Freitag, 27. Mai 2011

Nachtflüge

Auf den griechischen Journalisten Fotis Georgeles bin ich das erste Mal im Frühling 1999 in meinem Erasmus-Jahr in Athen aufmerksam geworden. Nördlich der Grenzen tobte der Kosovo-Krieg, und währenddem in Westeuropa die Rollen eindeutig besetzt waren – die Serben seit Jahren schon die Bösen, die Albaner die Armen –, war es in Griechenland genau umgekehrt: unbedingte Solidarität mit den serbisch-orthodoxen Glaubensbrüdern, zwischen Skepsis und Verachtung für die ungeliebten Albaner. In dieser Zeit, in der alle griechischen Medien rabiat auf die NATO eindroschen, stiess ich beim Zappen auf eine Diskussionssendung. Die rechtsnationalistische Journalistin Liana Kanelli vertrat mit Bestimmtheit die These vom westlichen Mord an den Orthodoxen. Ein mir unbekannter Reporter hielt dagegen: Fotis Georgeles. Er komme, sagte er, soeben aus dem Kosovo zurück, und wenn die Berichte über serbische Gräueltaten, die er dort gehört hatte, auch nur zum Teil stimmten, dann müsse man die herrschende Sicht der Dinge sehr kritisch hinterfragen. Soviel eigenständige Meinung imponierte mir. Ich fand heraus, dass Georgeles Chefredaktor der Lifestylepostille KLIK war, und von da an gehörte diese zu meiner monatlichen Lektüre. Man musste dort zwischen all dem Lifestyle gelegentlich etwas graben, fand aber dabei immer hervorragende Texte; so erinnere ich mich an ein kluges Interview mit dem eben ernannten Aussen- und heutigen Premierminister, dem (mindestens damals) unaufgeregten und gänzlich ideologiefreien Georgios Papandreou.

Das Highlight jedes Monats aber (und Grund genug, dass ich mir KLIK nachher noch ein Jahr lang in die Schweiz liefern liess) war das Editorial von Fotis Georgeles. Darin berichtete er fast immer über Alltägliches, kürzlich Erlebtes, häufig über Reisen oder Ausflüge – vordergründig. Dahinter versteckten sich jedes Mal hochpräzise Beobachtungen zur Gegenwart. 42 dieser Editorials und anderer Texte sind vor ein paar Jahren als Buch herausgekommen, unter dem Titel Νυχτερινές πτήσεις, „Nachtflüge“, aufgemacht also (wiederum vordergründig) als Sammlung von Reiseberichten. Die eigentlichen Berichte von Reisen in ferne Länder, nach Südamerika oder auf einsame Inseln im Pazifik, sind allerdings eher die schwächeren Partien des Buches – zu nahe sind sie mir am klassischen Reisejournalismus mit seinem Placenamedropping und seinem naheliegenden Erstaunen über die offensichtlichen Kontraste der Feriendestinationen zum heimischen Europa. Je näher er aber an zu Hause ist, und insbesondere in den Stücken über seine Heimatstadt Athen, desto mehr zeigt sich Georgeles in Hochform. Er erweist sich als sensibler Seismograf des urbanen Lebens, ausgestattet mit einem präzisen Blick, einem potenten analytischen Instrumentarium und einem breiten Reservoir an Erfahrungen, was Urbanität bedeutet und wie sie sich in verschiedenen Regionen äussert und interpretiert wird. Schonungslos seziert er die Lebensfeindlichkeit seiner Stadt, nicht ohne auch ihre Faszination, das allgegenwärtige und spontane Aufflackern von Leben, zu analysieren. Erhellend sind seine Gegenüberstellungen der griechischen Hauptstadt mit der anderen Stadt, die ihm am Herzen liegt, mit Paris – eine fast ideale Stadt, wenn man ihm Glauben schenkt, eine Stadt für die Menschen, nicht für die Autos, wie er kurz und desillusioniert schreibt. Ich finde freilich, dass ihm da öfters die Hassliebe des gebürtigen Atheners den Blick trübt, und würde ihm gelegentlich widersprechen, würde beispielsweise darauf hinweisen, dass gerade in Athen quasi im Jahresrhythmus neue Hotspots entstehen, wo rund um einen Platz und wenige Strassen wie in einem Treibhaus Bars und Cafés aus dem Boden schiessen. Aber das ändert nichts daran, dass Georgeles es versteht, mit wenigen Worten, mit knappen Beobachtungen und Vergleichen die Essenz dessen einzufangen, was Urbanität und städtisches Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmacht.

Das KLIK übrigens wurde vor längerem eingestellt (inzwischen existiert es, wie ich eben entdecke, wieder als Webzine). Fotis Georgeles hat dafür vor ein paar Jahren die Athens Voice gegründet, ein wöchentliches Gratisblatt für Athen. Auch da schreibt er ein Editorial, und das ist glücklicherweise online! Jedes Mal, wenn ich in Athen bin und eines der relativ gefragten Exemplare erhaschen kann, kriege ich glänzende Augen. Und gleichzeitig frage ich mich jedes Mal: Warum gibts sowas bei uns nicht? Warum gibts hier nur die Journalismussimulation von 20 Minuten, das Selbstschulterklopfen von Blick am Abend und den Teenie-Augenkrebs von 20 Minuten Friday? Athens Voice ist grossformatig und relativ dick. Das Titelblatt wird jede Woche von einem anderen Künstler gestaltet. Die Redaktion setzt intelligent und aufwendig Themen (aktuell beispielsweise ein Dossier zur Kultur in Zeiten der Krise); dazu kommen Satire, Kolumnen, Analysen zu Politik und Gesellschaft – kein investigativer Journalismus, gewiss, aber viel solider Lesestoff, souverän gestaltet, und zugleich ein umfangreicher Ausgangsführer mit den ganzen nützlichen Informationen zu Theater, Kino, Musik, Restaurants und Bars. Glücklich das Land, denke ich dann, das solche (und ähnliche) Gratisblätter hat; und es ist mir um die Griechen gleich ein bisschen weniger bange.


Technisches: Φώτης Γεωργελές: Νυχτερινές πτήσεις. Athen, Kedros 2008. ISBN 978 960 04 3854 3. Übersetzt ist das Buch scheinbar (noch) nicht worden.

Sonntag, 15. Mai 2011

Inglorious Basterds

Am wenigsten gern schreibe ich auf diesem Blog über etwas, das meine Erwartungen enttäuscht hat; wenn ich mich bereits auf eine begeisterte Rezension gefreut hatte und mich dann mit der Aufgabe konfrontiert sehe, meine Enttäuschung zu analysieren und in Worte zu fassen. Objekt dieser Enttäuschung ist heute Quentin Tarantinos Film Inglourious Basterds, den wir kürzlich auf DVD gesehen haben. Nun habe ich mit Tarantino nicht wirklich Erfahrung; zuvor hatte ich einzig Kill Bill 1 gesehen (und gemocht). Soviel hatte ich immerhin mitgekriegt: dass Tarantino eine Vorliebe für schräge, schrille oder skurrile Charaktere hat – sowie ein geradezu fetischistisches Verhältnis zu hervorspritzendem Blut. Von beidem gibt es in Inglourious Basterds reichlich; ich würde sogar behaupten, es gibt daneben kaum etwas anderes. Der Film besteht aus nur wenigen, endlosen Szenen, in denen mit quälender Langsamkeit eine üble Beklemmung zelebriert wird. Man sieht das Unheil kommen und kann doch nichts tun, man möchte schreien, man windet sich mit Gänsehaut auf seinem Sofa und fixiert doch weiterhin den Bildschirm, um die Katastrophe wie ein Uhrwerk ablaufen zu sehen, bis die Szene in der Regel im erwähnten Blutspritzen endet.

Klar: Es braucht absolute Meisterschaft, um solch aggressives, unentrinnbares Unbehagen zu erzeugen. Die Szenen sind mit souveräner Sicherheit gestaltet und inszeniert, da steht jeder Salzstreuer richtig. Die Figuren, allen voran SS-Sturmbannführer Landa (Christoph Waltz, der für seine Interpretation so ziemlich jeden verfügbaren Preis bekam), sind überlebensgrosse Gestalten. Das ist ein Meisterwerk, ohne Frage. Mein Problem ist wohl, dass ich keine Studiensammlung beklemmender Szenen erwartet hatte, sondern eine Geschichte – und diese hat in dem Film offensichtlich zweite Priorität. Dabei wäre der Kern zu einer fabelhaften Geschichte vorhanden gewesen, nämlich die brillante Idee, eine jüdische Guerillaeinheit, eben die titelgebenden Basterds, gegen Ende des Zweiten Weltkriegs hinter die deutschen Linien zu schicken und dort Tod und Panik säen zu lassen. Diese Idee, finde ich, ist etwas müde verpulvert worden. Überhaupt bleibt vieles vom Plot im unendlichen gegenseitigen Belauern stecken. Anderes, wie die Schlusswendung, wirkt im höchsten Mass unrealistisch, reiner Vorwand für eine letzte Pointe. Bleibt als Fazit: Glücklich der Regisseur, der solche Ideen hat und sie dann nicht mal vollständig auskosten muss, um einen bedeutenden Film zu machen. Mein Fall freilich war dieser nicht.


Technisches: Inglourious Basterds (2009), von Quentin Tarantino, mit Brad Pitt, Christoph Waltz, Mélanie Laurent, Diane Krüger und vielen anderen grossen Stars.

Freitag, 6. Mai 2011

Zwischen allen Stühlen

Dass ich den griechischen Autor Petros Markaris sehr gerne lese, ist auf diesem Blog bereits zur Genüge dokumentiert. Seine Kostas-Charitos-Krimis habe ich alle verschlungen. Dass mich folglich auch seine Autobiografie interessiert, wird nicht verwundern. Allerdings ist „Autobiografie“ vielleicht die falsche Bezeichnung für das Buch Κατ΄εξακολούθηση, das Markaris 2005 für die Kollektion „In der Küche des Schriftstellers“ (Στην κουζίνα του συγγραφέα) verfasst hat. Es handelt sich präziser um einen Rück- und Überblick über sein literarisches Schaffen und dessen Verortung in seinem Leben, seinem Denken und seinen Erfahrungen. Und es ist dieses aussergewöhnliche und vielseitige Leben, das mich bei der Lektüre am meisten fasziniert hat. Von armenischer und griechischer Herkunft, in Konstantinopel/Istanbul dreisprachig (Griechisch, Türkisch, Deutsch) aufgewachsen, Ökonomiestudent in Österreich und Deutschland, dann nach Athen übersiedelt, Theater- und Drehbuchautor (unter anderem für Filme von Angelopoulos und Fernsehserien), Übersetzer von Brecht und Goethe und eben seit knapp zehn Jahren höchst erfolgreicher Kriminalschriftsteller – einer Katze vergleichbar scheint Markaris mehr als ein Leben zu haben. Eindringlich beschreibt er das Istanbul der 40er und 50er Jahre, eine Stadt, die mit dem Adjektiv „kosmopolitisch“ nur unzulänglich beschrieben ist. In drei Minuten Tramfahrt, erinnert sich der Autor, war es absolut üblich, sechs Sprachen zu hören: Türkisch, Griechisch, Armenisch, Sephardisch, Italienisch und Französisch. Gleichzeitig lebten die bedeutenden Minderheiten der Griechen, Armenier und Juden traditionell nicht nur von den Türken, sondern auch voneinander säuberlich getrennt – so sehr, dass die Ankündigung von Markaris‘ armenischem Grossvater, er wolle eine junge Griechin heiraten, umgehend zu seiner Enterbung führte. Nur am Rand kommt der Autor auf die Pogrome gegen die Nicht-Türken zu sprechen, die in den Fünfziger Jahren viele ihrer Angehörigen ins Exil drängten. Für den jungen Petros bedeuteten sie insbesondere, dass seine Eltern ihre Stadtwohnung aufgeben mussten und sich ins Sommerhaus auf den Prinzeninseln zurückzogen, eine für den Teenager aus der Grossstadt die meiste Zeit sterbenslangweilige Umgebung. Von den weiteren Lebens- und Schreibensstationen seien zwei erwähnt: Markaris‘ einziges Theaterstück, Die Geschichte von Ali Retzo, mit dem er die Zensoren der Militärjunta übertölpelte und nach eigener Einschätzung den bedeutendsten kulturellen Widerstandsakt gegen die Obristendiktatur auslöste; und die augenzwinkernde Art und Weise, wie sich Kommissar Kostas Charitos, dieser kleinbürgerlich-bauernschlaue Polizist, plötzlich und unerwartet im Kopf seines Autors einnistete und diesen im hohen Alter zum Romanautor machte (und zu einem über alle Massen erfolgreichen dazu).

Weniger spannend, streckenweise sogar reichlich langweilig, fand ich die literaturtheoretischen Passagen des Buches. Markaris entwirft eine umfassende Theorie des zeitgenössischen Kriminalromans und lässt sich dazu ausführlich über die bekanntesten literarischen Kommissare Europas, ihre Denkweisen und ihre kulinarischen Vorlieben aus. Das ist für die Einordnung seines eigenen Werks nicht uninteressant, aber für den gemeinen Krimileser etwas langfädig. Auch der Essay über die Brecht-Rezeption in Griechenland gehört in diese Kategorie. Die direkte, ruppige, oft sarkastische Sprache, die Markaris seinem Helden Kostas Charitos in den Mund legt, ist weit besser zugänglich als der häufig etwas schwerfällige griechische Essay-Stil, der viele Seiten des Buches dominiert. Dem Literaturwissenschaftler mag es anders ergehen; ich bin mir bewusst, dass diese Empfindung stark von meinen persönlichen Vorlieben und Interessen abhängt. Deshalb freue ich mich besonders, dass letztes Jahr ein weiterer Charitos-Krimi herauskam (der erste Band einer Trilogie überdies), der als Souvenir aus Athen mitgekommen ist und jetzt in meinem Regal der Lektüre harrt.


Technisches: Petros Markaris, Κατ΄εξακολούθηση. Athen, Patakis 2005. ISBN 978-960-16-2256-9. Auf Deutsch ist das Buch unter dem Titel Wiederholungstäter. Ein Leben zwischen Athen, Wien und Istanbul (übersetzt von Michaela Prinzinger) 2008 bei Diogenes in Zürich erschienen (ISBN 978-3-257-06639-5).


P.S.: Auf den Tag meiner Rückkehr aus Athen ist auch der vierte Geburtstag dieses Blogs gefallen. Auch für Blogs scheint zu gelten: Je älter, desto weniger wichtig werden genaues Alter und Jahrestage. Anstelle eines gloriosen Festtagsbeitrags bitte ich deshalb die geneigte Leserin und den geneigten Leser ganz bescheiden um zwei Sekunden Innehalten und Meditieren über die Vergänglichkeit alles Irdischen…