Der Traum, die Welt aus der Sicht der Vögel zu betrachten, muss so alt sein wie die Menschheit. Im antiken Griechenland hat er im Mythos von Dädalus und Ikarus eine seiner schönsten Ausprägungen gefunden. So ist es denn sehr stimmig, wenn der Verlag Philipp von Zabern ein Buch mit Luftfotos griechischer archäologischer Stätten veröffentlicht. Zwar mag dies im Zeitalter von Google Maps und Google Earth nicht besonders spektakulär tönen. Aber die perfekt komponierten, scharfen und detailgenauen Bilder von Georg Gerster sind Googles (zugegebenermassen genialen) Orthofotos natürlich weit überlegen. Mit Sachverstand und grosser Erfahrung aufgenommen, ästhetisch und sehr didaktisch zugleich, zeigen und erläutern sie siebzig der wichtigsten archäologischen Stätten des griechischen Festlandes, von Philippi bis Monemvasia. Zu den Bildern treten die Texte von Johannes Nollé und Hertha Schwarz: In gebotener Kürze, aber ausführlich genug skizzieren sie die Geschichte und Geschichten der im Bild vorgestellten Orte und erklären die Ruinen. So erhält das Fotoalbum den Charakter eines Handbuchs, ja eines Nachschlagewerks. Allerdings: Jedes Mal, wenn sie sich mit Anspielungen auf die Gegenwart auf humoristisches Terrain wagen, rutschen die Autoren unglücklich aus. So erfahren wir zum Palast von Pella (p. 17) atemberaubenderweise: „In ihm räkelte sich, wie wir aus dem neuen monumentalen Alexanderfilm wissen, Angelina Joly (sic!) alias Olympias, mit ihren Pythonschlangen.“ Die Besprechung der Orakelpraxis in Dodona (p. 43) gibt Anlass zu einem Seitenhieb auf eine „kämpferische Justizministerin“, welche nichtdeutsche Leser weder nachvollziehen noch lustig finden können. Und der Tiefschlag gegen die „unfehlbaren Intellektuellen unserer Tage“ (p. 71) ist nicht nur deplaziert, sondern schlichtweg diffamierend. Wer von solchen Fehlversuchen sowie einigen Unsauberkeiten im Lektorat abstrahieren kann, liest diese historische Geografie Griechenlands allerdings mit grossem Gewinn. Die Auswahl der vorgestellten Orte ist umfassend und repräsentativ (wenngleich sich an der Gewichtung da und dort etwas rummäkeln liesse); besonders instruktiv fand ich die Einleitungen zu den Regionen.
Wenn man diesem schönen Buch einen Vorwurf machen kann, dann den, dass es sein Potential nicht wirklich ausschöpft. Der Artikel über das Heraion von Argos (p. 140 f., allerdings mit falscher Angabe der Himmelsrichtungen) zeigt auf, welchen Verständnisgewinn eine sinnvolle Bildauswahl (Übersicht und Detail) mit präzise darauf abgestimmtem Text bringen könnte. Solche instruktiven Querbezüge sind leider selten; allzu oft stehen Bilder und Text ohne grossen Zusammenhang nebeneinander; Pläne oder andere erläuternde Informationen fehlen gänzlich. So sind es eigentlich zwei Bücher in einem, ein Augenschmaus von Bilderbuch und eine historische Geografie Griechenlands, und der Gewinn, der in ihrer Vereinigung hätte liegen können, wurde nicht realisiert.
Was tun? In den Bildern zu versinken und mit Dädalus über Griechenland zu schweben ist bereits ein Vergnügen für sich. Wer mehr will, greift mit Vorteil zu zusätzlicher Literatur, beispielsweise zu Reclams grossartigem Führer zu den antiken Stätten – oder geht surfen. Denn das Potential von Webressourcen für antikes Sightseeing ist gewaltig. Alles ist da: Google Maps gibt den geografischen Kontext der Stätten, Sites wie Metis oder die Wikipedia haben oft gute Pläne, Flickr liefert häufig hervorragende Fotos. Wie ein archäologischer Führer aussehen könnte, der auf diesen Schatztruhen beruht, versuche ich seit ein paar Wochen auf meinem zweiten Blog Periegetes zu zeigen. Vielleicht bleibt es beim Versuch, aber das wäre nicht schlimm; entscheidend ist, dass das Web den archäologischen Entdeckungsgeist nicht nur stimuliert, sondern auch nähren kann.
TECHNISCHES: Johannes Nollé und Hertha Schwarz: Mit den Augen der Götter. Flugbilder des antiken und byzantinischen Griechenlands; das Festland. Mit Flugbildern von Georg Gerster. Zaberns Bildbände zur Archäologie. Philipp von Zabern 2005. ISBN 978-3-8053-3379-5
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