Samstag, 31. Dezember 2011

Dem enteilenden Jahr zum Andenken

Je mehr Jahre man erlebt, desto weniger fällt jedes einzelne ins Gewicht und desto flüchtiger erscheint es einem. 2011 war da keine Ausnahme, im Gegenteil: Die Beschleunigung bleibt konstant. Und während mir seine letzten Stunden durch die Hände fliessen, ohne dass ich mehr als einen gelegentlichen Zipfel davon zu erhaschen vermag, schaue ich zurück auf das Blogjahr 2011. Ein Blick nach rechts zeigt: Es brachte die magerste Ernte seit dem Beginn dieses Unterfangens vor bald fünf Jahren. Das hat zum einen oberflächliche Gründe, etwa den, dass ich endlich in aller Stille darauf verzichtet habe, das Abonnement der zunehmend langweilig gewordenen Weltwoche zu erneuern, weshalb die gelegentliche Schnellfeuer-Medienkritik hier im Blog weggefallen ist. Aber es gilt auch festzuhalten, dass ich 2011 weniger ins Theater gegangen bin als auch schon, und dass ich so wenige Bücher gelesen habe wie seit einigen Jahren nicht mehr. (Freilich ist der Unterschied fast noch im Zufallsbereich, und nächstes Jahr wirds wegen schwindender Zeitungslektüre eher wieder besser.) Vor allem aber hatte mich über unüblich lange Phasen die Blogunlust im Griff.

Ich berichte all dies mit der grösstmöglichen Gelassenheit. Auch im neuen Jahr werde ich den rechten Mittelweg zwischen Ehrgeiz und Vergnügen anzusteuern versuchen. Einen kleinen Vorsatz habe ich dennoch, was meinen Lesestoff angeht – oder sogar zwei. Meinem diesjährigen Ziel, in Sachen Archäologie mehr Konkretes zu lesen, bin ich mit zwei-drei Büchern leidlich gerecht geworden. Dabei lässt sich jedoch nicht abstreiten, dass ich mich eher im Bereich des populärwissenschaftlichen Bilderbuches bewegt habe. Es würde mir ohne Zweifel gut tun, wieder einmal etwas härtere Kost zu beissen; dickere Bücher, und solche, die Arbeit und Anstrengung erfordern. Das wäre dann Vorsatz Nummer eins, und Nummer zwei passt bestens dazu: Es ist einige Jahre her, dass ich zum letzten Mal mehr als ein paar Sätze Altgriechisch im Original gelesen habe. Bevor ich vollends alles vergesse, wäre es ein schönes Ziel, diese Kernkompetenz wieder etwas zu schärfen. Ich müsste dazu so einfach wie möglich einsteigen – das Neue Testament wäre ein Ansatz, oder vielleicht auch Lysias oder Lukian – und mich dann langsam nach oben tasten. Gewiss: Das ist bisher mehr eine löchrige Skizze als ein Vorsatz, und ich verspreche nichts, weder mir selber noch sonst jemandem. Aber die Idee ist doch schön, deshalb will ich sie hier festhalten.

Und damit uns allen ein besinnliches Jahresende und ein gutes Neues Jahr!

Mittwoch, 21. Dezember 2011

Poulet aux prunes

Von Marjane Satrapi kannte ich bisher nur Persepolis, ein Meisterwerk unter beiden Gestalten, Comic wie Film. Andere ihrer Graphic Novels standen seit langem auf meiner imaginären Liste von Büchern, die ich irgendwann gerne mal lesen würde; zum Beispiel Poulet aux prunes, die traurige Geschichte von dem iranischen Musiker, der seine Geige verloren hat und aus Kummer darüber sterben will. Jetzt ist mir die filmische Umsetzung zuvorgekommen: Wiederum hat Marjane Satrapi selber, zusammen mit Vincent Paronnaud, ihr Werk für die Leinwand adaptiert; dieses Mal allerdings nicht als Zeichentrick-, sondern als Realfilm mit illustrem Staraufgebot.

Und dann dies: Mathieu Amalric als Nasser-Ali, der Meistergeiger, spielt über weite Strecken reichlich hölzern; auch andere Figuren wirken klischiert, selbst die grosse Isabella Rossellini als Nasser-Alis Mutter bleibt seltsam blass. Viele Szenen haben nicht den richtigen Rhythmus, sind langfädig, oder noch schlimmer: schweben gewissermassen im Nichts, tragen zum Fortgang der Geschichte kaum etwas bei. Charakteristisch dafür sind die beiden Auftritte von Jamel Debbouze: Als skurriler Trödler, der eine Stradivari im Angebot hat, sowie als strubbelbärtiger Einsiedler, der aus dem Nichts am Grab von Nasser-Alis Mutter auftaucht, spielt er zweimal in erster Linie sich selbst – aber für die Entwicklung des Films sind beide Episoden kaum von Bedeutung. Es fühlt sich an wie aufdringliches Name-dropping: Schaut her, Jamel ist mein Freund, er spielt in meinem Film, sogar gleich zwei Mal, habt ihr ihn erkannt? Dazu kommen handwerkliche Mängel: Zum Beispiel erwarte ich gewiss nicht, dass der Darsteller des besten Violonisten seiner Zeit selber ein Virtuose ist; aber dass seine Bewegungen, wenn er spielt, mindestens einigermassen mit der gleichzeitig erklingenden Musik übereinstimmen, das ist doch nicht zuviel verlangt? Immerhin: Gegen Ende wird der Film besser. Da werden einige offene Fäden geschickt verknüpft, und wir entdecken das wahre, traurige Geheimnis in Nasser-Alis Leben, den eigentlichen Grund für seinen Wunsch zu sterben. Das ist stimmig und sehr berührend, wenn auch vieles von dieser Berührung durch reichlich Druck auf die Tränendrüse erzeugt wird und wir vom Kitsch nicht mehr fern sind.

Ich habe den Eindruck, dass Marjane Satrapi richtiggehend in Comics denkt und lebt. Dies würde Stärken und Schwächen dieses Films erklären wie beispielsweise den relativ penetranten allwissenden Erzähler (dessen Identität gegen Ende elegant aufgedeckt wird). Konsequenterweise überrascht es denn auch nicht, dass ihr eigentliches Talent überall dort aufblitzt, wo der Film zum Trickfilm wird – wo gezeichnete Szenen sich zwischen die realen schieben, wo schräge Vor- und Rückblenden die tollkühnsten Assoziationen auslösen. Als Nasser-Ali, inspiriert von Sokrates, ein paar gewichtige letzte Worte an seine Kinder richten will und das feierlich aufgebaute Pathos mit pythoneskem Witz ruiniert wird, haben wir Tränen gelacht. Und der Vorspann mit seinen schlichten Schattenfiguren war überhaupt reine Poesie. Dieses Timing, diese Kreativität fehlen grossen Teilen des Films. Und man würde sich wünschen, dass Satrapis nächstes Werk wieder etwas näher am Trickfilm wäre.


Technisches: Poulet aux prunes startet am 29.12. in den Deutschschweizer Kinos.

Samstag, 10. Dezember 2011

KKQQ

KKQQ von der 2bcompany im kleinen Saal von Nuithonie, das sind: links drei Übersetzerkabinen aus hellem Holz mit Fenstern vorne und seitlich, rechts oben hängend drei Leinwände, vorne auf der Bühne ein Tisch und ein paar andere Requisiten. In den Kabinen sitzen zwei Frauen und ein Mann mit Headsets auf dem Kopf; sie blicken in ihr MacBook oder lesen, gelegentlich hört man sie gedämpft reden oder singen. OK. Dann gehen die Projektoren an; auf den Leinwänden erscheinen die gleichen drei in ihren Kabinen und formen mit Zetteln mehr oder weniger synchron eine Begrüssungsbotschaft, während gleichzeitig in den Kabinen die individuelle Beschäftigung weitergeht. Plötzlich stürmt eine der Frauen, den Computer in den Händen, aus ihrer Kabine auf die Bühne, grüsst, nimmt Anlauf, hechtet über den Tisch, schmeisst einen Plastikchristbaum in Richtung Kabine, hechtet wieder zurück, klatscht die Wände ab, schmeisst wieder, schreit und keucht dabei als wäre sie auf einem Schlachtfeld. Nun gut. Dann kehrt sie zurück in die Kabine, und auf den Leinwänden entspinnt sich mit quiekenden Stimmen ein absurder Dialog über Kaffee beziehungsweise dass und wie man sich diesen doch sonst wohin stecken sollte.

So geht das noch ein Weilchen weiter, auch die zweite Frau kriegt etwas Auslauf, schmeisst ihrerseits Bücher, es wird ein bisschen falsch gesungen. Experimentelles Theater halt. Doch dann, die angekündigten 45 Minuten sind schon recht fortgeschritten, fällt endlich der Groschen: Was ich hier sehe, ist eine ausgeklügelte, durchchoreografierte Collage aus real und Konserve, aus live und zeitversetzt. Die Szenen auf den Leinwänden sind die gleichen, die wir eben in den Kabinen gesehen haben, nach Bedarf beschleunigt und zusammengeschnitten, und die real ablaufenden Vorgänge treten aufs Raffinierteste in Dialog mit den Filmen. Jetzt macht aufs Mal auch das Geschmeisse endlich Sinn: In einer herrlichen, mit „remplissage de tête“ betitelten Sequenz erscheint des Mannes Kopf gross auf der mittleren Leinwand und wird von links und rechts mit Christbäumen, Büchern und hechtenden Frauen abgefüllt. Für den Rest des Stücks läuft mein Kopf auf Hochtouren, um mit massiv parallelem Hinsehen die Querbezüge zu bemerken und aufzulösen.

So pubertär wie sein Titel, so schräg bleibt KKQQ bis zum Schluss; die Absurdität der Texte und Lieder, soweit ich sie verstehe, ist kaum zu toppen. Doch eine Aussage, ein Interpretationsansatz wird klar: Und wenn sich Kunst gar nicht in Gattungen aufteilen liesse wie die Ware beim Metzger? Wenn ein Theater auch ein Film, ein Film auch ein Gemälde sein könnte, und zwar gleichzeitig, je nach dem, wie man darauf blickt? Wenn sich ein Bühnenkunstwerk nicht nur in den bekannten drei Raum- und der einen Zeitdimension abspielen würde, sondern darüber hinaus Zugang hätte zu einer fünften Dimension, in der es mit sich selber interagieren könnte? Viel mehr als eine Performance ist KKQQ ein Labor, eine Petrischale gigantischen Ausmasses, in welcher allerlei Sporen ins Kraut schiessen, miteinander verschmelzen, Hybriden und Chimären bilden und die herkömmliche Lehre sanft in Frage stellen.


Technisches: Nach dem Studium der Website scheint mir, dass die Stücke der 2Bcompany wohl als work in progress zu kategorisieren sind – an einigen sind sie schon mehrere Jahre dran. So ist zu erwarten, dass sich die eine oder andere Gelegenheit noch bieten wird; als nächstes im März und April in Vidy.

Sonntag, 4. Dezember 2011

Annuntio vobis gaudium magnum

Welch ein Fest für Bühnen- und Kostümbildner: Die Sixtinische Kapelle galt es nachzubauen, die Fassade des Petersdoms, dazu majestätische Innenhöfe und reiche Säle; dann waren hundertzwanzig Kardinäle zu bekleiden (komplett mit Soutane und Talar inklusive Rochett), weiteres kirchliches Personal in Samt, Seide und Brokat sowie natürlich die Schweizergarde. Nanni Morettis Film Habemus Papam spielt im Vatikan und schwelgt deshalb unweigerlich im katholischen Prunk. Die Geschichte beginnt mit dem Begräbnis des Papstes und dem feierlichen Einzug der Kardinäle ins Konklave. Da sich in den ersten Wahlgängen drei Spitzenkandidaten gegenseitig neutralisieren, einigt man sich auf einen Kompromisskandidaten, den scheuen, gütig lächelnden französischen Kardinal Melville (Michel Piccoli). Doch als dieser auf der Loggia des Petersdoms den Gläubigen präsentiert werden soll, lähmt ihn ein jäher Panikanfall. Der Balkon bleibt leer.

Im ganzen minutiösen Protokoll ist eine solche Situation nicht vorgesehen. Entsprechend verstört improvisieren die Verantwortlichen. Immerhin organisieren sie psychologischen Support und fliegen zunächst den Psychiater Brezzi (Nanni Moretti selber) ein, den besten seiner Zunft, wenden sich dann auch noch an dessen Kollegin und Exfrau (Margherita Buy). Doch damit kommen sie vom Regen in die Traufe: Auf dem heimlichen Ausflug in deren Praxis büxt der Papst aus und taucht in Rom unter.

Von da an verfolgt der Film zwei parallele Stränge: einen grotesken (die Langeweile im end- und aussichtslosen Konklave) und einen feinsinnigen (die Reise des Papstes zu sich selbst). Ersterer ist reichlich schwerfällig. Moretti spielt seinen Psychiater so gestelzt-klischiert, dass es ein Graus ist; auch die Gespräche zwischen dem atheistischen Wissenschaftler und der katholischen Hierarchie sind kalter Kaffee. Und dass die Kardinäle zu Todo cambia von Mercedes Sosa zu tanzen beginnen, sollte wohl poetisch sein, ist aber eher peinlich. Grossartig hingegen ist der fünfundachtzigjährige Michel Piccoli als sinnsuchender Papst. Seine Irrfahrt durch Rom sorgt im zweiten Erzählstrang für Faszination und Leichtigkeit. Und als er schliesslich wieder auftaucht, ist er bereit, auf den Balkon zu treten, und weiss, was er dort sagen will.

Wer giftige Kirchenkritik erwartet hat, sieht sich auf den ersten Blick enttäuscht. Der Zweihänder ist Morettis Sache nicht. Das Florett jedoch schon: In kleinen Anspielungen sind da und dort feine, treffsichere Spitzen versteckt. Omnipräsent ist Johannes Paul II – Piccolis geheimer Ausflug erinnert an seine klandestinen Fluchten aus dem Vatikan, und der polnische Pressesprecher ist ein charmanter Seitenhieb gegen die seinerzeit installierte Polen-Connection. Auch dass der Papst eigentlich hätte Schauspieler werden wollen, ist unschwer als Referenz an den Schauspielschüler Wojtyla zu erkennen. Die journalistischen Vatikan-Watcher kriegen beim Beobachten und Interpretieren des Rauches aus dem Konklave souverän ihr Fett ab. Geradezu bösartig wird der Euro- und Italienzentrismus der katholischen Kirche aufgespiesst: Dass die Kardinäle aus Ozeanien beim Konklave-Volleyballturnier nur eine Rumpfmannschaft bilden, währenddem die Italiener gleich mehrere Equipen bestücken könnten, trifft den Nagel auf den Kopf und ist giftiger als viele Statistiken. Michel Piccoli schliesslich erinnert nicht nur physisch an den unprätentiösen Querdenker Johannes XXIII und an den lächelnden Papst Johannes Paul I. Dass jedoch ein so unscheinbarer, scheuer und gütiger Mann heute noch auf der unerbittlichen kirchlichen Karriereleiter bis ins Heilige Kollegium aufsteigen und – wenn auch als Kompromisskandidat – zum Papst gewählt werden könnte, halte ich für eine zwar nostalgische, aber reichlich abwegige Idee.


Technisches: Habemus Papam von Nanni Moretti kommt sinnigerweise an Mariä Empfängnis in die Deutschschweizer Kinos. Eine schöne Besprechung hat Antje Schrupp in ihrem Blog veröffentlicht.