Donnerstag, 31. Dezember 2009

Gute Vorsätze

Ein paar Stunden vor dem Jahreswechsel quetsche ich hier noch Blogpost Nummer 53 rein – einer pro Woche war das, ausserordentlich gleichmässig über das ganze Jahr verteilt. Das freut mich, macht mich ein klein wenig stolz und ist eine anspruchsvolle Vorgabe für die kommenden Jahre. Ob ich diesen Wert je wieder erreichen werde? Und damit zur Planung und zu den guten Vorsätzen für 2010. Drei an der Zahl sind es im kulturellen (und damit blogrelevanten) Bereich. Der erste ist bereits aufgegleist und finanziell abgesichert: Aus dem letztjährigen Weihnachtsgeschenk haben wir uns ein Kinoabo besorgt, womit dafür gesorgt sein sollte, dass hier die Rubrik Film wieder regelmässiger gefüllt ist. Der zweite Vorsatz: Nach dreieinhalb Jahren in Fribourg und einem ersten Wohnungswechsel daselbst würde ich mich gerne noch intensiver in die hiesige Kultur einklinken. In Nuithonie gibts durchs Band und vermutlich weitgehend gefahrlos Überraschendes zu entdecken; die altstädtischen Kleintheater Kellerpoche und Théâtre de la Cité bieten Bühnenkunst im intimen Rahmen; und als Angehöriger einer sprachlichen Minderheit müsste ich alles Interesse daran haben, die entsprechende Theaterkultur am Leben zu erhalten, konkret das Theater in Freiburg. Der dritte Vorsatz bezieht sich auf meine hier auch schon geäusserte Klage darüber, dass mir meine altertumswissenschaftlichen Studienfächer acht Jahre nach dem Liz inzwischen so ziemlich abhanden gekommen sind. Dem möchte ich mit einer gewissen Systematik entgegenwirken, indem ich mir aus meiner kürzlich entsprechend erweiterten Bibliothek ein paar Grundlagenwerke und Einführungen zum Studium vornehme – so eine Art Neuanfang fünfzehn Jahre danach. Darauf lässt sich dann hoffentlich mit weiterer Lektüre aufbauen.

So viele Vorsätze, und nur dreihundertfünfundsechzig Tage Zeit… Als Trost und Ermutigung mag die Erinnerung dienen, dass ich gerade dann befriedigend viel zu Stande bringe, wenn ich mir sehr vieles vorgenommen habe.

Montag, 28. Dezember 2009

Unglaubliche Wissenschaft

Beim traurigen Totalausverkauf in der Buchhandlung Lindwurm Anfang Jahr bin ich auf das Buch Unglaubliche Wissenschaft von Lewis Wolpert gestossen und habe es gekauft – auch als Andenken an den Laden, in dem ich während Jahren meinen Bedarf an wissenschaftlicher Literatur gedeckt hatte. Wolpert ist Entwicklungsbiologe und Wissenschaftsphilosoph. Sein Buch geht von der Feststellung aus, dass viele, auch durchaus intelligente Menschen grosse Mühe haben mit Mathematik und Naturwissenschaften. Das ist kein Zufall, sagt Wolpert. Entgegen der verbreiteten Meinung hat Wissenschaft mit Common Sense, mit Intuition und gesundem Menschenverstand wenig zu tun. Vielmehr laufen viele naturwissenschaftlichen Erkenntnisse und Erklärungen dem gesunden Menschenverstand geradezu zuwider. Dieser spielt jedoch im Bereich der Technik und der Erfindungen eine grosse Rolle, die – wiederum entgegen der in Zeitschriftentiteln und anderswo perpetuierten Meinung – mit Wissenschaft ihrerseits oft nichts zu tun haben. Oder genauer: Um ein technisches Problem zu lösen, muss ich die Physik oder Chemie dahinter nicht verstehen; es reicht, wenn die Lösung funktioniert. Entsprechend wurden viele wichtige Erfindungen von ausgesprochenen Praktikern gemacht; ihre Arbeitsweise hat mit Wissenschaft wenig zu tun.

Ausgehend von dieser Beobachtung führt Wolpert dann durch einen hochstehenden und leicht lesbaren Rundgang durch die Geschichte, Soziologie und Methodik der Wissenschaft; durch ihre Entstehung im Ionien des 8. vorchristlichen Jahrhunderts, durch ihre konstituierenden Elemente wie Kreativität und Konkurrenz, aber auch an ihre Grenzen. Mit dem Paradox des Einstiegs hat er mich leicht gekapert und dann magistral mitgenommen. Ich recycliere gerne eine Formel, die hier auch schon gefallen ist, die vom „Katalysator fragmentierten Halbwissens“: Der in Mathematik, Physik, Chemie, Biologie und Wissenschaftsphilosophie gymnasial grundgebildete Leser erhält von Wolpert einen Überblick über das Wesen der Wissenschaft, der ihn gezielt abholt, dabei aber nicht als Handbuch auftritt, sondern vielmehr als hochgelehrte Causerie (der Ursprung als Vorlesung ist dem Text anzumerken). Und ganz zum Schluss, als er auf die Ethik der Wissenschaft und die Verantwortung der Wissenschaftler zu sprechen kommt, ist Wolpert von schneidender Überzeugung, prägnant und elegant.

Als Geisteswissenschaftler frage ich mich natürlich nach der Definition von „Wissenschaft“, die Wolpert verwendet. Er präzisiert sie nicht, verwendet den Terminus aber im Sinn einer theoriegetriebenen Wissenschaft und scheint damit ausschliesslich die Naturwissenschaften (die englischen sciences) zu meinen. Ob dies auf die Übersetzung zurückzuführen oder schon im englischen Original enthalten ist, weiss ich nicht; es ist aber jedenfalls verwirrend, denn ob der inhaltlichen Stringenz des Buches stellt sich mir die Frage, wie es denn um die Wissenschaftlichkeit der Geistes- und Sozialwissenschaften steht. Sie haben in Wolperts Darstellung keinen Platz. So muss ich zum Schluss der Lektüre sagen, dass ich vieles verstanden, aber noch mehr zu verstehen habe.


Technisches: Lewis Wolpert, Unglaubliche Wissenschaft. Aus dem Englischen von Werner Bartens. Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2004. ISBN 3-8218-4547-3. Das englische Original ist unter dem Titel „The Unnatural Nature of Science“ 1992 bei Faber and Faber in London erschienen.

Donnerstag, 10. Dezember 2009

Bürger in dem Lande Theben! Sehet, dieser Ödipus…

Neben Jocaste Reine wird im Théâtre des Osses auch das leuchtende Vorbild gegeben, die Matrize gewissermassen, von der Nancy Hustons Drama ein weiterführender Abdruck ist: Sophokles’ König Ödipus. Ich bin auch nach Jahren noch jedes Mal wieder absolut hingerissen von diesem Stück: von der Raffinesse, mit der Sophokles einen komplexen und vielgegliederten Mythos in knapp anderthalb Stunden kulminieren lässt; von seiner Dramaturgie, die diese Kulmination in absolut logischer Folge sich entwickeln lässt; von der Meisterschaft, hinter dem kriminalistischen Plot einen Reichtum des Stoffes, der Anspielungen und der Deutungsansätze zu entfalten. Die Inszenierung von Gisèle Sallin schält die Nervosität des Ödipus heraus: René-Claude Emery kommt zwar zu Beginn ganz königlich daher, aber wir merken nach wenigen Minuten, dass es in seinen Adern brodelt; und schon bald bricht es lautstark aus ihm hinaus. Emery schreit viel an diesem Abend, vielleicht etwas zu viel, aber es ist eine nackte, kaum gebändigte Verzweiflung, die sich so bemerkbar macht. Seine ungeklärte Herkunft verfolgt den König viel mehr, als er das möchte. Deshalb wohl rückt er seine Intelligenz immer eine Nuance zu stark in den Vordergrund – gerade so, dass wir merken, wie sehr er sie braucht, um an ihr seine Person aufzurichten. Die übrigen Figuren, fast nur Statisten in dieser Spürjagd eines Getriebenen, sehen aus wie Lumpensammler in ihren zusammengeflickten, wild kombinierten Kleidern. Alles ist erdfarben; eine feine Staubschicht legt sich über Gesichter, Körper, Kleider und die ganze schlichte, fast nackte Bühne: Theben ist im Ausnahmezustand, die Pest schlägt Stadt und Bewohner nieder. Leiden und Erschöpfung bilden den Hintergrund dieser Geschichte, in den sich je länger, desto mehr das blanke Entsetzen mischt. In einem ausführlichen, für uns Heutige nach der intensiven Dramatik des ersten Teils überlangen Trauergesang beweint Ödipus zusammen mit dem Chor sein grausames Schicksal. Ganz am Schluss dringt durch das Elend sichtbar das Leben durch. Schweiss und Wärme und Hauch haben da und dort einen Flecken Staub von den Gesichtern abgewaschen. Die Lähmung fällt ab, die göttliche Ordnung ist wieder hergestellt. Auch das gehört zu diesem Stück, gehört ganz wesentlich zu Sophokles.

Oedipe Roi zu sehen, bedeutet wahrhaftig – in Aristoteles’ WortenMit-Leiden und In-Schrecken-versetzt-Werden. Mit-Leiden mit dem grossen Geschlagenen Ödipus, der von sich selber später sagen wird: „Ich habe meine Taten mehr erlitten als verübt.“ In-Schrecken-versetzt-Werden durch das brutale Scheitern jenes so ur-menschlichen Bedürfnisses des Wissen-Wollens, des Erklären-Wollens, des Verstehen-Wollens um jeden Preis. Denn damit geht die Selbstüberschätzung einher, die Verabsolutierung der menschlichen Intelligenz. Das ist die Aktualität dieser Tragödie, die über das Theben des Mythos, über das Athen des 5. Jahrhunderts weit hinausgeht und den Menschen so lange betreffen und erschüttern wird, wie ihm dieses Menschliche eigen ist.


Technisches: Wer sich beeilt, schafft es gerade noch, Oedipe Roi im Studio des Théâtre des Osses in einer Zusatzaufführung zu sehen.

Freitag, 4. Dezember 2009

"Unabhängige" Parteipresse

In letzter Zeit wäre die Weltwoche mehrfach für einen Blogpost gut gewesen. Da reiste Christoph Blocher nach Nordkorea und durfte in seinem Hoforgan nicht nur einen Reisebericht schreiben, sondern gleich noch die daraus (in einer einzigen Nacht) inspirierte neue Strategie für die Schweizer Armee darlegen, die da wäre: Vom Vietcong lernen heisst siegen lernen. Ho-Ho-Ho-Chi-Minh! Die journalistische Vor- und Nachbereitung dieses Ergusses gipfelte in der schrillen Absurdität, dass in der Zeitschrift, die zwecks Kampf gegen den Islamismus dezidiert das Minarettverbot unterstützte, ein Taliban-Kommandant zu Blochers Strategie befragt wurde und diese in den höchsten Tönen lobte. Gleichzeitig durfte auch Inlandchef Philipp Gut wieder mal in der Opferrolle schwelgen. Nachdem er im Sommer bereits in einem psychologisch tief blicken lassenden Artikel seinem Unbehagen über Homosexuelle Ausdruck gegeben hatte, liess er uns nun an seiner Diskriminierung durch die Frauen teilhaben. Für seine aufgeregte Verquickung von Unzusammenhängendem, nicht Durchdachtem und geradewegs Falschem kommt mir unweigerlich der Titel der Spiegel-Online-Rubrik Aus dem Zusammenhang gerissen und falsch zitiert in den Sinn. Unerträglich ist aber vor allem der weinerliche Grundton des Pamphlets.

Als erfahrener Weltwoche-Leser ist man sich solch intellektuelle Tiefschläge leider gewohnt und legt sie seufzend zum Altpapier. Das hier soll ja auch erklärterweise nicht zum WeWo-Watchblog verkommen. Nicht mit Schweigen übergehen lässt sich hingegen eine Entgleisung in der neuesten Nummer. Da schreibt Peter Keller unter dem Titel Druck von unten über die SVP-Basis, die ihre Parteileitung zusehends rechts überholt. Nun ist Keller nicht nur Weltwoche-Redaktor, sondern auch Vizepräsident, Pressechef und Landrat der SVP Nidwalden. Köppel hatte die Doppelrolle des schreibenden Politikers seinerzeit mit dem gutschweizerischen Milizprinzip gerechtfertigt, was bereits damals Stirnrunzeln verursacht hatte. Wenn der SVP-Jungspund und Lokalkader jetzt aber als Journalist über seine eigene Partei schreiben darf (und zudem mit einer kaum verhüllten hidden agenda), hat dies mit unabhängiger Presse nichts mehr zu tun. Für letztere bin ich gerne bereit zu zahlen, auch wenn ich ihre Meinungen nicht teile. Für ein SVP-Parteiblatt, in dem innerparteiliche schmutzige Wäsche gewaschen wird, habe ich hingegen nicht das geringste Bedürfnis.