, an vorderster Front Delos, Rhodos und Samos; andere, weniger spektakuläre Fundstätten zeugen gleichwohl von der kulturellen Bedeutung des Archipelagus, so die prähistorischen Siedlungen auf Milos, Kea und Syros. Überwältigende Landschaften sind aber auf den meisten Inseln zu entdecken, und so ist Gersters Buch auch ein Bilderbogen der modernen Schönheit der Inseln: die atemberaubende Caldera von Santorini, die zerklüfteten Landschaften von Astypalaia und Amorgos, die karge Perfektion der kykladischen Dörfer Ioulis (Kea), Ios, Mykonos und vieler anderer.

Wiederum steuern Johannes Nollé und Hertha Schwarz erläuternde Texte zur Geschichte der Inseln bei. Die Verknüpfung mit den Bildern scheint mir besser gelungen als beim Vorgängerwerk; ebenso bemüht wirken jedoch auch hier die Versuche, die trockenen Texte mit etwas Witz aufzulockern – der Vergleich mit dem modernen Jetset (p. 43) ist an den Haaren herbeigezogen, die saloppen Lesben-Klischees (anlässlich des Porträts von Sappho, p. 48-49) können nur als peinlich bezeichnet werden. Leider war auch das Lektorat relativ kursorisch. Drei Mal (p. 98, p. 151, p. 168) ist in der Bildlegende der Norden im Süden; im Text wird Osten mit Westen verwechselt (p. 9) und Kreta mit Zypern (p. 12); und dass eine Amphore 30 Hektoliter fasst (p. 60), ist zwar auf den ersten Blick als Absurdität erkennbar, verdunkelt aber den Punkt der Aussage, nämlich den Wert von Chios-Wein. So sind bei der Lektüre wachsames Mitdenken und etwas Langmut angezeigt. Dem Zauber der Bilder tut dies natürlich keinen Abstrich.


Technisches: Johannes Nollé/Hertha Schwarz, Griechische Inseln in Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Mainz, Philipp von Zabern 2007. ISBN 978-3-8053-3682-6.

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Dädalisches

Der Traum, die Welt aus der Sicht der Vögel zu betrachten, muss so alt sein wie die Menschheit. Im antiken Griechenland hat er im Mythos von Dädalus und Ikarus eine seiner schönsten Ausprägungen gefunden. So ist es denn sehr stimmig, wenn der Verlag Philipp von Zabern ein Buch mit Luftfotos griechischer archäologischer Stätten veröffentlicht. Zwar mag dies im Zeitalter von Google Maps und Google Earth nicht besonders spektakulär tönen. Aber die perfekt komponierten, scharfen und detailgenauen Bilder von Georg Gerster sind Googles (zugegebenermassen genialen) Orthofotos natürlich weit überlegen. Mit Sachverstand und grosser Erfahrung aufgenommen, ästhetisch und sehr didaktisch zugleich, zeigen und erläutern sie siebzig der wichtigsten archäologischen Stätten des griechischen Festlandes, von Philippi bis Monemvasia. Zu den Bildern treten die Texte von Johannes Nollé und Hertha Schwarz: In gebotener Kürze, aber ausführlich genug skizzieren sie die Geschichte und Geschichten der im Bild vorgestellten Orte und erklären die Ruinen. So erhält das Fotoalbum den Charakter eines Handbuchs, ja eines Nachschlagewerks. Allerdings: Jedes Mal, wenn sie sich mit Anspielungen auf die Gegenwart auf humoristisches Terrain wagen, rutschen die Autoren unglücklich aus. So erfahren wir zum Palast von Pella (p. 17) atemberaubenderweise: „In ihm räkelte sich, wie wir aus dem neuen monumentalen Alexanderfilm wissen, Angelina Joly (sic!) alias Olympias, mit ihren Pythonschlangen.“ Die Besprechung der Orakelpraxis in Dodona (p. 43) gibt Anlass zu einem Seitenhieb auf eine „kämpferische Justizministerin“, welche nichtdeutsche Leser weder nachvollziehen noch lustig finden können. Und der Tiefschlag gegen die „unfehlbaren Intellektuellen unserer Tage“ (p. 71) ist nicht nur deplaziert, sondern schlichtweg diffamierend. Wer von solchen Fehlversuchen sowie einigen Unsauberkeiten im Lektorat abstrahieren kann, liest diese historische Geografie Griechenlands allerdings mit grossem Gewinn. Die Auswahl der vorgestellten Orte ist umfassend und repräsentativ (wenngleich sich an der Gewichtung da und dort etwas rummäkeln liesse); besonders instruktiv fand ich die Einleitungen zu den Regionen.

Wenn man diesem schönen Buch einen Vorwurf machen kann, dann den, dass es sein Potential nicht wirklich ausschöpft. Der Artikel über das Heraion von Argos (p. 140 f., allerdings mit falscher Angabe der Himmelsrichtungen) zeigt auf, welchen Verständnisgewinn eine sinnvolle Bildauswahl (Übersicht und Detail) mit präzise darauf abgestimmtem Text bringen könnte. Solche instruktiven Querbezüge sind leider selten; allzu oft stehen Bilder und Text ohne grossen Zusammenhang nebeneinander; Pläne oder andere erläuternde Informationen fehlen gänzlich. So sind es eigentlich zwei Bücher in einem, ein Augenschmaus von Bilderbuch und eine historische Geografie Griechenlands, und der Gewinn, der in ihrer Vereinigung hätte liegen können, wurde nicht realisiert.

Was tun? In den Bildern zu versinken und mit Dädalus über Griechenland zu schweben ist bereits ein Vergnügen für sich. Wer mehr will, greift mit Vorteil zu zusätzlicher Literatur, beispielsweise zu Reclams grossartigem Führer zu den antiken Stätten – oder geht surfen. Denn das Potential von Webressourcen für antikes Sightseeing ist gewaltig. Alles ist da: Google Maps gibt den geografischen Kontext der Stätten, Sites wie Metis oder die Wikipedia haben oft gute Pläne, Flickr liefert häufig hervorragende Fotos. Wie ein archäologischer Führer aussehen könnte, der auf diesen Schatztruhen beruht, versuche ich seit ein paar Wochen auf meinem zweiten Blog Periegetes zu zeigen. Vielleicht bleibt es beim Versuch, aber das wäre nicht schlimm; entscheidend ist, dass das Web den archäologischen Entdeckungsgeist nicht nur stimuliert, sondern auch nähren kann.


TECHNISCHES: Johannes Nollé und Hertha Schwarz: Mit den Augen der Götter. Flugbilder des antiken und byzantinischen Griechenlands; das Festland. Mit Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Philipp von Zabern 2005. ISBN 978-3-8053-3379-5