Freitag, 26. Februar 2010

Rückwärts-Leben

Glückliche Freiheit des Autors, des Regisseurs: Nicht nur können sie Figuren und Geschichten erfinden; wenn sie Lust haben, denken sie sich etwas aus, dass es gar nicht geben kann, und schauen dann, was passiert. So geschehen im letztjährigen Erfolgsfilm The Curious Case of Benjamin Button von David Fincher (den wir wegen Kinophlegma eben erst auf dem Bildschirm gesehen haben). Die Idee stammt von F. Scott Fitzgerald: Der Protagonist wird als alter Mann geboren, mit Falten und sterbensmüden Knochen, und während alle anderen altern, wird er jünger. Die Geschichte ist zunächst ein Vorwand dafür, verschiedene schöne Frauen, kantige Kerle und witzige Alte zu zeigen, zudem den überbordenden Südstaatendekor der Zwanziger Jahre und die Fortschrittsinfrastruktur der Nachkriegszeit. Aber es steckt mehr dahinter: Benjamins Rückwärts-Leben spiegelt sich im Vorwärts-Leben von Daisy, seiner stetigen Begleiterin von den Kinderspieltagen bis zum Grab. Und währenddem die gegenseitige Anziehung und Zuneigung die ganze Zeit spürbar ist, verbringen sie nur ein gutes Jahrzehnt als ein Liebespaar miteinander – die Zeit, in der Benjamins körperliches Alter seinen Lebensjahren entspricht. Es ist atemberaubend zu sehen, wie Brad Pitt die umgekehrt alternde Hauptfigur verkörpert: Da ist ein (in seiner Merkwürdigkeit) charmanter, zuvorkommender Mann, der jedoch immer ganz leicht neben den Schuhen zu stehen scheint. Als sich aber die Alterslinien seines Körpers und seiner Jahre annähern, da fällt alle Anspannung, alle Unsicherheit von ihm ab. Jetzt ist er bei sich selbst angekommen, und Pitt füllt diese schlafwandlerische Gelassenheit, dieses Mit-sich-im-Reinen-Sein, mit einer Selbstverständlichkeit ohnegleichen aus. Dann entfernt er sich wieder von diesem Schwebezustand und wird erneut zum Fremden im eigenen, immer jünger, immer kindlicher werdenden Körper.

Die beiden Rahmenhandlungen – Daisys Gespräch mit ihrer Tochter auf dem Totenbett und die Geschichte des blinden Uhrmachers Mr. Gateau, der für den Bahnhof von New Orleans eine rückwärtsgehende Uhr konstruiert – unterstreichen, worum es geht: um die Unausweichlichkeit des Alters, um die Brutalität des Alterns und Vergehens, aber auch um die Wichtigkeit, mit seinem Alter im Reinen zu sein. Mit seinen grossartigen Darstellerinnen und Darstellern (neben Pitt allen voran Cate Blanchett als Daisy und Taraji P. Henson als Benjamins Pflegemutter Queenie) ist dieser bemerkenswerte Film eine inspirierte und beflügelnde Parabel des Lebens.


Technisches: The Curious Life of Benjamin Button ist – wie es sich gehört – in allen Varianten und Formen von silbernen Scheiben erhältlich.

Samstag, 13. Februar 2010

Die Räuber

Ein schöner Zufall wollte es, dass Schillers Räuber wenige Monate, nachdem ich das Stück gelesen hatte, in Fribourg gezeigt wurden: von den Theatergastspielen Kempf im Rahmen von „Theater in Freiburg“. Ich war gespannt. Nach der Lektüre war mir alles andere als klar, wie dieses dichte, reiche Stück überhaupt spielbar sei. Regisseur Christoph Brück schaffte dies zunächst, indem er grosszügig strich, vor allem in den philosophischen Passagen. Ohne Hemmungen griff er auch in Schillers Sprache ein, glättete Widerspenstiges da und dort, fasste zusammen und formulierte um. Er nahm einen gewissen Verzicht auf Tiefe und Vielschichtigkeit in Kauf, um seine Figuren klarer, vielleicht auch klischierter zu gestalten. Das galt vor allem für Franz von Moor, dessen hinterhältige Schlechtigkeit einen komisch übersteigerten und so demaskierenden Zug gewann. Das galt für die in ihrem Liebesleid versinkende Amalia (was die Aufgabe für ihre Darstellerin Kerstin Dietrich noch undankbarer machte); das galt für den wilden Haufen der rauen Räuber. Bestechend klar erschien aber die Ambivalenz, das zerrissene Herz des Räuberhauptmanns Karl von Moor, von Julian Weigend intensiv dargestellt, ja gelebt. Karl ist ein moderner Held, von Widersprüchen geprägt und zugleich von feuriger Überzeugung. Er rückte damit entschieden ins Zentrum des Trauerspiels, welches zu seiner persönlichen Tragödie wurde. Er war es auch, der gegen Ende, in der ergreifenden Szene mit seinem totgeglaubten Vater, den Satz aussprach, der mich absolut umgehauen hat, der präzise die Essenz des Werkes formuliert: „Heute hat eine unsichtbare Macht unser Handwerk geadelt – (und jetzt wieder Brück) aber wir sind dennoch verloren.“ Karl von Moor, der in extremem Anspruch an sich selbst grösstmögliche Reinheit anstrebt, sucht das richtige Leben im falschen. Seine Tragik tritt in dem Moment offen zu Tage, in dem ihm dies bewusst wird. Die eigentliche Klimax ganz am Schluss des Stücks, die den tragischen Konflikt ausdekliniert und in der Kempfer Version ein noch illusionsloseres Ende findet, als es Schiller vorgesehen hatte; diese Klimax ist dann eigentlich nur noch Zubrot.


Technisches: Die Theatergastspiele Kempf touren mit den Räubern noch bis am 20. März und dann wieder nächstes Jahr durch die deutschsprachigen Lande. Zum Nachlesen und Vergleichen empfehlen sich wie immer Reclam oder Gutenberg.

[UPDATE: Einige Links gehen unwiderruflich ins Leere und wurden entfernt, derjenige zu Gutenberg repariert.]

Sonntag, 7. Februar 2010

Von den Altertümern

Mit dem Begriff Ἀρχαιολογία (Archaiologia) bezeichneten die Griechen ganz allgemein die Kunde aus alter Zeit, später auch die Untersuchung der Anfänge einer Kultur, der Vorgeschichte. Schleiermacher übersetzt das Wort bei seinem ersten uns bekannten Vorkommen in Platons Hippias Maior (285d) mit „Altertümer“, und darin klingt schon elegant die Bedeutung an, die uns heute vertraut ist: Die Archäologie ist die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der materiellen Substanz unseres geschichtlichen Erbes beschäftigt.

Und damit zu Hans Georg Niemeyers Einführung in die Archäologie, mit der ich, meinen guten Vorsätzen folgend, noch an Neujahr mein diesjähriges Lektüreprogramm in Angriff genommen habe. Das Buch datiert zwar (in dritter Auflage) von 1983, hat also die Fortschritte des letzten Vierteljahrhunderts nicht mehr mitgekriegt, aber das ist kein Unglück. Was es bietet, ist ein kurzgefasster, präziser und sehr gelehrter Überblick über die wissenschaftliche Disziplin Archäologie, und wenn da und dort methodisch oder definitorisch ein weniges nachzutragen wäre, bleibt doch alles Wesentliche gültig. Im Fokus des Buches steht das Objekt der Archäologie, die Denkmäler. Die klare und übersichtliche Darstellung beginnt mit ihrer Überlieferung, Wiedergewinnung und Beschreibung und führt über Kapitel zur Zeitbestimmung und zu Stil, Entwicklung, Struktur schliesslich zur Erklärung und Deutung. Das alles ist in jenem schönen literarischen Deutsch des klassischen Gelehrten abgefasst, das die Lektüre zu einem intellektuellen Genuss macht.

Von besonderer Dichte, Prägnanz und Eleganz sind einleitend die nur zwölf Seiten zur Geschichte der Archäologie als universitäres Lehrfach. Ihre Wurzeln liegen bekanntermassen im Klassizismus des 18. Jahrhunderts, verkörpert vor allen anderen durch den „Gründerheros“ J.J. Winckelmann. Neben der Wiederentdeckung der antiken Kunst (und ihrer Erhebung zum Ideal) verdanken wir ihm vor allem den Begriff der Entwicklung, der heute als Selbstverständlichkeit angesehenen Abfolge verschiedener Epochen und ihrer Stile. Die Etablierung der Archäologie an den Universitäten und damit als Wissenschaft in ihrem eigenen Recht wurde von klassischen Philologen betrieben, die als erste auf die neu errichteten archäologischen Lehrstühle berufen wurden und das Fach in seinen Anfängen entscheidend prägten. Mit den grossen Ausgrabungskampagnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in Mykene, Troia, Olympia, Delphi und anderswo) – und erst dann! – wurde die Archäologie zur Grabungswissenschaft und erweiterte gleichzeitig ihren Horizont von den römischen auf die bald in grosser Zahl zugänglichen griechischen Denkmäler. Die Betrachtungsweise blieb jedoch eine kunstgeschichtliche; erst deutlich im 20. Jahrhundert wuchs das Interesse an der materiellen Hinterlassenschaft der Antike im weiteren Sinn, womit auch der Verzicht auf die Idealisierung des Klassischen einher ging.

Archäologie und klassische Antike bleiben aber für Niemeyer untrennbar verbunden. Das wird auf den ersten Seiten des Buches deutlich, wo er die (oben kurz angedeutete) Begriffsdefinition zu einem programmatischen Bekenntnis nutzt: Da unser geschichtliches Erbe dasjenige der klassischen Kulturen des Mittelmeerraumes ist, ist die Wissenschaft, die sich mit den Denkmälern dieser Kulturen befasst, die Archäologie schlechthin. Alle anderen Archäologien benötigen ein charakterisierendes Beiwort. (Und Disziplinen wie der altamerikanischen Archäologie spricht er die korrekte Verwendung des Begriffs mit leichter Polemik gar ab, da es bei ihrem Studienobjekt nicht um ein lebendiges historisches Erbe gehe.) Diese Position ist mit Blick auf die Geschichte des Fachs unbestreitbar korrekt. Was mir übertrieben (und damit eben doch wieder klassizistisch) scheint, ist die Einschränkung des europäischen historischen Erbes auf die griechische und römische Antike. Die Mittelalterarchäologie mag zur Abfassungszeit der vorliegenden Einführung noch wenig etabliert gewesen sein; ihr Forschungsgegenstand ist für das Verständnis der abendländischen Gegenwart jedoch nicht weniger wichtig als die Antike. Und die vor- und frühgeschichtliche Archäologie ist stetig mit der äusserst komplexen Aufgabe befasst, solche Aspekte unserer Geschichte zu erhellen, die kaum durch literarische Überlieferung beleuchtet sind. Dass die verschiedenen Archäologien nicht scharf gegeneinander abzugrenzen sind und methodisch ohnehin alle voneinander profitieren, gesteht Niemeyer aber diskussionslos zu.

Die Einführung in die Archäologie war für mich eine ideale Einführung in die erneute Beschäftigung mit der Antike. Die klare Darstellung ihrer Methodik und Struktur wird mir als Leitfaden für die weitere Lektüre dienen.


Technisches: Hans Georg Niemeyer, Einführung in die Archäologie. Darmstadt, WBG 31983. ISBN 3-534-03962-9.

[UPDATE: Bei der Jungius-Gesellschaft und beim Projekt Gutenberg hat die Linkstruktur geändert...]