Freitag, 11. September 2009

Vor langer, langer Zeit

Konstantinopel (der Name „Istanbul“ wird nicht gebraucht) ist für die Griechen nicht irgendeine Stadt – es ist die Stadt schlechthin, i Poli; ein Jahrtausend lang politisches, religiöses und kulturelles Zentrum des byzantinischen Reiches bis zur Eroberung durch die Türken 1453, und auch nach dieser Katastrophe, die im kollektiven Bewusstsein noch bedrückend präsent ist, Fokus der griechischen Kultur, die einzig wahre Stadt und ideelle Hauptstadt der in den Dörfern über zwei Kontinente verteilten Griechen. In der jüngeren Vergangenheit haben Nationalismus und gegenseitiger Hass das mehr oder weniger friedliche Zusammenleben entscheidend sabotiert. Nach den schmählich gescheiterten griechischen Grossmachtplänen 1922 mussten Griechen und Türken im Rahmen der ersten ethnischen Säuberung in Europa jeweils zu Hunderttausenden ihre Heimat verlassen; zu den wenigen Ausnahmen, die bleiben durften, gehörten rund 100’000 Griechen in Konstantinopel. Die antigriechischen Gesetze von 1932, erst recht dann die antigriechischen (bzw. antichristlichen und -jüdischen) Pogrome vom 6./7. September 1955 vertrieben die meisten dieser letzten Vertreter einer alten Tradition aus der Stadt; zurück blieb ein kleines, langsam aussterbendes Häufchen von gerade mal viertausend Personen. Die traurige Geschichte der alten Kaiserstadt ist ein Kulminationspunkt der schwierigen, gegenseitig immer wieder extremistisch angeheizten und erst in den letzten Jahren vorsichtig etwas entspannten Beziehung zwischen Griechen und Türken.

Sich literarisch auf dieses verminte Terrain zu wagen, ist nicht jedermanns Sache; wohl aber diejenige von Petros Markaris. Selber in Konstantinopel geboren und aufgewachsen (Vater Armenier, Mutter Griechin), in Österreich ausgebildet, in Athen wohnhaft, ist der Ökonom, Drehbuchschreiber, Übersetzer und Krimiautor ein Wanderer und Mittler zwischen den Kulturen mit feinem Sensorium für Unausgesprochenes und Ungerechtigkeiten. In seinem neuesten Krimi, Παλιά, πολύ παλιά (Vor langer, langer Zeit; zu Deutsch Die Kinderfrau) schickt er Kommissar Charitos, seinen liebenswürdig-grimmigen Helden, auf Städtereise nach Konstantinopel und führt uns mit ihm zusammen durch die Stadt seiner Kindheit, in die geschlossenen Schulen, leeren Kirchen und zerfallenden Häuser der Griechen - und in deren volles Altersheim. Ohne seine Untergebenen, die er nach Belieben anbellen und herumhetzen kann, ohne sein Feeling für Stadt und Menschen, das ihn in Athen immer gut leitet, reduziert auf die Nebenrolle als Begleiter seines türkischen Kollegen, ist Charitos kaum wiederzuerkennen. Plötzlich entdecken wir neue, sympathische, ganz normale Züge am ruppigen Kommissar. Einzig die üblichen kleinen Wortgefechte mit seiner Frau erinnern an die früheren Fälle – und natürlich seine Obsession für Strassen und Routen innerhalb einer Stadt.

Der eigentliche Kriminalfall ist nur ein Vorwand für das Buch, denn Identität und Motiv der Mörderin sind nach wenigen Seiten klar und verständlich. Vielmehr geht es darum, dass die Blutspur, die sie in Konstantinopel hinterlässt, eine Spur in die schmerzhafte Vergangenheit einer alten, mehrfach vertriebenen Frau ist. Es geht um die Situation der griechischen Minderheit, die der in Deutschland geborene türkische Polizist Murat viel besser versteht als sein griechischer Kollege Charitos. Es geht um Verständnis und Misstrauen. Es geht um gut und böse und darum, dass es nicht reicht, einem bestimmten Volk anzugehören, um gut oder böse zu sein. Es geht auch darum, wie vieles Griechen und Türken einen würde, wenn sie nicht auf das Trennende starren würden. Und gewissermassen ist Vor langer, langer Zeit ein vorgezogenes Requiem auf dreitausend Jahre griechisches Leben und griechische Kultur in Byzanz/Konstantinopel/Istanbul. Das alles ist viel Material für gerade mal dreihundert Seiten. In seinem bisher persönlichsten Krimi gelingt es Petros Markaris, eine schwierige Geschichte mit überraschender Leichtigkeit und fast heiterer, gelassener Melancholie zu erzählen.


Technisches: Wie alle Krimis von Markaris ist auch dieser hier von Michaela Prinzinger (kongenial, wie man hört) ins Deutsche übersetzt worden und bei Diogenes erschienen: Petros Markaris, Die Kinderfrau. Ein Fall für Kostas Charitos. ISBN 978-3-257-06696-8. Auf Griechisch wird Markaris von Gavriilidis verlegt.

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