Auf den griechischen Journalisten Fotis Georgeles bin ich das erste Mal im Frühling 1999 in meinem Erasmus-Jahr in Athen aufmerksam geworden. Nördlich der Grenzen tobte der Kosovo-Krieg, und währenddem in Westeuropa die Rollen eindeutig besetzt waren – die Serben seit Jahren schon die Bösen, die Albaner die Armen –, war es in Griechenland genau umgekehrt: unbedingte Solidarität mit den serbisch-orthodoxen Glaubensbrüdern, zwischen Skepsis und Verachtung für die ungeliebten Albaner. In dieser Zeit, in der alle griechischen Medien rabiat auf die NATO eindroschen, stiess ich beim Zappen auf eine Diskussionssendung. Die rechtsnationalistische Journalistin Liana Kanelli vertrat mit Bestimmtheit die These vom westlichen Mord an den Orthodoxen. Ein mir unbekannter Reporter hielt dagegen: Fotis Georgeles. Er komme, sagte er, soeben aus dem Kosovo zurück, und wenn die Berichte über serbische Gräueltaten, die er dort gehört hatte, auch nur zum Teil stimmten, dann müsse man die herrschende Sicht der Dinge sehr kritisch hinterfragen. Soviel eigenständige Meinung imponierte mir. Ich fand heraus, dass Georgeles Chefredaktor der Lifestylepostille KLIK war, und von da an gehörte diese zu meiner monatlichen Lektüre. Man musste dort zwischen all dem Lifestyle gelegentlich etwas graben, fand aber dabei immer hervorragende Texte; so erinnere ich mich an ein kluges Interview mit dem eben ernannten Aussen- und heutigen Premierminister, dem (mindestens damals) unaufgeregten und gänzlich ideologiefreien Georgios Papandreou.
Das Highlight jedes Monats aber (und Grund genug, dass ich mir KLIK nachher noch ein Jahr lang in die Schweiz liefern liess) war das Editorial von Fotis Georgeles. Darin berichtete er fast immer über Alltägliches, kürzlich Erlebtes, häufig über Reisen oder Ausflüge – vordergründig. Dahinter versteckten sich jedes Mal hochpräzise Beobachtungen zur Gegenwart. 42 dieser Editorials und anderer Texte sind vor ein paar Jahren als Buch herausgekommen, unter dem Titel Νυχτερινές πτήσεις, „Nachtflüge“, aufgemacht also (wiederum vordergründig) als Sammlung von Reiseberichten. Die eigentlichen Berichte von Reisen in ferne Länder, nach Südamerika oder auf einsame Inseln im Pazifik, sind allerdings eher die schwächeren Partien des Buches – zu nahe sind sie mir am klassischen Reisejournalismus mit seinem Placenamedropping und seinem naheliegenden Erstaunen über die offensichtlichen Kontraste der Feriendestinationen zum heimischen Europa. Je näher er aber an zu Hause ist, und insbesondere in den Stücken über seine Heimatstadt Athen, desto mehr zeigt sich Georgeles in Hochform. Er erweist sich als sensibler Seismograf des urbanen Lebens, ausgestattet mit einem präzisen Blick, einem potenten analytischen Instrumentarium und einem breiten Reservoir an Erfahrungen, was Urbanität bedeutet und wie sie sich in verschiedenen Regionen äussert und interpretiert wird. Schonungslos seziert er die Lebensfeindlichkeit seiner Stadt, nicht ohne auch ihre Faszination, das allgegenwärtige und spontane Aufflackern von Leben, zu analysieren. Erhellend sind seine Gegenüberstellungen der griechischen Hauptstadt mit der anderen Stadt, die ihm am Herzen liegt, mit Paris – eine fast ideale Stadt, wenn man ihm Glauben schenkt, eine Stadt für die Menschen, nicht für die Autos, wie er kurz und desillusioniert schreibt. Ich finde freilich, dass ihm da öfters die Hassliebe des gebürtigen Atheners den Blick trübt, und würde ihm gelegentlich widersprechen, würde beispielsweise darauf hinweisen, dass gerade in Athen quasi im Jahresrhythmus neue Hotspots entstehen, wo rund um einen Platz und wenige Strassen wie in einem Treibhaus Bars und Cafés aus dem Boden schiessen. Aber das ändert nichts daran, dass Georgeles es versteht, mit wenigen Worten, mit knappen Beobachtungen und Vergleichen die Essenz dessen einzufangen, was Urbanität und städtisches Leben zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmacht.
Das KLIK übrigens wurde vor längerem eingestellt (inzwischen existiert es, wie ich eben entdecke, wieder als Webzine). Fotis Georgeles hat dafür vor ein paar Jahren die Athens Voice gegründet, ein wöchentliches Gratisblatt für Athen. Auch da schreibt er ein Editorial, und das ist glücklicherweise online! Jedes Mal, wenn ich in Athen bin und eines der relativ gefragten Exemplare erhaschen kann, kriege ich glänzende Augen. Und gleichzeitig frage ich mich jedes Mal: Warum gibts sowas bei uns nicht? Warum gibts hier nur die Journalismussimulation von 20 Minuten, das Selbstschulterklopfen von Blick am Abend und den Teenie-Augenkrebs von 20 Minuten Friday? Athens Voice ist grossformatig und relativ dick. Das Titelblatt wird jede Woche von einem anderen Künstler gestaltet. Die Redaktion setzt intelligent und aufwendig Themen (aktuell beispielsweise ein Dossier zur Kultur in Zeiten der Krise); dazu kommen Satire, Kolumnen, Analysen zu Politik und Gesellschaft – kein investigativer Journalismus, gewiss, aber viel solider Lesestoff, souverän gestaltet, und zugleich ein umfangreicher Ausgangsführer mit den ganzen nützlichen Informationen zu Theater, Kino, Musik, Restaurants und Bars. Glücklich das Land, denke ich dann, das solche (und ähnliche) Gratisblätter hat; und es ist mir um die Griechen gleich ein bisschen weniger bange.
Technisches: Φώτης Γεωργελές: Νυχτερινές πτήσεις. Athen, Kedros 2008. ISBN 978 960 04 3854 3. Übersetzt ist das Buch scheinbar (noch) nicht worden.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen