Donnerstag, 30. Oktober 2008

Hohl ist der Boden unter den Tyrannen

Vom Hackbrett (Töbi Tobler) wehen ein paar Wellen her, und dann lacht es schrill los: Der Ton ist gesetzt. Dieser See lächelt nicht, er höhnt und verlacht, und aus zwei Dutzend Besenstielen schlägt das Donnergrollen auf die Pressspanbühne im Tellspielhaus Altdorf. Wie alle paar Jahre wird wieder Schillers Tell gegeben – aber das hier ist keine klassisch schöne Abendunterhaltung. Das hier ist ein Volk in äusserster Not, von einer brutalen Fremdherrschaft unterjocht. Wie hält es solche Willkür aus? Wie kann es seine Freiheit gewinnen? Welches sind seine Strategien, und wie einigt es sich auf diejenige, die Erfolg verspricht? Auf diese Fragen fokussiert Regisseur Volker Hesse das Stück, mit ähnlich grossem Gestus wie letztes Jahr beim Einsiedler Welttheater. Eindrücklich geschlossene Choreografien (Graham Smith) evozieren die Bilder der Unterdrückung, die wir aus dem Geschichtsbuch und den Medien kennen; die lange, laufstegartige Bühne (Hyun Chu) zwischen den zu beiden Seiten ansteigenden Tribünen unterstreicht noch die entmutigende Unausweichlichkeit der Situation. Drei kurze, essenzielle Szenen stechen heraus, in denen sich jeweils ein Mann und eine Frau, ganz in der Art der griechischen Tragödie, Red und Antwort stehen, Rechenschaft geben über ihre Gedanken, Ängste und Pläne, und sich damit zu einer Grösse und Entschlossenheit erheben, die sie ihr Schicksal in die Hände nehmen lässt – und klug rückt Hesse die heimlichen Heldinnen dieses an starken Charakteren nicht armen Stücks in den Mittelpunkt, die doppelt Unterdrückten, die Frauen. Rede und Gegenrede kulminieren auf dem Rütli. Da ist keine Spur von romantischer Verschwörung am Seegestade: Der Pfarrer sorgt für Missstimmung; Hitzköpfe und Besonnene geraten aneinander; man verdächtigt sich gegenseitig, vor allem den eigenen Vorteil zu suchen. Nur langsam einigen sich die Eidgenossen auf die Eckpunkte ihres Plans. Und es ist, wie andernorts in dem Stück, die Macht der Natur, die für die letzte Konzentration und Zuspitzung sorgt: Im Angesicht der ersten Morgenröte verfestigen sich das Leiden und Ringen, die Bedenken und die Entschlossenheit der kleinen Schar in den knappen und atemberaubenden Schlussworten des Schwurs:

Wir wollen trauen auf den höchsten Gott
Und uns nicht fürchten vor der Macht der Menschen.

Dies ist es, was mich bei Schiller so fasziniert: dieser irreale, gleichsam naive Glaube an jenen günstigen Moment, in dem alles möglich ist, sowohl der Sieg der Freiheit gegen alle Hoffnung als auch die ultimative Versöhnung durch Vergebung. Im Tell unterstreicht er das Wissen um den Sieg der Freiheit mit so markigen Worten wie „Hohl ist der Boden unter den Tyrannen“. In der Bürgschaft lässt er den Gewaltherrscher – nur Augenblicke, nachdem er noch zum Justizmord entschlossen war – ohne weiteres und ganz selbstverständlich um die Freundschaft seiner Todfeinde werben. Und in der Ode an die Freude kann er in einer und derselben Strophe sowohl zum Freiheitskampf als auch zu allumspannender Versöhnung aufrufen:

Rettung von Tirannenketten
Großmut auch dem Bösewicht
Hoffnung auf den Sterbebetten
Gnade auf dem Hochgericht!

Für mich ist das eine wichtige Facette dessen, was wir Klassik nennen. Wir verwenden den Begriff ja im Rückblick auf eine Zeit und einen Ort, wo wie von Zauberhand alles zusammen kommt und sich mühelos zu fügen scheint. Ich würde zu gerne wissen, wie es sich anfühlt, in einer solchen Zeit, an einem solchen Ort zu leben und zu schaffen; aber wenigstens kenne ich das Resultat: Dieses Gefühl traumwandlerischer Sicherheit führt zur (literarischen) Aufhebung der Schranken, die den Alltag sonst definieren. Der grosse Gestus, der zu einer anderen Zeit Kitsch genannt würde und nicht nachvollziehbar wäre, ist hier echt und hat seinen natürlichen Platz. Volker Hesse spricht treffend von der „Mystik, Kraft und utopischen Energie der Sprache Schillers“.

Und so ist es höchst passend, wenn die Urnerinnen und Urner am Schluss, als der Vogt tot und die Burgen geschleift sind, als die Ketten der Tyrannei von ihnen abgefallen sind und auf ihren Gesichtern einem linden Frühlingsmorgen gleich die Freiheit aufleuchtet, zunächst zaghaft, dann von immer stärkerer Zuversicht erfüllt diese unsterblich-überschwängliche, eben klassische Melodie zu summen beginnen, Beethovens Ode an die Freude. Endlich frei, durch die eigene Hand, den eigenen Mut.

Der grosse Abwesende dabei ist – Willhelm Tell, der Namensgeber des Stückes. Bei Schiller ist er ein Waldschratt-artiger Eigenbrötler; er spricht wenig und fast nur in geflügelten Worten. Um eine gute Tat ist er nie verlegen, aber er sucht weder die Gemeinschaft der anderen noch die grosse Bühne. Vor der Pause sehen wir ihn ganze zwei-drei Mal; gerade genug, um seinen Ruf zu etablieren. Die eigentlichen Geschehnisse ziehen gleichsam an ihm vorbei; revolutionäre Pläne sind seine Sache nicht, auf dem Rütli fehlt er konsequenterweise, und zum Helden wird er wider Willen. Als es ums Feiern geht, ist er schon wieder weg, irgendwo den Gämsen nach.


Technisches: Die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Schreiben hat leider übermässig Zeit beansprucht. Wir haben den Tell Ende September gesehen; inzwischen ist die Dernière schon längst vorbei. In ein paar Jahren können wir uns auf die nächste Ausgabe freuen!

Donnerstag, 16. Oktober 2008

Dädalisches

Der Traum, die Welt aus der Sicht der Vögel zu betrachten, muss so alt sein wie die Menschheit. Im antiken Griechenland hat er im Mythos von Dädalus und Ikarus eine seiner schönsten Ausprägungen gefunden. So ist es denn sehr stimmig, wenn der Verlag Philipp von Zabern ein Buch mit Luftfotos griechischer archäologischer Stätten veröffentlicht. Zwar mag dies im Zeitalter von Google Maps und Google Earth nicht besonders spektakulär tönen. Aber die perfekt komponierten, scharfen und detailgenauen Bilder von Georg Gerster sind Googles (zugegebenermassen genialen) Orthofotos natürlich weit überlegen. Mit Sachverstand und grosser Erfahrung aufgenommen, ästhetisch und sehr didaktisch zugleich, zeigen und erläutern sie siebzig der wichtigsten archäologischen Stätten des griechischen Festlandes, von Philippi bis Monemvasia. Zu den Bildern treten die Texte von Johannes Nollé und Hertha Schwarz: In gebotener Kürze, aber ausführlich genug skizzieren sie die Geschichte und Geschichten der im Bild vorgestellten Orte und erklären die Ruinen. So erhält das Fotoalbum den Charakter eines Handbuchs, ja eines Nachschlagewerks. Allerdings: Jedes Mal, wenn sie sich mit Anspielungen auf die Gegenwart auf humoristisches Terrain wagen, rutschen die Autoren unglücklich aus. So erfahren wir zum Palast von Pella (p. 17) atemberaubenderweise: „In ihm räkelte sich, wie wir aus dem neuen monumentalen Alexanderfilm wissen, Angelina Joly (sic!) alias Olympias, mit ihren Pythonschlangen.“ Die Besprechung der Orakelpraxis in Dodona (p. 43) gibt Anlass zu einem Seitenhieb auf eine „kämpferische Justizministerin“, welche nichtdeutsche Leser weder nachvollziehen noch lustig finden können. Und der Tiefschlag gegen die „unfehlbaren Intellektuellen unserer Tage“ (p. 71) ist nicht nur deplaziert, sondern schlichtweg diffamierend. Wer von solchen Fehlversuchen sowie einigen Unsauberkeiten im Lektorat abstrahieren kann, liest diese historische Geografie Griechenlands allerdings mit grossem Gewinn. Die Auswahl der vorgestellten Orte ist umfassend und repräsentativ (wenngleich sich an der Gewichtung da und dort etwas rummäkeln liesse); besonders instruktiv fand ich die Einleitungen zu den Regionen.

Wenn man diesem schönen Buch einen Vorwurf machen kann, dann den, dass es sein Potential nicht wirklich ausschöpft. Der Artikel über das Heraion von Argos (p. 140 f., allerdings mit falscher Angabe der Himmelsrichtungen) zeigt auf, welchen Verständnisgewinn eine sinnvolle Bildauswahl (Übersicht und Detail) mit präzise darauf abgestimmtem Text bringen könnte. Solche instruktiven Querbezüge sind leider selten; allzu oft stehen Bilder und Text ohne grossen Zusammenhang nebeneinander; Pläne oder andere erläuternde Informationen fehlen gänzlich. So sind es eigentlich zwei Bücher in einem, ein Augenschmaus von Bilderbuch und eine historische Geografie Griechenlands, und der Gewinn, der in ihrer Vereinigung hätte liegen können, wurde nicht realisiert.

Was tun? In den Bildern zu versinken und mit Dädalus über Griechenland zu schweben ist bereits ein Vergnügen für sich. Wer mehr will, greift mit Vorteil zu zusätzlicher Literatur, beispielsweise zu Reclams grossartigem Führer zu den antiken Stätten – oder geht surfen. Denn das Potential von Webressourcen für antikes Sightseeing ist gewaltig. Alles ist da: Google Maps gibt den geografischen Kontext der Stätten, Sites wie Metis oder die Wikipedia haben oft gute Pläne, Flickr liefert häufig hervorragende Fotos. Wie ein archäologischer Führer aussehen könnte, der auf diesen Schatztruhen beruht, versuche ich seit ein paar Wochen auf meinem zweiten Blog Periegetes zu zeigen. Vielleicht bleibt es beim Versuch, aber das wäre nicht schlimm; entscheidend ist, dass das Web den archäologischen Entdeckungsgeist nicht nur stimuliert, sondern auch nähren kann.


TECHNISCHES: Johannes Nollé und Hertha Schwarz: Mit den Augen der Götter. Flugbilder des antiken und byzantinischen Griechenlands; das Festland. Mit Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Philipp von Zabern 2005. ISBN 978-3-8053-3379-5

Samstag, 4. Oktober 2008

Il était une fois

Noch ein Festival im festivalreichen Fribourg: Das Festival International du Conte de Fribourg, offenbar zusammen mit dem Storytellermuseum alias Swiss Institute of Intangible Heritage hier angekommen, erlebte soeben seine zweite Auflage, und dieses Mal haben auch wirs geschafft. Ich gestehe, dass ich ziemlich gespannt war: Das Geschichtenerzählen als Kunstform war mir nicht vertraut, auch hatte mir seit Jahren niemand mehr eine Geschichte erzählt, schon gar nicht im Theater. Wie also soll das gehen? Die Antwort ist simpel: Mit einer eindrücklichen, unmittelbar packenden Bühnenpräsenz, einer schönen, reichen Stimme und – natürlich – einer guten Geschichte. Catherine Gaillard erzählte von Amazonen, zwei zunächst offensichtlich unzusammenhängende Geschichten, die sich nach und nach mit mehr und mehr Parallelen immer stärker miteinander verbanden. Zur Geschichte vom Krieg der Athener unter Perimos gegen das Reich der Amazonen von Königin Antinea trat die Geschichte von Sara und Ariane im heutigen Genf. Geschichten von Liebe und Leid, vom Zweifeln und Entscheiden, vom Verlieren, Loslassen und Gewinnen. Mit nichts als sich selbst und ihrer Stimme liess Catherine Gaillard aus dem Nichts der leeren Bühne vergangene und gegenwärtige Welten entstehen, baute Städte, schuf Personen und liess sie aufeinander treffen. Und mit einem halben Auge schauten wir von Zeit zu Zeit auf die Simultanübersetzerin in Gebärdensprache, die diese parallelen Geschichten in einer anderen, ebenso magischen und ausdruckstarken Sprache noch einmal parallel erzählte.


Der Vollständigkeit halber noch ein paar Worte zum Ort des Geschehens. Ich war nämlich diesen Abend auch zum ersten Mal in Nuithonie, dem schon in die dritte Saison startenden Tanz- und Theaterzentrum an der Peripherie Fribourgs. Eigenwillige und mutige Kulturpolitik dieser gesegneten Stadt: Mitten im Zentrum an bester Lage wächst zur Zeit ein Theater für Gastspielproduktionen in die Höhe, und nicht etwa in einem Altbau im Industriequartier wie sonst so üblich, sondern im Mummenschanztheater der expo.02 mit Anhang am Rande von Cormanon, dem Neubauquartier für die Besserverdienenden, sind eben die beiden Säle von Nuithonie beheimatet. Ich muss mich sehr an der Nase nehmen dafür, dass ich das vielfältige Programm dieses neuen Kulturortes zwar bisher immer aufmerksam und interessiert studiert, aber nie selber ausprobiert habe, und gelobe Besserung. Wenn es denn noch eines Arguments bedurft hätte, hat es die Bar mit ihrer Preispolitik geliefert: 12 Franken für einen Ouzo (von der noch nicht ganz fertig geschulten Bedienung allerdings im Cognacglas ohne Eis serviert), ein Panaché und ein Schweppes – dafür gäbs im Schiffbau wohl grad mal ein Mineralwasser...


TECHNISCHES: Das 2. Internationale Geschichtenfestival ist vorbei; das dritte findet bereits im nächsten Frühling statt.