Samstag, 28. Januar 2012

Sandale des Grauens

Weil meine Liebste für ihre Schüler einmal pro Jahr einen antiken Filmabend veranstaltet, müssen wir gelegentlich vorbereitend den einen oder anderen Sandalenfilm visionieren. Die Klassiker vom Schlage Ben Hurs sind inzwischen erschöpft, so dass die Suche auf weniger bekannte Schinken ausgedehnt werden musste, sowohl aus der Glanzepoche dieses Genres, den fünfziger Jahren, als auch aus der Renaissance der letzten Zeit. Also machten wir es uns an einem ruhigen Ferienabend auf dem Sofa gemütlich und schoben Jason and the Argonauts ins DVD-Laufwerk.

Da hatten wir aber ganz schön ins Klo gegriffen. Der einzige Wert, den man diesem amerikanischen TV-Film beimessen kann, ist eine gewisse Kultigkeit, weil er so grottenschlecht ist. Die Schauspieler agieren, als hätte man sie direkt vom Bahnhofplatz gecastet und ihnen aufgetragen, mal ein bisschen Antike zu spielen. Das endet dann entweder in angestrengtem Over-acting oder in vielleicht stoisch gemeintem, aber nur gelangweilt wirkendem Herumstehen. Letzteres gilt vor allem für Jason (Jason London), einen High-School-Schönling mit Vokuhila-Matte und einem überaus dämlichen Kindergesichtchen. Dieser Held wird zwar in der griechischen Mythologie durchaus gelegentlich etwas unterbelichtet dargestellt, aber eine solche Behandlung ist ein Affront gegenüber dem abendländischen Erbe. Mit einer Jutematte über der rechten Schulter macht er sich auf nach Iolkos, um von seinem Onkel den Thron zurückzufordern, den dieser seinem Vater vor Jahren entrissen hatte. Dort fällt er frisurtechnisch immerhin nicht so auf, weil bei den Notablen der Stadt die Sitte herrscht, sich Wollfäden um die Stirn zu drapieren und einen Bart unters Kinn zu kleben. Der gerissene König Pelias (Easy Rider Dennis Hopper, mit dunklem Haar, maliziösem Blick und hinterhältigem Lächeln, auf dass jeder seine Schlechtigkeit erkenne) schickt ihn auf die Suche nach dem Goldenen Vlies. Dorthin kann das Milchbübchen natürlich nicht alleine aufbrechen, und so sucht sich Jason eine ganze Equipe von Säufern und Trotteln zu seiner Begleitung zusammen. Das alles verlangt dem Zuschauer einiges ab; doch getoppt wird das Ganze noch von den Szenen in der Götterwelt: Über einer wattigen Wolkenschicht werden da die Torsi von Zeus und Hera herangezoomt; die beiden werfen sich mit wichtigen Mienen allerhand Gestelztes an den Kopf, und zum Schluss unterstreichen Donner und Blitz die Bedeutung dieses mies geschnittenen Rendez-vous. Beim Olymp, der Film wurde im Jahr 2000 gedreht, da brauchte man doch nicht mit der Tricktechnologie der achtziger Jahre zu hantieren!

Ungefähr eine von drei Stunden haben wir diesen Tiefpunkt der westlichen Zivilisation ausgehalten, dann war uns der Ferienabend zu schade und wir wechselten die DVD: Annibale, ein alter Sandalenfilm diesmal, 1959 – und der beginnt (nach kurzem Geplänkel im Senat zu Rom) optisch sehr wuchtig: Eine endlose, schon ziemlich lockere Kolonne von Soldaten stapft langsam über ein weites Schneefeld. In der Nahaufnahme sieht man sie in kurzen Röcken und mit unförmigen Stücken Schaffell auf den Schultern durch kniehohen Schnee taumeln. Auf dem steilen Anstieg bricht einer ein, muss gestützt werden; ein anderer rutscht aus, stürzt eine Felswand hinunter, bleibt zerschmettert liegen. Zwei Elefanten biegen um einen Felsen herum; dann sehen wir ein Feuer lodern, daneben ein Soldat, der die vorbeiwankenden Kameraden von links nach rechts weist – als gäbe es zwischen Steilhang und Abgrund überhaupt eine Unsicherheit über den einzuschlagenden Weg. Wieder stürzt einer runter, und es sieht so aus als wäre es der gleiche wie vorher. Dann hissen sich erschöpfte Soldaten an einem Seil mühsam eine Böschung hoch. Wie wohl die Elefanten da emporgelangen? Doch da sind sie schon wieder, die gleichen zwei, die um den gleichen Felsen biegen; und da ist ja auch wieder der Verkehrspolizist neben dem Feuer. Bevor dieses Perpetuum mobile sich noch weiterdreht, erblicken wir jetzt Hannibal (Victor Mature), im roten Umhang und mit gar feldherrlichem Blick, wie er mit irgendeinem schröcklich gekleideten Keltenfürsten verhandelt – eine prächtige Idee, vielleicht kann der ihm für die Rückkehr einen Weg zeigen, der nicht durch einen jungen Fichtenwald mit gegen hundert Prozent Steigung aufwärts führt!

Dieses Mal hatten wir eine Viertelstunde lang Geduld, dann griffen wir in unserer Verzweiflung zu einem dritten Kandidaten, Ulisse (1954). Welche Erleichterung: Dieser liess sich zu Ende schauen, und sogar mit etlichem Vergnügen. Er zeigte nebenbei auch, dass es durchaus möglich ist, von der bekannten Geschichte abzuweichen, ohne diese zu ruinieren. Die italienische Produktion nahm sich nämlich selbstbewusst und mit souveräner Gestaltungskraft der homerischen Odyssee an. Die Episoden mit Kirke und Kalypso wurden miteinander verschmolzen (und den Abstieg in die Unterwelt gab es als Bonus auch gleich dazu), die Abenteuerberichte nicht als Erzählungen am Königshof, sondern als Rückblenden am Strand von Scheria präsentiert; die Szenen von Odysseus‘ Rückkehr nach Ithaka waren stark gerafft und auf das Wesentliche verdichtet. Ein meisterhafter Schnitt unterstrich Tempo und Dramatik und ermöglichte es Regisseur Mario Camerini, die Odyssee in hundert Minuten zu erzählen, ohne hetzen oder zu viel auslassen zu müssen. Freilich blieb dabei die Logik gelegentlich auf der Strecke: Dass etwa Polyphem sich mit frisch gepresstem Traubensaft betrinken konnte, fand ich wenig überzeugend. Hochstehend war jedoch die Besetzung: Kirk Douglas spielte mit neckischem Bart und kurzem Umhang den Odysseus voller Mut, Schlauheit und Abenteuerlust. Sylvana Mangano war in einer Doppelrolle als Kirke und Penelope zu sehen, majestätisch und mysteriös; und auch Anthony Quinn hatte einen kurzen Auftritt als Antinoos. Am stärksten in Erinnerung blieben mir aber jene Szenen, für die Camerini unerwartete, bestechende Interpretationen gefunden hatte. Unvergesslich etwa die Vorbeifahrt bei den Sirenen: Odysseus, an den Mast gebunden, schaut neugierig an die nebelverhangene Küste, als plötzlich – nicht Engelsgesänge ertönen, sondern die Stimmen seiner Frau und seines Sohnes. Die Qual und Sehnsucht, die auf seinem Gesicht aufscheinen, schneiden unmittelbar ins Herz.

So endete der Abend spät, aber versöhnlich. Die Suche nach der Sandale des Jahres war schliesslich, als wir es schon nicht mehr erwarteten, doch noch von Erfolg gekrönt. Und nebenbei wurden wir ganz ungezwungen wieder einmal daran erinnert, zu welchen zweifelhaften Leistungen die Filmindustrie in Hollywood und Italien fähig ist.

Freitag, 20. Januar 2012

Tyrann in Wolkenkuckucksheim

Schöne Vorsätze: Viel lesen, viel schreiben. Und dann stolpere ich nahtlos aus dem Silvesterkater in einen ziemlich überfrachteten Januar – ein Ende ist noch nicht abzusehen –, und hier staut sich wieder einmal alles… Seis drum, heute kommt endlich die Jahreseröffnung mit einem Rückblick in den Dezember:

Max Merker hatten wir vor bald vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne des Theaters Solothurn gesehen. The Complete Works of William Shakespeare (Abridged) war damals für meinen Geschmack zwar zu stark in den Klamauk abgedriftet, und Merker und seine Kollegen hatten zu leichtfertig zum Holzhammer gegriffen, aber seine grosse Bühnenpräsenz und sein staubtrockener Humor liessen klar erkennen, dass wir da einen begnadeten Komiker vor uns hatten. Durchaus passend also, dass Max Merker diese Saison in Biel und Solothurn Die Vögel des Aristophanes inszenierte, der seinerseits ein ziemlich überdrehter Autor war, der groben Verzerrung und dem Griff unter die Gürtellinie niemals abhold. Und obwohl das Stück als „Schauspiel nach Aristophanes, Fassung von Max Merker“ angekündigt war, folgte das, was wir zu sehen bekamen, relativ eng und getreu dem Vorbild aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Merker hat die Vorlage in erster Linie gestrafft, auf eine Stunde zwanzig Minuten zusammengeschnitten, noch etwas mehr Tempo hineingebracht und da und dort einen kleinen Aktualitätsbezug. Vor allem aber hat er einen Aspekt herausgeschält: die Entstellung der Utopie zur Tyrannis.

Zur Vorbereitung auf den Theaterbesuch habe ich bei Albin Lesky (der Die Vögel „das vollendetste unter den erhaltenen Stücken“ des Aristophanes nennt) die etwas verwunderte Bemerkung gelesen, dass ausgerechnet diese Komödie unüblich frei ist von aktuellen politischen Bezügen – obwohl sie doch zur Zeit der sizilianischen Expedition Athens aufgeführt wurde, als Hoffen und Bangen die kriegsgeschüttelte Stadt beherrschten wie selten. Tatsächlich ist die Geschichte von der Vogelstadt Wolkenkuckucksheim vordergründig ein Märchen. Der schlaue Peithetairos und sein Begleiter Euelpides flüchten aus Athen ins Reich der Vögel, wo ersterer die zunächst widerstrebenden und feindseligen Tiere überzeugt, in den Wolken eine Stadt zu bauen. Indem sich die Vögel zwischen Menschen und Göttern positionierten – so die Idee des Peithetairos –, könnten sie den Opferrauchverkehr lahmlegen und mit diesem Druckmittel zu den Herren der Welt werden. Unter grosser Anstrengung und reichlich Klamauk kommt es genauso; und Peithetairos, der umgehend wie selbstverständlich zum Sprecher der Vögel wird, lenkt nicht eher ein, als er von der Verhandlungsdelegation der Götter die Basileia, die personifizierte Weltherrschaft, zur Frau erhalten hat. Doch nicht nur die Götter, auch seine Mitstreiter, die Vögel, leiden unter dem bald gar nicht mehr verhüllten Herrschaftsanspruch des Schlaumeiers. Er lässt sie rücksichtslos schuften, züchtigt Abweichler und reisst ohne viel Federlesens die Herrschaft über die Vogelstadt an sich.

So driftet die märchenhafte Utopie von einer freien Stadt in den Wolken unversehens und ziemlich abrupt in eine Diktatur mit üppigem Personenkult ab. Merker hat diese Entwicklung schärfer herausgehoben, als ich sie von Aristophanes im Kopf hatte. Silke Geertz spielt den Peithetairos als Hosenrolle, und das Adjektiv „burschikos“ ist hier absolut am Platz. Und das bringt mich zum Verdacht, dass der hellsichtige Athener in dieser utopischen Komödie durchaus eine Botschaft mit aktuellem politischem Bezug untergebracht hatte: Dass nämlich die Flucht in Utopien keine Lösung ist, weil jede Utopie ihr Missbrauchspotenzial schon in sich trägt, das nur auf Verwirklichung wartet. Und dass man deshalb besser daran täte, sich im wahren Leben zu engagieren, anstatt sich in Utopien zu flüchten.


Technisches: Die Vögel stehen in Solothurn noch genau einmal, am 11. Februar 2012, auf dem Programm; Tickets gibt es online. In der Übersetzung von Ludwig Seeger sind Die Vögel im Projekt Gutenberg greifbar.