Sonntag, 24. August 2008

Windelwechsel

„Wer Kinder kriegt, ohne vorher dieses Buch gelesen zu haben, ist selber schuld!“ Das steht auf dem Umschlag von „Schief gewickelt“, dem Paparoman von Matthias Sachau. Und ehrlich gesagt: Wer dieses Buch gelesen hat und immer noch Kinder will, muss gute Nerven haben. Denn was Markus Heisenkamp, dem Papa, Hausmann und Held des Buches von der ersten Seite an widerfährt, ist nichts für schwache Gemüter. Sein Sohn Daniel ist ein wahres Prachtsexemplar von Kind: Alles was er sagt oder tut, ist gnadenlos süss, aber das meiste kommt im genau falschesten Moment – und wird dickköpfig und eigensinnig durchgesetzt. Markus Heisenkamp schlägt sich mit der optimistischen Resignation desjenigen, der weiss, dass er keine Wahl hat. Seine Freundin macht Karriere, er macht den Superpapa, und Übung macht den Meister. Aber neben der Sorge um das grenzenlos kreative Kind muss dieser sich auch noch um die subtilen diplomatischen Beziehungen zu den Superpapakollegen kümmern, deren Kinder natürlich schon mit zwei Wochen durchschliefen und auch sonst mit dem Adjektiv „genial“ nur unzulässig beschrieben sind. Wer mit solchen Kollegen ein (natürlich total ironisches) Bobby-Car-Rennen fahren muss und gleichzeitig seine eigenen zaghaften beruflichen Pläne im Kakao des Kleinen ertränkt sieht, der braucht schon Scarlett Johansson, um ihm wieder auf die Beine zu helfen. Aber nur Mut: Zum Schluss werden die ganzen offenen Fäden liebevoll zu einem richtig schönen Happy End verknüpft – inkl. zweites Kind.

Zusammengefasst: „Schief gewickelt“ war eine fröhliche Ferienlektüre, und zum Glück ist das alles ja gnadenlos übertrieben und hemmungslos ironisch zugespitzt. Oder?


Technisches: Matthias Sachau, Schief gewickelt. Ein Paparoman. Ullstein 2007. ISBN 978-3-550-08696-0.

Freitag, 15. August 2008

Le scaphandre et le papillon

Dass auf diesem Blog seit über einem Monat gähnende Leere herrscht, liegt natürlich in erster und zweiter Linie an den Ferien – ich war drei Wochen fern von Computern und vor- und nachher nur selten in Sichtweite von Kinos und Theatern. Doch es liegt in dritter Linie auch an meiner Schreibdisziplin: am Willen, auch aus einem wenig ergiebigen oder störrischen Thema einen Blogpost zu machen, am konzentrierten Dransitzen, am Bündeln der Aufmerksamkeit auf die knappe Zeit. Genau dazu passt nun der Bericht von einem Film, der mich zugleich gerührt und bedrückt, traurig und gelassen gemacht hat: Schmetterling und Taucherglocke.

Als die Kamera aufblendet, sehen wir durch ein Auge hindurch, verschwommen und flackernd, offenbar sehr angestrengt, und hören die Gedanken aus dem Kopf dahinter. Der Kopf weiss nicht, woran er ist, er sieht weisse Kittel rundherum, Ärzte, Pflegerinnen; sie sprechen auf ihn ein, erfreut, endlich eine Reaktion zu sehen, zugleich leicht verlegen und bedrückt durch die schlechte Nachricht, die allen auf der Zunge liegt, aber niemandem über die Lippen kommt. Der Chefarzt fasst sich ein Herz; er erklärt geradeheraus, was der Person in dem Kopf zugestossen ist: Schlaganfall, fast tödlicher Verlauf, zwei Wochen im Koma, früher wäre sie wohl gestorben, jetzt hat sie überlebt, höchst seltenes Syndrom: Locked-In. Die Person ist in ihrem Kopf, in ihrem Körper gefangen; keine Nachricht kann aus dieser Taucherglocke mehr hinaus, kein Wort kann der aktive, ironische, spöttische Geist mehr hörbar formulieren, einziger Kanal zur Aussenwelt ist sein Augenlid, welches er bitte bewegen möge: Wunderbar, das funktioniert noch. Eine ganze Equipe von Ärzten, Therapeutinnen, Pflegern wird sich um ihn kümmern, wird daran arbeiten, weitere Löcher in die Taucherglocke zu bohren. Doch dann wird er durch den Flur gestossen, und wir sehen durch das Auge im Spiegel eine Gestalt im Rollstuhl, wie hineingeschmissen, der Blick starr, der Mund verzerrt, Speichel rinnt aus dem Mundwinkel: Jean-Dominique Bauby, einst Schönling, Dandy, Lebemann, Chefredaktor von Elle, jetzt un légume (wie das auf Französisch anschaulich-brutal heisst).

Zehn Minuten Film waren dies bis hierhin, und es gab alle paar Sekunden einen neuen Grund zum Verzweifeln. Und als die Logopädin Bauby die Methode vorstellt, mit der er mehr als nur binär kommunizieren lernen soll, verzweifelt er gleich nochmals: Sie liest ihm die Buchstaben in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit im Französischen vor, und beim richtigen zwinkert er. ESARINTULOMDPCFBVHGJQZYXKW . Und wieder von vorne, für den zweiten Buchstaben. Zwei Minuten für ein kurzes Wort. Und weiter, ESARINT.... Die Langsamkeit ist kaum auszuhalten. Aber man kann dieses spezielle Alphabet als Kinozuschauer schon bald auswendig mitsprechen. Und Bauby gewinnt erst recht an Übung, natürlich. Und er hat eine verrückte, eine grosse Idee: Kurz vor seinem Schlaganfall hat er einen Vertrag für ein Buch unterzeichnet. Dieses Buch will er jetzt schreiben, mittels seines Alphabets diktieren. Er will aus seiner Taucherglocke hinaus eine Nachricht senden, ein einmaliges Zeugnis aus dem Inneren eines Locked-In-Syndroms. Der Rest ist Geschichte, erstaunliche, ergreifende, bewegende Geschichte. Zwei Monate lang diktiert Bauby sein Buch der Journalistin Claude Mendibil. Es erscheint im März 1997. Jean-Dominique Bauby erfährt noch, dass in der ersten Woche 150'000 Exemplare verkauft wurden, dann stirbt er an einer Lungenentzündung.

Der Film von Julian Schnabel mit einem beeindruckenden Mathieu Amalric in der Titelrolle lässt die Zuschauer die ganze Brutalität der Taucherglocke mitfühlen, in der Jean-Dominique Bauby gefangen war. Aber er verschweigt zum Glück auch nicht, dass sich Bauby, Schmetterlingen gleich, mit dem einzigen Mittel bewegen konnte, das ihm blieb: mit seinem Geist. Er fliegt, in die Vergangenheit zurück, in die Arme der Kaiserin Eugénie, der Stifterin des Spitals. So flattern Momente bittersüsser Freude auf.

Es gibt wenig, was an diesem Film nicht beeindruckt. Besonders hängen bleibe ich – und so schliesst sich der Kreis – bei der Schreibdisziplin. Bauby musste sein Buch nicht nur ohne jegliche Notizen und Hilfsmittel entwerfen. Er musste auch jedes einzelne Kapitel im Kopf ausarbeiten, formulieren und auswendig lernen, um es danach jeweils in Tagesportionen seiner Ghostwriterin zu diktieren. Einzelne haben (nachvollziehbarerweise) die offizielle Version von Claude Mendibil und des Verlags angezweifelt, dass das Buch exakt so gedruckt wurde, wie Bauby es diktiert hatte. Ob und in welchem Umfang der Text lektoriert wurde, ändert jedoch nichts an der Leistung. Bauby hatte kaum Ablenkung, gewiss. Aber in den endlosen, hilflosen Stunden nicht zu verzweifeln, sondern sich am entstehenden Text gleichsam festzuhalten und aufzurichten, ist eindrückliches Zeugnis einer grossen Selbstdisziplin – und Beweis dafür, was diese vermag.


P.S.: Nicht unerwähnt bleiben soll, dass der Film von Baubys Buch inspiriert, aber keine exakte Verfilmung seines Lebens ist. Unrecht getan wurde dabei offenbar vor allem seiner Freundin, die im Spital an seiner Seite stand, im Film aber die grosse Abwesende ist.


[UPDATE: Die offizielle Website des Films gibt es nicht mehr; der Link wurde entfernt.]