Samstag, 22. Dezember 2007

Der nackte Wahnsinn

„Der nackte Wahnsinn“ (Noises Off) von Michael Frayn ist eine der erfolgreichsten Komödien der letzten Jahre; ein rasanter, hintergründiger Slapstick-Spass, basierend auf dem Motiv vom Theater im Theater. Eine mittelmässige Provinz-Schauspieltruppe spielt darin einen grotesk überzeichneten Schwank namens „Nackte Tatsachen“, der sich vor allem durch das häufige und präzis getimte Öffnen und Schliessen von sieben Türen auszeichnet. Frayns Kunstgriff ist es, dem Publikum dreimal den ersten Akt dieses Machwerks zu präsentieren: Einmal während der Hauptprobe, dann in der Mitte und ein drittes Mal am Ende der Tournee.

Am Theater an der Effingerstrasse kostet Stefan Meier das Slapstick-Potential des Stücks voll aus. Er inszeniert es rasant und leicht überzeichnet und schenkt dem Publikum nichts (vor allem kein schnelles Ende – erst um 22:50 Uhr ist fertig). Im ersten Akt ist das Chaos noch mühsam gebändigt: Obwohl das Requisitenhandling, die Präzision und allgemein die Konzentration stark zu wünschen übrig lassen, besteht für die Premiere doch noch Hoffnung. Die diversen Affären und damit Liebes- und Hassbeziehungen zwischen den Akteuren sind noch einigermassen dezent und unter Kontrolle. Das erlaubt dem Publikum, das Stück im Stück und die dramatis personae kennen zu lernen, damit es nachher den Verwicklungen folgen kann. Und die kommen nicht zu sparsam. Im zweiten Akt wird der Turbo gezündet: Wir sehen die Bühne von hinten und folgen der dramatischen Handlung mit maximal halber Aufmerksamkeit, da die Eifersuchts- und Hassszenen zunehmend verzwickter werden. Das ist höchst dicht, komplex und umwerfend komisch, ein Konzentrat von Komödie, und man müsste zwei Köpfe samt Inhalt haben, um allen Verwicklungen folgen zu können. Der dritte Akt fällt dagegen an Intensität fast ein bisschen ab: Auf der Bühne ist nun wieder die Bühne, und die Probleme, Konflikte und Blackouts können nicht mehr überkleistert werden. Einige improvisieren tapfer und durchaus virtuos, andere spulen unbeirrt ihr Programm ab oder fallen völlig aus ihrer Rolle. Das Stück artet in ein unkontrolliertes Chaos aus, die bedauernswerten Akteure humpeln körperlich und seelisch sichtbar angeschlagen durch die Kulissen.

Ein vergnüglicher Abend also. Interessant fand ich, dass mich durchwegs diejenigen Schauspieler am meisten überzeugten, die nur eine Rolle zu spielen hatten, also die Nicht-Schauspieler im Stück. Von ergreifend sarkastischer Verzweiflung war der bedauernswerte Regisseur; naiv-betulich und generell ein bisschen der arme Tropf seine Assistentin, Souffleuse und selbsternannter guter Geist hinter den Kulissen; als wahres Multitalent entpuppte sich schliesslich Tim der Requisiteur, der am Ende als einziger noch alle Fäden einigermassen (einigermassen!) zusammenhielt. Bei denjenigen, die einen Schauspieler spielten, der eine Rolle zu spielen hatte, sahen sich Rolle und Person sehr ähnlich. Ich fand das zunächst etwas schade, schreibe es aber der Mittelmässigkeit der Provinztruppe zu, von der das Stück handelte: Von solchen Schauspielern sind keine Charakterdarstellungen zu erwarten – ganz im Gegensatz zu den „richtigen“ Schauspielern, die auf der Bühne an der Effingerstrasse standen. Wobei ich mir die Frage nicht verkneifen konnte, was wohl hinter dieser Bühne abging. Das wäre dann das Stück, das ich am allerliebsten gesehen hätte...


Technisches: „Der nackte Wahnsinn“ steht noch bis am 12. Januar 2008 auf dem Spielplan des Theaters an der Effingerstrasse.

Erdenritt

Der spektakuläre Trailer zu Earth („Unsere Erde – Der Film“) hat mich in Bann geschlagen: Atemberaubende Flüge über gigantische Wasserfälle versprach dieser, Schwärme von Vögeln sonder Zahl, Eisbären, Wale und Elefanten. Der Film hielt die Versprechen. Noch nie, so erfährt man, wurde ein so aufwendiger Naturfilm gedreht. Er basiert auf der BBC-Serie Planet Earth. Fünf Jahre, Millionen von Pfund und Spitzentechnik hatte Regisseur Alastair Fothergill zur Verfügung, und er hat sie gut genutzt. An Dutzenden Tieren ist er hautnah dran; raffinierte Zeitraffer lassen ein Jahr in wenigen Sekunden vorüberziehen, Eis und Meer, Wald und Wüste sind die Schauplätze. Handlungsgerüst ist eine fiktive Reise vom Nord- zum Südpol. Protagonisten sind in erster Linie eine Eisbärenfamilie, eine Elefantenherde und ein Buckelwal mit seinem Jungen, daneben Tausende anderer Tiere. Die Erzählung betont zwei Dinge: das Fressen und Gefressenwerden und den fühlbaren und potentiell verheerenden Einfluss des Klimawandels auf die Tiere des ganzen Planeten. Ersteres verleiht dem Film zeitweise einen leicht penetranten Action-Unterton. Klar sollen wir uns von den schönen Bildern nicht ins Trugbild von einer friedlichen und reinen Natur einlullen lassen; aber dass fast alle Tiere, die wir antreffen, entweder gerade von anderen gejagt werden oder Hungers zu sterben drohen, finde ich etwas starken Tobak. Die Message von der Bedrohung durch den Klimawandel kommt subtiler und nachvollziehbarer herüber: Wir sehen die Eisbären verzweifelt im rasant schmelzenden Packeis rudern, sehen die Elefanten völlig entkräftet durch die Kalahari torkeln, begreifen beim kurzen, aber intensiven Krillschmaus der Buckelwale vor der antarktischen Küste, wie wenig es braucht, um diesen Marathonschwimmern die Lebensgrundlage zu entziehen. Das explizite Nachhaken im Abspann wäre nicht notwendig gewesen – aber gut, so wirds noch unausweichlicher. (Warum dann unbedingt Ford Hauptsponsor sein muss, ist eine andere Frage.)

Die eigentlichen Höhepunkte sind andere: Der Flug über die Angel Falls gehört dazu, der einem das Herz stocken lässt, die unabsehbare Karibu-Herde auf ihrer langen Migration, die riesigen, unglaublich kompakten und beweglichen Fischschwärme, die Jungfernkraniche, die in einem gewaltigen Kraftakt ein winziges Zeitfenster nutzen, um gegen die Fallwinde über den Himalaya zu fliegen. Und dann gibt es ein paar Comedy-Perlen: Der schräge Balztanz des Paradiesvogels natürlich, und vor allem die unglaubliche Flugstunde der Mandarinenten. Ihr Nest liegt hoch auf einem Baum, und sobald die Kleinen den ersten Fuss vor die Tür setzen, sind sie im freien Fall. Unbeeindruckt schlagen sie leicht mit ihren zum Fliegen völlig untauglichen Stummelflügeln, prallen ungebremst auf den weichen Waldboden und springen auf wie von einem Trampolin. Da lachte Gross und Klein im Kinosaal (es war Sonntagnachmittag), und besonders ein kleiner Kinogänger war begeistert. Er hatte eben ein neues Wort gelernt, und das passte wunderbar: „Bébé!“

Freitag, 7. Dezember 2007

Tanz handelt vom Tanz

Vor einer Woche war ich am ersten Ballettabend der neuen Tanzchefin Cathy Marston und ihrer Compagnie im Stadttheater Bern. Unvorbereitet wie ich war habe ich ein Programmheft gekauft, von dem ich ebenso begeistert war wie vom Geschehen auf der Bühne und im Orchestergraben. Deshalb hier ein paar Zitate daraus:

Tanz handelt vom Tanz.
(Hans van Manen, niederländischer Choreograf)

Dieser Satz hat mein Verständnis von Tanz wesentlich befördert. Die paar Tanzabende, die ich in meinem Leben gesehen habe, kann man noch fast an zwei Händen abzählen. Meine Analyse dieser Kunstwerke beruht exklusiv auf Learning by Doing. Intuitiv ging ich davon aus, dass die Bewegungen auf der Bühne eine Handlung, eine Aussage transportieren, die es zu entschlüsseln gelte. Van Manen belehrt mich eines Besseren: „Es darf nicht so sein, dass man versucht, mit Bewegung Wörter zu imitieren.“ Tanz stellt in erster Linie sich selber dar. Van Manens Choreografie „Concertante“ zur Petite Symphonie Concertante op. 54 von Franck Martin zeigt, was gemeint ist. Zunächst entsteht eine Bewegungsrichtung, von rechts nach links. Die Tänzer folgen und verfolgen sich. Dann wachsen aus diesem Grund und diesen Linien Formen und Paare. Die Bewegungen werden komplexer, der Raum wird gefüllt. Tanz und Musik sind so eng verflochten, dass nicht klar ist, was zuerst war – sie scheinen beide miteinander und füreinander entstanden zu sein. (Hat da jemand Gesamtkunstwerk gesagt?)

Mit einem unterdrückten und oft überwältigend dissonanten Klang ist Reichs „Triple Quartet“ eine seiner verwunschensten Kompositionen. In dem unnachgiebigen Fortschritt der Musik steckt eine Energie, die erst irgendwann, nachdem der letzte Ton verklungen ist, endet.
(Doug Varone, amerikanischer Choreograf, zu Steve Reichs Triple Quartet für Streichorchester)

Im Rückblick erscheint mir Doug Varones Choreografie „Of the Earth far Below“ als kurzes und heftiges Kabinettstück. Steve Reichs Musik peitscht mit grossem Gestus, schneidender Dissonanz und treibenden, streicherbetonten Rhythmen die Tänzer über die Bühne. Der Tanz ist rasant und von artistischer Präzision. Die Körper rennen, gleiten und fliegen wie in einem Kampf ohne Konfrontation. Das Stück ist von knapper Brillanz.

Bekanntermassen ist es schwer, Politik zu vertanzen.
(Cathy Marston)

Das war mir nicht bekannt; oder besser gesagt, ich habe mir die Frage nie gestellt. Da ich nun allerdings Cathy Marstons Feuervogel-Choreografie gesehen habe, muss ich ihr widersprechen: Politik besteht aus Inszenierungen, Positionskämpfen und Machtmarkierungen, aus Beziehungen und Koalitionen, aus Öffentlichkeit und Heimlichkeiten. Mir scheint der Tanz wie kaum eine andere Kunstform geeignet, diese Dynamiken aufzunehmen und zu verarbeiten. Ja, ich wundere mich fast, weshalb Politik nicht öfter vertanzt wird.
Marston projiziert das alte russische Märchen vom Feuervogel in die politische Tagesaktualität des beginnenden 20. Jahrhunderts, der Entstehungszeit von Strawinskys Ballettmusik. Sie identifiziert den Feuervogel mit dem schillernden Rasputin, dem Vertrauten der Zarenfamilie in den bedrückenden Tagen des Ersten Weltkriegs. Und es zeigt sich: Wenig charakterisiert eine Person so präzise und unmittelbar wie ihre Bewegungen. In einem klassischen, operettenhaften Setting agieren die glücklosen Protagonisten, diese tragischen Figuren, in den vorgezeichneten Bahnen ihrer Persönlichkeit. Deren Zeichnung ist vielschichtig: Eindrücklich der Zar, der zwischen politischer Pflicht, Militärkameradschaft, Verzweiflung um seinen Sohn und herzlicher Zuneigung zu den Töchtern sichtbar hin- und hergerissen ist. Und faszinierend das Porträt von Rasputins Mörder Felix, diesem Offiziers-Macho, der gleichwohl vom mystischen Prediger magisch und erotisch angezogen wird.

Ohne Repertoire gibt es keine Tradition. Und ohne Tradition gibt es keine Verbindung zu all dem, was vor der Gegenwart getan wurde. Tradition ist nichts, was mit Vergangenheit zu tun hat. Tradition ist das, was wir heute mit der Vergangenheit tun. Die Zukunft ist, die guten Dinge der Vergangenheit zu entdecken und auf ihnen aufzubauen.
(Nochmals Hans van Manen)

Prominent platziert auf der inneren Umschlagseite des Programmhefts - ein Manifest für die neue Compagnie am Stadttheater Bern? Die letzten drei Jahre hat Stijn Celis die zeitgenössische Tanzsprache auf die Bühne des Stadttheaters Bern gebracht. Das war spannend und experimentell und schwierig. Die Antrittsvorstellung von Cathy Marston hat mich neugierig gemacht auf einen Tanzstil, der sich stärker aus der Beziehung zu seinen Wurzeln nährt. Ich freue mich, diese Facette von Tanz in Bern in nächster Zeit öfter zu sehen.


Technisches: Tanz3 steht noch bis am 31.01.08 auf dem Spielplan des Stadttheaters. Passend zum Personalwechsel im Stadttheater gibt Kristina Soldati im Kulturmagazin ensuite (November 07, p.6-7) dem interessierten Laien eine fundierte Gesamtschau zur Entwicklung des modernen Tanzes.


[UPDATE: Die Einführung von Kristina Soldati ist einfacher auch auf ihrem Blog tanzkritik.net verfügbar. Dort finden sich auch fortlaufend sämtliche Artikel ihrer Reihe "Die Anfänge des Modern Dance".]

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Klimawandel greift Gehirne an

Den Skeptikern des menschenverursachten Klimawandels scheinen langsam die Argumente auszugehen – und die Gewährsleute. Ihr Publikationsorgan, die Weltwoche, musste jedenfalls letzte Woche Hanspeter Born extra nach Prag schicken, damit ihm der tschechische Staatspräsident Václav „Ich habe ein Buch geschrieben“ Klaus seine Ideologie diktieren konnte; ein Ökonom, der vom Thema mehr verstehen will als die 2500 Wissenschaftler des IPCC:

„Erstens: Die Wissenschaftler sind nicht besser als normale Leute. Um den Planeten zu retten, haben sie keinen komparativen Vorteil. ... Zweitens: Sie haben 2500 Leute genannt. Wenn wir dies genau anschauen, sind nur 80 von ihnen wirkliche Klimatologen. Aber das ist auch kein Argument.“

Ist es allerdings nicht, Herr Klaus, im Gegenteil. Und das hätten Sie, Herr Born, ja auch zum Anlass für eine kritische Nachfrage nehmen können, anstatt (wie so häufig) nur den Stichwortlieferanten zu spielen. Die Absurdität von soviel Arroganz wäre belustigend – wenn man sich nicht darüber ärgern müsste, dass die Weltwoche vier Seiten für dümmliche Buchwerbung verschwendet, statt über das zu schreiben, was wirklich interessiert.

Montag, 3. Dezember 2007

Medea

Vor drei Wochen war ich im Theater an der Effingerstrasse; gegeben wurde die Medea von Euripides, ein Stück, das ich kenne und liebe und in meiner Gymnasial- und Unikarriere schon mehrmals gelesen habe. Es fällt mir aber schwer, darüber zu schreiben – ich weiss nicht so recht, was ich denken und sagen soll. Hier ist das Problem: „Medea“ ist eine bis zum äussersten stringente und präzise Tragödie. Es brodelt durchgehend. Erzählt wird Medeas Rache. Sie beginnt am Boden zerstört, von ihrem Mann Jason verlassen und aus dem fremden Korinth ausgewiesen, ganz allein und rechtlos – und setzt dann geduldig, hartnäckig, unerbittlich Stück um Stück ihres Racheplans zusammen: Sie gewinnt die Solidarität der Korintherinnen, erwirkt einen kurzen Aufschub der Ausweisung, sichert sich eine Zuflucht in Athen, lullt den treulosen Gatten in Sicherheit – und schlägt dann zu. Mit ihrem Triumph, um einen fürcherlichen Preis erkauft, endet die Tragödie.

Soweit Euripides, und man mag verstehen, dass ich eine Inszenierung erwartet habe, welche diese Gestalten von archaischer Grösse schonungslos aufeinanderprallen und Rechenschaft über ihr Tun ablegen lassen würde. Und dann dies: Das Drama ist verhalten, recht eigentlich episches Theater in Brechtscher Tradition; Emotionen schaffen es kaum über die Oberfläche; die Figuren haben im schlicht-gräzisierenden Dekor eine Tendenz zur Schablone. Zwei Dinge tragen wesentlich dazu bei. Einmal die Übersetzung: eher philologisch als poetisch (was ich üblicherweise durchaus für eine Qualität halte), verstärkt sie den Verfremdungseffekt. Sie scheint mir nicht für die Bühne geschrieben, im Mund der Schauspieler wird sie zur elaborierten Rezitation. Und dann der Chor, diese Knacknuss einer jeden modernen Inszenierung von antikem Drama. Die korinthischen Frauen werden zu einer einzigen, einer distanzierten Vertrauten von Medea. Das ergibt schöne Szenen der Solidarität, aber auch gesucht wirkende Auftritte, wenn die Korintherin sich – mitten in einem Dialog zweier Figuren – aus dem Halbschatten am Bühnenrand erhebt, in die Mitte tritt, etwas Gutes, Wahres, Schönes spricht und wieder in den Schatten zurückkehrt.

Dies also ist mein Dilemma: Ist das Theater an der Effingerstrasse, indem es eine griechische Tragödie kaum aktualisiert und mit Effekten äusserst zurückhält, jetzt vielleicht gar Avantgarde, und ich sensationshungriger Simpel habe es gar nicht gemerkt? Oder hat es Regisseur Markus Keller einfach verpasst, einen entscheidenden Trumpf zu spielen, nämlich die Emotionalität des Stücks? Er hat den Text in den Mittelpunkt gestellt, und das durchaus zu Recht. Dieser Text ist von einer bedrückenden Aktualität und einer Qualität, die locker den Abend trägt. Damit könnte ich eigentlich die Besserwisserei sein lassen, wenn es nicht ein starkes Argument für die verpasste Emotionalität gäbe: die Medea der wunderbaren Sabine Krappweis. Auch da ist vor allem Verhaltenheit, aber was für ein Vulkan brodelt unter der Oberfläche! Im flammend roten, langen Kleid lässt Krappweis hinter jedem Drehen des Kopfes, jeder Handbewegung, jedem Blick Abgründe von kaum gebändigten Emotionen aufblitzen und spielt damit die ganze Gesellschaft an die Wand. Das soll sie auch – es ist ihr Stück, ihr Plan, ihre Rache, und wie sie zum Beispiel Kreon, nominell der König des Landes und derjenige, der ihr die Ausschaffung ankündigt, als vertrottelten Alten erscheinen lässt, ist von schneidender Brillanz. Trotzdem würde man es gerne sehen, wenn auch die anderen Figuren die Ungeheuerlichkeiten, die sie sehen und begehen, etwas unmittelbarer fühlen liessen, statt sie nur zu referieren. Der Bote, der doch soeben den grausamen Tod Kreons und seiner Tochter miterlebt hat, berichtet davon wie von einem Autounfall mit Sachschaden. Und Jason, der Braut und Schwiegervater verloren hat und mit ansehen muss, wie Medea über den blutigen Leichen der gemeinsamen Söhne stehend triumphiert, greift sich ein bisschen ans Herz, als wäre er zu schnell gerannt. Mit Verlaub: Das würde man nur zu gerne mit dem gleichen unterirdischen Brodeln sehen, das einen bei Medeas Rache so atemlos in den Sessel gedrückt hat.


Technisches: Da ich so spät blogge, ist die Dernière inzwischen bereits vorbei. Eine Kurzkritik findet sich im Blog von Dan Riesen. Wie schon beim Revisor in Biel war der Bund-Kritiker deutlich begeisterter als ich. Ich mag Herrn Gosteli das gute Echo natürlich von Herzen gönnen und sage hier gerne noch ein bisschen deutlicher, dass auch ich das Theater mit starken Eindrücken verlassen habe.