Sonntag, 21. September 2008

Novecento

Es sei ein Text irgendwo in der Schwebe zwischen einer tatsächlichen Inszenierung und einer Erzählung, die laut gelesen werden sollte, schreibt Alessandro Baricco über sein Stück „Novecento. Un monologo“. Wenn man das schmale Bändchen in den Zug mitnimmt, muss man sich beim lauten Lesen etwas zurückhalten – aber das schadet nicht unbedingt. Das Essenzielle spielt sich ohnehin im Kopf ab. Welche Inszenierung wäre denn in der Lage, in den kurzen Ragtime-Einspielungen die Faszination des besten Pianisten der Welt zu vermitteln, Danny Boodmann T. D. Lemon Novecento? Und welches Theater könnte die leicht schwankenden Planken des Ozeandampfers Virginian spürbar machen? Die Virginian ist Novecentos Welt, und das ist keine Floskel: Auf diesem Schiff wurde er geboren, in der dritten Klasse, auf der Auswanderer-Überfahrt nach Amerika; dort wurde er in einer Zitronenkiste liegen gelassen und vom Matrosen Boodmann gefunden; und seiner Lebtag hat er das Schiff nie verlassen. Kein Bedürfnis: Wenn er reisen wollte, reiste er im Kopf. So wie ihm die Begrenzung des Klaviers auf 88 Tasten das Spiel überhaupt ermöglichte, war ihm die Begrenzung seiner Welt Vereinfachung. Novecentos Leben spielte sich ab im Rhythmus der Ozeanpassagen, der drei bis vier täglichen Auftritte mit der Band der Virginian, im Ballsaal der ersten Klasse, in der zweiten und von Zeit zu Zeit auch in den stickigen Quartieren der dritten.

Die LiteraturkritikerInnen gruppieren sich offensichtlich an den Extremen der Bewertungsskala. Während die einen sich beim Lesen „göttlich“ fühlten und in Novecento „eine der grossen europäischen Geschichten“ erkannten, hielten andere den Monolog für weltloses Prosa-Gespinst” oder „eben doch Kitsch“. Ich gestehe, dass ich das Buch bei Feltrinelli in Florenz in erster Linie deshalb gekauft habe, weil es mit seinem Umfang und seiner Sprache in meiner Reichweite bezüglich italienischer Literatur lag. Und ich füge gerne dazu, dass mir diese leidenschaftslose Lektüreauswahl ein grosses Lesevergnügen beschert hat. Die genialischen Begabungen, die Gewalt der Musik, die Begrenzungen und die Grenzenlosigkeit, die Welt der Ozeanriesen, das kennen wir alles schon, klar; die Fabel ist nicht wirklich überraschend. Aber dies ist kein Roman, kein austariertes Philosophiegebäude. Es ist ein Monolog, eine simple, fast spielerische Erzählung. Es ist die fantastische Geschichte von Novecento, und sie lebt von einzelnen Bildern – wie von dieser wunderbaren Szene: Als der Erzähler, Trompeter der Band, auf seiner ersten Traverse im rauen Seegang durch den Flur torkelt, liest ihn Novecento zusammen, führt ihn in den Ballsaal, lässt ihn die Bremsen des Flügels lösen, setzt ihn auf die Klavierbank, lässt den Flügel mit den Wellen tanzen und tanzt selber spielend mit durch den Saal.


Zwei Fussnoten: Das mit der Inszenierung scheint nicht unmöglich zu sein: 1998 wurde die Geschichte unter dem Titel La leggenda del pianista sull'oceano verfilmt, die Musik von (immerhin) Ennio Morricone erhielt begeisterte Kritiken.

Und die deutsche Übersetzung von Novecento war verwickelt in einen skurrilen Rechtsstreit: Nach dem unerwarteten Erfolg von Seta verlangte die Baricco-Übersetzerin Karin Krieger vom Piper-Verlag eine angemessene Erfolgsbeteiligung. Als Reaktion darauf wählte der Verlag für die zweite Auflage von Novecento eine andere Übersetzung und nahm Kriegers Version vom Markt. Erst vor Oberlandesgericht konnte die Übersetzerin durchsetzen, dass ihr Werk weiterhin zu erscheinen hatte und angemessen bezahlt wurde. Interessanter Nebeneffekt ist die seltene Situation, dass somit von einem zeitgenössischen Werk mehrere deutsche Übersetzungen verfügbar sind.


TECHNISCHES: Alessandro Baricco, Novecento. Un monologo. Universale Economica Feltrinelli 1994. ISBN 978-88-07-81302-3. Die deutsche Version ist zur Zeit unter dem Titel „Novecento. Die Legende vom Ozeanpianisten“ bei dtv erhältlich, ISBN 978-3423134576.

Samstag, 20. September 2008

Gruss aus Rimini

Eine neue CD von Patent Ochsner ist immer wie Weihnachten und Ostern zusammen. Zwei-drei Jahre lang hat Büne Huber wieder Sprachbilder gesammelt, Metaphern gehäuft, Melodien gefunden und erfunden; dann haben Ochsners all das zusammengesetzt, hier etwas Posaune eingefügt, da etwas Chorgesang, ab und zu einen kleinen Witz; Huber wieder hat eine Verpackung designt, ein Kunstwerk von eigenem Rang; und schliesslich ist das Resultat im Laden erhältlich: The Rimini Flashdown. Gekauft, geöffnet, in den Player geschoben, und da ist er, der Ochnser-Sound. Besprechungen von Ochsner-CDs heben normalerweise hervor, dass die Band gleich tönt wie immer. Stimmt. Eben deshalb kaufe ich jedes neue Album, sobald es in die Regale kommt. Weil ich genau diesen Sound liebe und sonst nirgends kriege. Weil es ein Glück ist, statt bisher hundert Lieder dieser Art plötzlich hundertzwanzig zu haben. Weil sich Patent Ochsner für mich nicht neu zu erfinden brauchen: Sie haben sich bereits erfunden, weitere Ansprüche habe ich nicht. Und dass der Untertitel „Part One“ heisst, dass mithin eine Trilogie geplant ist, lässt mich hoffnungsvoll in die Zukunft blicken.

The Rimini Flashdown gehört zu den besseren Ochsner-Scheiben. An die musikalische und inhaltliche Geschlossenheit und Stimmigkeit von Gmües (1994 – für mich weiterhin ihr Meisterwerk) kommt sie nicht ganz heran, aber die Perlendichte ist hoch: das fetzige „Chäuer“, das melancholische „Blue September“, das gemächlich schaukelnde „Rimini“ und natürlich das grossartige „Globetrotter“. Dieses Lied nistet sich schon nach Sekunden im Innenohr ein und schiesst dann via das Stammhirn in sämtliche Glieder. „d wäut isch es wunger / bi drüber & drunger / sie ... verschlat eim d schprach“, singt Büne Huber. Und das kurze Atemholen, dieser halbe Moment Pause vor der dritten Zeile, lässt mein Herz höher schlagen und mich zugleich sprach- und atemlos zurück.


TECHNISCHES: Patent Ochsner, The Rimini Flashdown. Universal Music 2008.

Freitag, 12. September 2008

Tais-toi!

Zunächst, als Vorgeschichte, ein paar Worte zum Zeitungswesen in Griechenland: Dort werden Tageszeitungen kaum (wie bei uns) im Abonnement, sondern vor allem am Kiosk verkauft. Entsprechend kreativ sind die Verlage, wenn es darum geht, die potentiellen Käufer mit Gadgets und Aktionen aller Art zum Kauf eines ihrer Produkte zu bewegen. Der Gipfel dieser Propaganda wird am Sonntag erreicht: Der Käufer einer Sonntagszeitung trägt in der Regel einen kiloschweren, in Plastikfolie eingeschweissten Stapel nach Hause, aus dem er neben der Zeitung als solcher allerlei gesonderte Faszikel zu Wirtschaft (in Financial-Times-Rosa, bitte sehr), Kultur und Wissenschaft, das Fernsehprogramm, ein farbiges Magazin auf Hochglanzpapier, gelegentlich ein Buch oder eine CD und jedes Mal eine oder mehrere Filme entnimmt. Und weil ich letztes Mal in Athen nach der Ankunft am Sonntag unbedingt das (absolut zu Recht) preisgekrönte Zeitungsdesign des Eleutheros Tipos begutachten wollte, trug ich auch drei DVDs nach Hause: Ein paar Episoden der griechischen Satiresendung Al-Tsandiri News, ein italienisches Familiendrama mit Monica Bellucci und eine französische Komödie. Als wir uns dann neulich eines Abends gerne vor dem Bildschirm etwas intelligent zerstreuen wollten, das Kabel aber nichts entsprechendes lieferte, besann ich mich dieses Geschenks; wir wählten französisch und kamen in den unerwarteten Genuss von Tais-toi.

Quentin, Einfaltspinsel, Nervensäge und Kleinkrimineller, und Ruby, schweigsamer Profi mit Rachedurst im Herzen und 200 Millionen im Versteck, begegnen sich in einer Knastzelle, und weil Ruby nicht wie alle anderen Quentins Logorrhoe nach zehn Minuten mit Fäusten beantwortet, erklärt ihn dieser umgehend zu seinem Freund. Der Rest – Verlegung in die Psychiatrie, Ausbruch, Katz-und-Maus-Spiel mit dem skrupellosen, arschgesichtigen Vorbesitzer der 200 Millionen, und alles in dieser infernalen Zweierbesetzung – ist eine durchaus konventionelle Krimikomödie. Aber die Gags kommen trocken und ohne Federlesens, die Wendungen und Zufälle der Story bleiben bei allem Irrsinn immer logisch und stringent, ja genial; Gérard Depardieu ist als minderbemittelter, herzensguter Gauner urkomisch und berührend zugleich, und mit Jean Reno hat er einen idealen hassliebenden Partner (« T’iras au paradis avant les autres, car plus simple d’esprit je connais pas ! »). Wir haben herzlich gelacht: Tais-toi war pures, kurzweiliges, unbeschwertes Amüsement.

Sonntag, 7. September 2008

Bei Grandson das Gut

Karl der Kühne ist, so lernten wir schon in der Schule, eine Schlüsselfigur der ausgehenden Mittelalters. Der militärische Sieg der Eidgenossen über das renommierte burgundische Heer war ein Ereignis von mythenbildender Kraft, und ebenso mythisch waren die Reichtümer, die den Eidgenossen bei Grandson mehr in die Hände fielen als tatsächlich erobert wurden. Dies gilt besonders für den Stand Bern, der in den Auseinandersetzungen mit Burgund eine führende Rolle gespielt hatte, der beim Zank um die Beute die geschicktesten Entscheidungen traf und der aus diesem Ereignis Renommee und Legitimation bezog. Und immer noch bezieht, ist man versucht anzumerken, wenn man die Ausstellung „Karl der Kühne“ im Bernischen Historischen Museum gesehen hat – eine Schau der Superlative, ein multimedialer Ausstellungsevent, eine jener Grossproduktionen, die im internationalen Ausstellungbusiness zurzeit den Standard darzustellen scheinen. Denn zuallererst ist diese Ausstellung eine Schatzkammer mit dem Berner Anteil der Burgunderbeute im Mittelpunkt. Die in jeder Hinsicht monumentalen Tapisserien werden natürlich gezeigt, daneben weitere Meisterwerke der burgundischen Hofkultur, wobei die tatsächlich beeindruckenden Berner Bestände klug ergänzt sind um gewichtige Leihgaben aus ganz Europa. Besonders Wert gelegt wird auf die gegenseitige Durchdringung von Malerei, Bildhauerei, Teppichweberei und Grafik, auf die in Burgund vereinigten Kunstuniversen von Flandern und Italien.

Geblendet von der schieren Pracht und Menge der Schätze, entdeckt man jedoch weitere, weniger offensiv vermittelbare Aspekte. Zu nennen sind hier zunächst die instruktiven Ausführungen zur Hofhaltung und zur modernen Verwaltungsbürokratie, für die Karl der Kühne wesentliche Geburtshilfe geleistet hat. Riesig ist die Zahl der Höflinge und unterhaltsam ist die Aufzählung ihrer Titel: Über tausend Leute standen auf der säuberlichen Lohnliste des burgundischen Hofes.

Zu besonderer Hochform läuft die Ausstellung da auf, wo sie den Prunk der Objekte zur Vergegenständlichung der politischen und psychologischen Bildersprache verwendet. Dargestellt ist dies in der grossen Eingangshalle der Ausstellung am Beispiel des Trierer Fürstentages von 1473, dem diplomatischen Treffen, welches Karl die Königskrone und seiner Tochter Maria den habsburgischen Thronerben Maximilian hätte verschaffen sollen. In Trier kamen dazu die mobilen Höfe des römischen Kaisers und des burgundischen Königs sowie mehrere Kurfürsten zusammen. Das diplomatische Protokoll jener Zeit regelte die Details eines solchen Rituals; jegliche Verstösse dagegen wurden aufmerksam registriert, positiv oder negativ interpretiert, und beeinflussten das weitere Vorgehen. So scheint sich Karl mit seiner massiven Prunkdemonstration keinen Dienst erwiesen zu haben; letztlich scheiterten seine Ambitionen auf den Königsthron, wenn er auch seine Tochter tatsächlich mit Maximilian verheiraten konnte. (Einige berührende Briefe aus der privaten Korrespondenz des Paares sind ebenfalls ausgestellt.)

Im letzten Teil der Ausstellung liegt der Fokus dann auf den Kriegen. Das ist weniger traditionelle Schlachtengeschichtsschreibung als vielmehr Erinnerung daran, dass während des Grossteils der menschlichen Geschichte Kriege und Schlachten eine dauernde Realität waren und dass die überschüssigen Hormone des männlichen Jungvolks ohne Umstände in Freischarenzüge und andere Scharmützel und Brutalitäten münden konnten. Erinnerung daran auch, dass ein Herrscher gewaltigen Prunk als mobile Palastausstattung mit sich führte, damit er zu jedem Zeitpunkt seine Herrschaft demonstrieren konnte. Und damit schliesst sich der Kreis zu jener mythischen Kriegsbeute, die nicht nur die Eidgenossen des 15. Jahrhunderts, sondern auch uns heutige noch blendet.


TECHNISCHES: Die Ausstellung ist in Bern bereits wieder vorbei. Sie lässt sich jedoch vom 27.3. bis am 21.7.2007 im Groeningemuseum in Brügge bewundern; danach reist sie weiter ins Kunsthistorische Museum Wien. Der reichhaltige Katalog ist im Verlag Neue Zürcher Zeitung erschienen.