Freitag, 20. Januar 2012

Tyrann in Wolkenkuckucksheim

Schöne Vorsätze: Viel lesen, viel schreiben. Und dann stolpere ich nahtlos aus dem Silvesterkater in einen ziemlich überfrachteten Januar – ein Ende ist noch nicht abzusehen –, und hier staut sich wieder einmal alles… Seis drum, heute kommt endlich die Jahreseröffnung mit einem Rückblick in den Dezember:

Max Merker hatten wir vor bald vier Jahren zum ersten Mal auf der Bühne des Theaters Solothurn gesehen. The Complete Works of William Shakespeare (Abridged) war damals für meinen Geschmack zwar zu stark in den Klamauk abgedriftet, und Merker und seine Kollegen hatten zu leichtfertig zum Holzhammer gegriffen, aber seine grosse Bühnenpräsenz und sein staubtrockener Humor liessen klar erkennen, dass wir da einen begnadeten Komiker vor uns hatten. Durchaus passend also, dass Max Merker diese Saison in Biel und Solothurn Die Vögel des Aristophanes inszenierte, der seinerseits ein ziemlich überdrehter Autor war, der groben Verzerrung und dem Griff unter die Gürtellinie niemals abhold. Und obwohl das Stück als „Schauspiel nach Aristophanes, Fassung von Max Merker“ angekündigt war, folgte das, was wir zu sehen bekamen, relativ eng und getreu dem Vorbild aus dem fünften Jahrhundert vor Christus. Merker hat die Vorlage in erster Linie gestrafft, auf eine Stunde zwanzig Minuten zusammengeschnitten, noch etwas mehr Tempo hineingebracht und da und dort einen kleinen Aktualitätsbezug. Vor allem aber hat er einen Aspekt herausgeschält: die Entstellung der Utopie zur Tyrannis.

Zur Vorbereitung auf den Theaterbesuch habe ich bei Albin Lesky (der Die Vögel „das vollendetste unter den erhaltenen Stücken“ des Aristophanes nennt) die etwas verwunderte Bemerkung gelesen, dass ausgerechnet diese Komödie unüblich frei ist von aktuellen politischen Bezügen – obwohl sie doch zur Zeit der sizilianischen Expedition Athens aufgeführt wurde, als Hoffen und Bangen die kriegsgeschüttelte Stadt beherrschten wie selten. Tatsächlich ist die Geschichte von der Vogelstadt Wolkenkuckucksheim vordergründig ein Märchen. Der schlaue Peithetairos und sein Begleiter Euelpides flüchten aus Athen ins Reich der Vögel, wo ersterer die zunächst widerstrebenden und feindseligen Tiere überzeugt, in den Wolken eine Stadt zu bauen. Indem sich die Vögel zwischen Menschen und Göttern positionierten – so die Idee des Peithetairos –, könnten sie den Opferrauchverkehr lahmlegen und mit diesem Druckmittel zu den Herren der Welt werden. Unter grosser Anstrengung und reichlich Klamauk kommt es genauso; und Peithetairos, der umgehend wie selbstverständlich zum Sprecher der Vögel wird, lenkt nicht eher ein, als er von der Verhandlungsdelegation der Götter die Basileia, die personifizierte Weltherrschaft, zur Frau erhalten hat. Doch nicht nur die Götter, auch seine Mitstreiter, die Vögel, leiden unter dem bald gar nicht mehr verhüllten Herrschaftsanspruch des Schlaumeiers. Er lässt sie rücksichtslos schuften, züchtigt Abweichler und reisst ohne viel Federlesens die Herrschaft über die Vogelstadt an sich.

So driftet die märchenhafte Utopie von einer freien Stadt in den Wolken unversehens und ziemlich abrupt in eine Diktatur mit üppigem Personenkult ab. Merker hat diese Entwicklung schärfer herausgehoben, als ich sie von Aristophanes im Kopf hatte. Silke Geertz spielt den Peithetairos als Hosenrolle, und das Adjektiv „burschikos“ ist hier absolut am Platz. Und das bringt mich zum Verdacht, dass der hellsichtige Athener in dieser utopischen Komödie durchaus eine Botschaft mit aktuellem politischem Bezug untergebracht hatte: Dass nämlich die Flucht in Utopien keine Lösung ist, weil jede Utopie ihr Missbrauchspotenzial schon in sich trägt, das nur auf Verwirklichung wartet. Und dass man deshalb besser daran täte, sich im wahren Leben zu engagieren, anstatt sich in Utopien zu flüchten.


Technisches: Die Vögel stehen in Solothurn noch genau einmal, am 11. Februar 2012, auf dem Programm; Tickets gibt es online. In der Übersetzung von Ludwig Seeger sind Die Vögel im Projekt Gutenberg greifbar.

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