Montag, 18. April 2011

Immer diese Hitze

Ich hätte gewarnt sein sollen: Das Geheimnis der Signora ist bei Bastei-Lübbe erschienen und auf schnell bräunendes Billigpapier gedruckt. Zudem ist nirgends angegeben, wer für die deutsche Übersetzung verantwortlich ist; also wars wohl entweder eine Agentur oder aber ein bedauernswerter Einzelkämpfer, der nicht mit seinem Namen zum schlecht bezahlten Resultat stehen wollte. Tatsächlich holpert und stolpert der Text von Anfang an. Aber dafür, dass die Geschichte nicht funktioniert, kann der Übersetzer nichts – das ist allein die Schuld des Autors Marco Vichi. Sein Krimi spielt im Sommer 1963 im glühend heissen Florenz, als in einer feudalen Villa eine alte Dame tot aufgefunden wird. Commissario Casini, der mit dem Fall betraut wird, erkennt schnell, dass es sich nicht um einen natürlichen Tod handeln kann, und da die Hauptverdächtigen ebenso flott identifiziert sind, könnte es sich hier eigentlich um einen jenen Krimis handeln, in denen die Suche nach dem Täter und dessen Überführung in den Hintergrund rücken zugunsten eines allgemeineren Sittengemäldes. Autoren wie beispielsweise Petros Markaris schätze ich genau für solche Bücher. Doch wenn bei Vichi der Plot mal in den Hintergrund gerückt ist, bleibt nicht mehr viel. Einige bescheidene Ansätze zu einer Meditation über die Relativität von Gut und Böse, von Schuld und Unschuld, wirken plakativ und oberflächlich. Sämtliche Figuren sind wandelnde Klischees, wie etwa der neue Mitarbeiter von Casini, direkt aus Sardinien angekommen, jung, motiviert, blitzschnell und schlau – aber sobald er eine schöne Frau sieht, geht sein südliches Temperament mit ihm durch. (Zudem ist er, o glückliche Fügung, der Sohn von Casinis Kriegskameraden, was jenem Anlass zu allerlei schwermütigen Flashbacks gibt.) Des Kommissars Bruder macht eine jähe und grotesk überzeichnete Wandlung vom mürrisch-strengen Chemielehrer zum langbärtigen liebestrunkenen Hippie durch. Die mutmasslichen Bösewichte sind aufgedunsen, triefen vor Schweiss und tragen bunte Krawatten und zu enge Hemden. Vollends nur noch peinlich wird die Geschichte, als Casini einer langbeinigen Kellnerin hinterherlechzt und sich danach schwülstig an das Kindermädchen erinnert, das den Pubertierenden seinerzeit sexuell initiiert hatte. Da fühlt der Leser die Hitze geradezu physisch, die im Übrigen nicht nur vom Anfang bis zum Ende die einzig vorkommende Wetterlage ist, sondern auch auf gefühlt jeder zweiten Seite ausführlich thematisiert wird. Auch die Gelegenheit, Das Geheimnis der Signora als Lokalkrimi zu gestalten und Orte und Anekdoten aus Florenz einzuweben, versiebt Vichi rettungslos. Wir sehen einmal kurz den Ponte Vecchio und einmal San Miniato al Monte, ansonsten könnte die Geschichte auch in Hintertupfigen spielen. Und bei allem Verständnis für den Verzicht auf einen klassischen Whodunit: Mindestens eine halbe falsche Fährte hätte der Autor legen können, zumal er sich das Personal dafür (etwa die Gesellschafterin oder den Arzt der Signora) pfannenfertig geschaffen hat.

So könnte man das Buch als Strand- oder Zuglektüre ohne grossen Anspruch bezeichnen, wenn es für diese Anlässe nicht so viele packendere und gleichwohl intelligentere Romane gäbe. Auf dem Umschlag jubiliert Italia Oggi: „Ein neuer italienischer Commissario ist geboren.“ Diese Feststellung ist nicht falsch; aber wenn er nicht geboren wäre, hätte ich zumindest ihn nicht vermisst.


Technisches: Marco Vichi, Das Geheimnis der Signora. Commissario Casinis erster Fall. Bastei Lübbe Taschenbuch 15155. Bergisch Gladbach, Verlagsgruppe Lübbe 2004. ISBN 3 404 15155 0. Das italienische Original ist unter dem Titel Il Commissario Bordelli (sic!) 2002 bei Ugo Guanda Editore erschienen.

Freitag, 8. April 2011

Herbst in Kaschmir

Kaschmir, sagte der indische Schauspieler und Regisseur Aamir Bashir bei der Vorstellung seines Films Harud (Autumn) am 25. Festival International de Films de Fribourg (FIFF), sei früher wegen seiner Naturschönheit auch als die Schweiz Asiens bezeichnet worden. Seit den kriegerischen Auseinandersetzungen, die vor rund 30 Jahren begannen, sei das ehemalige Paradies aber zur Hölle geworden.

Diese beiden Sätze können gleichsam als Zusammenfassung des Films verstanden werden. Autumn zeigt nämlich das Leben in dieser Hölle, die sich zwar nicht durch Feuer und offene Brutalität auszeichnet, aber durch Trostlosigkeit und Verzweiflung. Verkörpert werden diese in erster Linie von Rafiq, der jungen Hauptperson, der den ganzen Film hindurch ein dermassen leeres, von jeglicher Energie und Freude freies Gesicht zeigt, dass man ihn schütteln möchte, wenn man nicht wüsste, dass Schütteln nicht reichen wird. Rafiqs älterer Bruder gehört zu den Tausenden von spurlos Verschwundenen, und es ist als ob der Vermisste jegliches Leben aus der Familie saugen würde. Die Mutter leidet still, protestiert wöchentlich gegen die Praxis des Verschwindenlassens. Der Vater, Verkehrspolizist und eine markante Erscheinung mit seiner Uniform, seinen scharfen Zügen und dem grauem Haar, versinkt in der Verzweiflung, bis er buchstäblich den Verstand verliert. Rafiq selber will über die Grenze nach Pakistan flüchten, scheitert aber, muss zurück in die Hölle, in die Apathie. Weder seine Freunde noch die bevorstehende Einführung der Mobiltelefonie können ihn daraus aufwecken. Einmal kommt beim Betrachter kurz Hoffnung auf, als Rafiq nämlich die Kamera seines Bruders findet, den Film entwickeln lässt und auf den Fotos eine junge Frau entdeckt, die ihn offensichtlich interessiert. Aber auch dieser mögliche Rückweg ins Leben stellt sich als Sackgasse heraus, versandet im Niemandsland der Tristesse.

Die Geschichte wird mehr angedeutet als erzählt, vieles muss man sich zusammenreimen. Fragmente des kaschmirischen Herbstes reihen sich aneinander, Hintergrundmusik fehlt vollständig. Die Kamera hat viel Zeit: Es passiert hier nichts. So inszeniert sie meisterhaft Stillleben mit bunten Blättern, blickt desillusioniert auf die Grenzanlagen, folgt lange den davonfliegenden Vögeln. Das lässt die drückende Stimmung in der Hölle Kaschmir erleben und macht Autumn trotz seiner Kürze zu einer schweren Kost: kein Film also, den man aus vollem Herzen weiterempfehlen könnte, aber ein wichtiger Film, einer, der eine Fussnote der Aktualität fühlbar und begreifbar macht. Nur selten gestatten wir dem Kino diese aufklärerische Funktion. Einem Festival wie dem FIFF ist es zu verdanken, dass es immerhin einmal jährlich geschieht.


Technisches: Harud (Autumn), Regie Aamir Bashir, Indien 2010. Von den Filmen aus dem Wettbewerb beim FIFF schaffen es bekanntlich die wenigsten regulär in die Schweizer Kinos. Dass ausgerechnet dieser schwierige Film dazu gehören sollte, ist kaum zu erwarten.

Sonntag, 3. April 2011

Everybody's looking for something

Film, Tanz, Theater – das alles lässt sich durchaus unbefangen geniessen, unmittelbar, unhinterfragt, ohne dass man dem Kunstwerk dabei Unrecht täte. Entscheidend für die Interpretation ist der Interpret, und seine Freiheit ist praktisch unbeschränkt. Wenn ich auf diesem bescheidenen Blog versuche, den Werken, die ich gesehen habe, etwas tiefer auf den Grund zu gehen, so geschieht das nicht aus elitärem Dünkel, sondern aus meinem Interesse, aus dem reichhaltigen Material, das uns geboten wird, mehr als nur den ersten Eindruck herauszulesen. Das macht Spass, ist aber durchaus auch Arbeit. Dass dabei Übung den Meister macht, wird mir (und hoffentlich auch den gelegentlichen Mitlesenden) beispielsweise beim Tanz bewusst, wo ich mich nach ein paar Jahren Schauen und Bloggen inzwischen sicherer fühle, mehr verstehe und besser analysieren und einordnen kann. Ein bisschen schmerzlicher ist das Fazit bei der freien Theaterszene. Da bin ich mangels Erfahrung in der Regel immer noch ziemlich aufgeschmissen, zu wenig vertraut mit dem narrativen, inszenatorischen und musikalischen Vokabular, um zu mehr als einer fragmentarischen Interpretation zu gelangen. Weil dieser Blog aber auch ein Lehrblätz sein soll, kommt hier ein Artikel als learning by doing, oder zumindest als Versuch dazu. Sein Objekt ist Platonow von Anton Tschechow, dessen zweiter Teil kürzlich auf der Bühne des Nouveau Monde in Fribourg zu sehen war.

Hilfreich ist dabei eine Lektion aus der Archäologie: Der Weg zum Verständnis führt über die präzise Beschreibung. Da ist zunächst die kuriose Geschichte des Stückes selber. Tschechow hatte das Manuskript aus Enttäuschung eigentlich vernichtet; erst in seinem Nachlass wurde die Erstfassung wieder entdeckt. Ein namenloses Frühwerk mit einer Spieldauer von gegen acht Stunden – kein Wunder, dass Platonow (so der Ersatztitel) kein Bühnenrenner wurde. Der junge Regisseur Alexandre Doublet hat sich mit seiner Compagnie des sperrigen Stückes angenommen und bringt es adaptiert als Trilogie unter dem Titel Il n’y a que les chansons de variété qui disent la vérité zur Aufführung. Das Setting: eine Party in einer schicken Villa, alles wahnsinnig entspannte thirty-somethings, teils mit Kindern, plus die Hausherrin, die junge Witwe Anne. In der zweiten Episode (Sweet Dreams) geht das Fest langsam in den Abend über. In den netten Fassaden zeigen sich schnell die Risse. Die erfolgreiche Bande kämpft mit Eifersucht und Sticheleien; man mag sich nicht wirklich leiden und teilt ordentlich und unverhohlen nach allen Seiten aus. Wer den Schaden hat (wissenschaftlich oder finanziell), braucht für den beissenden Spott nicht zu sorgen. In brutalen Wortgefechten werden Beziehungskrisen ohne Rücksicht auf Verluste ausgetragen. Die Handkamera hält schonungslos auf die Opfer dieser Kleinkriege drauf, die entwaffnet und wehrlos in den Ecken liegen – bis sie sich in neue Kleider und wieder in den zerstörerischen Mahlstrom des Festes stürzen, als wäre nichts gewesen. Und da sind da noch die chansons de variété: Plötzlich hält der Nahkampf inne, und einer oder mehrere seiner Protagonisten greifen zur Gitarre, trällern uns ein Liedchen – wie eine kurzzeitige Flucht in eine kleine heile Welt, gleichermassen tiefe Einsicht wie zynischer Kommentar zur Ausweglosigkeit ihres Lebens.

So bietet Sweet Dreams mehr als zwei Stunden Material für verschiedene Interpretationsansätze an. Beeindruckt hat mich, wie der schöne Schein demaskiert wird; wie nicht mehr ganz junge Menschen sich gegenseitig von dem schmalen Felsvorsprung in einer endlos hohen Wand, auf dem sie sich gerade so knapp und mühevoll eingerichtet hatten, mit grosser Bosheit hinunterstürzen – und wie sie in einer schwer zu beschreibenden Weise in ihrem Scheitern, ihrem Fallen, so etwas wie eine Statur gewinnen, eine Würde, eine Entschlossenheit, die vorher gespielt war und jetzt irgendwie echt ist.


Technisches: "Sweet Dreams" der Compagnie Alexandre Doublet wurde im Winter 2010/11 auf den koproduzierenden Westschweizer Bühnen gezeigt. Weitere Aufführungen sind momentan nicht vorgesehen. Der dritte Teil von "Il n’y a que les chansons de variété qui disent la vérité" ist in Vorbereitung. Auf Deutsch ist "Platonow" übrigens jetzt gerade im Zürcher Schauspielhaus zu sehen, in einer bemerkenswerten Inszenierung von Barbara Frey.