Samstag, 29. November 2008

Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?

Die griechische und überhaupt die weltweite Theatergeschichte beginnt mit einem Donnerschlag: mit den Persern von Aischylos, einem Stück von archaischer Wucht. Es ist offensichtlich, dass diese Kunstgattung noch jung ist. Von dialogisch fortschreitender Handlung ist erst wenig zu sehen; vielmehr sind da einzelne, lange Reden aneinandergereiht, von wenig Austausch mit dem Chorführer aufgelockert, aber durch ausführliche, reflektierende und vorbereitende Chorlieder verbunden. Gleichzeitig hat Aischylos in schöpferischer Kühnheit die bereits etablierte Tradition verletzt, dass Tragödien einen mythologischen Inhalt haben sollen, um ein zeitgeschichtliches Ereignis darzustellen: die Niederlage des persischen Heeres in Salamis und Plataiai – das zeitgeschichtliche Ereignis ohne Zweifel, noch frisch in der Erinnerung und durchaus von mythischer Grösse. Das grandiose Scheitern des mächtigsten Mannes seiner Zeit, des Perserkönigs Xerxes, interpretiert Aischylos in der Optik der Tragödie als Resultat von Hybris. Der für die griechische Weltanschauung so charakteristische Begriff meint eine Kombination von Übermut und Verblendung: Xerxes dient also, einem Sagenkönig ähnlich, als Modell für menschlichen Wahn und göttlich bedingtes Scheitern.

Am Zürcher Schauspielhaus bringt Stefan Pucher dieses Monument auf die Bühne, und er gibt ihm eine zusätzliche Schärfe. Nicht nur wird der Besiegte von Salamis als Mensch gezeichnet, der sich über den ihm zustehenden Rahmen erhoben hat und darob gestürzt ist, sondern das Geschehen am persischen Hof wird als zeitloses Muster dafür präsentiert, wie eine erstarrte Grossmacht auf eine existenzielle Krise reagiert – nämlich fahrig und realitätsblind. Angelegt ist das schon bei Aischylos: Gefühlt die Hälfte des Textes besteht aus ausführlichen Aufzählungen der persischen Gebiete, Untertanen, Heerführer, Dynasten. Wir sind, erklärt der chefbeamtenhafte Chorführer in gesetztem Ton, wir haben, wir können, wir, wir... Charakteristisch für diesen vollständig auf sich selber gerichteten und mit sich selber beschäftigen Staat ist Königin Atossas schon fast hilflose Frage: „Wo, um Himmels Willen, liegt dieses Athen?“ – und ihr arrogantes Gelächter, als sie erfährt, dass es sich bei dem ihr unbekannten Gegner absurderweise um eine Demokratie handelt. Als dann die Katastrophe, die in dichter, gespannter Befürchtung schon erahnbar war, zur Gewissheit wird, schalten die Spitzen des Reiches nach nur kurzer, wenn auch intensiver Betroffenheit übergangslos zur Schadensbegrenzung. Und es ist erschreckend zu sehen, dass sie dazu die gleichen Methoden verwenden, die uns Heutigen bestens vertraut sind: Beschwörung der guten alten Zeit, möglichst schnelle Schuldzuweisungen, sofortige Herrschaftssicherung um jeden Preis. Als Tröster und Erklärer aus der Unterwelt zurückgebeten wird der verstorbene König Dareios, der Vater des Xerxes. Ausgerechnet er, der vor gerade mal zehn Jahren selber jämmerlich auf einem Feldzug nach Griechenland gescheitert ist, darf jetzt mit fast genervt nonchalantem Gestus darlegen, was der Junior alles falsch gemacht hat; und der Hof hängt an seinen Lippen. Schnell sind so der einzig Schuldige und der wahre Fehler gefunden: Xerxes hat es gewagt, den Hellespont auf einer Schiffbrücke zu überqueren, hat also gewissermassen dem Meer Fesseln angelegt und sich mithin über die göttliche Ordnung hinweggesetzt. Doch wenn er nur, so das immer stringentere Mantra von Atossa, zwar verletzt und geschlagen, aber lebendig zurück kommt, dann bleibt er König, weil es nämlich gar nicht anders sein kann.

Dadurch, dass er dieses bestens eingespielte Vorgehen zur Bewältigung des Unvorstellbaren überdeutlich sichtbar macht, verlagert Pucher den Fokus des Stücks von der Hybris des Xerxes zur Hybris der persischen Führungsriege, zu ihrem Erstarren in der Selbstgenügsamkeit und zu ihrer absoluten Unfähigkeit zur Selbstkritik. Als Xerxes dann schliesslich, blutbefleckt und mit zerrissenem Mantel, tatsächlich eintrifft, verhallt sein Wehgeschrei praktisch echolos. Atossa ist schon weg, der Chefbeamte verstolpert sich zwischen Unterwürfigkeit, Jammer und unscharfer Kritik; die Trauer des geschlagenen Königs läuft sich in einer Art Endlosschlaufe zu Tode. Echte Trauer, Selbstanklage, Einsicht sind an diesem Hof nicht gefragt.

Wir sahen auf der Pfauenbühne eine dichte, überraschend kurze Inszenierung von Aischylos’ Meisterstück. Bühne und Kostüme evozierten den lächerlich-kitschigen Prunk moderner Potentaten, lenkten die Aufmerksamkeit auf die eitle Selbstbespiegelung der Machthaber. Ominöse Videoprojektionen durchzogen schwarzweiss den Hintergrund. Nicht erschlossen haben sich mir Sinn und Funktion der Popsongs, in welche der Botenbericht und die Reaktion der Königin ein bisschen überschäumend gemündet haben. Das hervorragende Schauspielensemble hingegen (Jean-Pierre Cornu als Chorführer, Catrin Striebeck als Atossa, Daniel Lommatzsch als Bote, Robert Hunger-Bühler als Dareios und Oliver Masucci als Xerxes) verdient höchstes Lob für die Konzentration, mit der es dieses ernste, archaische Stück durchdrungen und getragen hat.


Technisches: Die Perser stehen am Zürcher Schauspielhaus im Dezember noch viermal auf dem Programm, Billette können online bestellt werden.

Mittwoch, 26. November 2008

Kultur?

Philipp Gut, so entnehmen wir der aktuellen Jubiläums-Weltwoche, wird neuer Ressortleiter Kultur und Wissen des Blattes. Dazu qualifizieren ihn laut der Hausmitteilung unter anderem seine Erfahrung auf der Kulturredaktion des Tages-Anzeigers und seine preisgekrönte Dissertation über Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. So weit, so gut, denken wir, blättern ein paar Seiten weiter – und stolpern in einem Bericht Guts zu einer Studie, welche schweizweit die Leistungen der Maturandinnen und Maturanden in den Fächern Erstsprache, Mathematik und Biologie analysiert hat, über diesen Satz: „Besonders gut schneidet in allen geprüften Fächern das unzeitgemässe Schwerpunktfach Alte Sprachen ab.“ Schade, Herr Gut: Dass Ihnen zu dem Fach, dass sich mit den Grundlagen für einen schönen Teil der abendländischen Kultur auseinandersetzt, ausgerechnet das Adjektiv unzeitgemäss einfällt, disqualifiziert Sie noch vor Amtsantritt umgehend wieder als Kulturchef der Weltwoche.

Dienstag, 18. November 2008

Traktoren

Das Theater an der Effingerstrasse hat bei der Berner rot-grünen Mehrheit einen schweren Stand. Die Gründe sind offensichtlich: Der Altersdurchschnitt beim Publikum liegt in der Regel über Sechzig (ausser wenn gelegentlich die obligate Schulklasse mit drin sitzt), die Stücke haben Anfang und Ende und dazwischen einen nachvollziehbaren Ablauf, und eine nackte Brust gibts, wenns hoch kommt, einmal pro Saison. Damit lässt sich natürlich an internationalen Festivals kein Blumentopf gewinnen, das so begehrte junge und hippe Publikum bleibt fern, und wer Kulturpolitik als Apéropolitik missversteht, findet bessere Locations mit mehr Öffentlichkeitsresonanz. Deshalb hat der unverwüstliche und unermüdliche Theaterleiter Ernst Gosteli regelmässig Absagen einstecken müssen, wenn er um einen kleinen Unterstützungsbeitrag aus der (ansonsten in kulturellen Dingen grosszügigen) Stadtkasse bat; entsprechende, teils leicht absurde Stadtratsdebatten verliefen in der Regel ziemlich genau den politischen Gräben nach; und erst letztes Jahr honorierte Bern das grosse Engagement des kleinen Theaters mit einer Subvention.

Ich bin Gostelis Haus – was sage ich, seinem Keller – seit Studienzeiten mit Zuneigung verbunden. Das liegt daran, dass ich an der Effingerstrasse wesentliche Teile meiner Theaterbildung genossen habe. Die paar wenigen obligaten dramatischen Exkursionen als Schüler eines humanistischen Gymnasiums hatten mich noch nicht zum Adepten gemacht. Den Vorschlag von T. ein paar Jahre danach, man könnte doch gelegentlich zusammen ins Theater gehen, fand ich aber dennoch reizvoll, und wir gesellten uns zum grossen, treuen Abonnementspublikum, das die Effingerstrasse zum meistbesuchten Sprechtheater der Schweiz macht. Das hatte zunächst den Vorteil der Regelmässigkeit: Wir sahen das gesamte Spektrum der Stücke, lernten die Schauspielerinnen und Schauspieler des erweiterten Ensembles kennen und schärften so unsere Augen und unser Verständnis. Dazu kam die Begeisterung für das, was Theater ausmacht: Dass da immer nur das ist, was live passiert, wenige Meter vor unseren Augen, ohne Netz und doppelten Boden, jeden Abend wieder frisch und von vorne.

Mein Abonnement habe ich vor drei Jahren nicht mehr erneuert, aber ich gehe weiterhin gerne an die Effingerstrasse. Diesen Monat wird, der Haustradition der Dramatisierungen von Prosawerken folgend, die „Kurze Geschichte des Traktors auf Ukrainisch“ gegeben, der internationale Bestseller von Marina Lewycka in der Bühnenfassung von Tanja Geier. Die Story vom achtzigjährigen, nach dem Zweiten Weltkrieg nach England emigrierten pensionierten Ingenieur und Traktor-Aficionado, der plötzlich von tiefster Liebe zu einer sechsunddreissigjährigen Ukrainerin befallen wird, und von seinen zerstrittenen Töchtern, die diesem dritten Frühling und seiner Ursache zu Recht misstrauen, da die Schöne den liebestollen Alten gewissermassen mit dessen eigenem Einverständnis nach Strich und Faden ausnimmt, hat reichlich komisches, ja tragikomisches Potential. Leider geht das meiste davon beim Transfer auf die Bühne verloren: Die Geschichte wirkt unrealistisch überzeichnet und durchwegs vorhersehbar; die (durchwegs guten) Schauspieler haben trotz der Länge des Abends kaum Möglichkeiten, ihren scherenschnittartigen Figuren irgendwelche Tiefe zu verleihen; der Schluss ist nicht nur banal-kitschig, sondern auch völlig unmotiviert.

Tags darauf entdecke ich in der Bahnhofsbuchhandlung zufällig die Romanvorlage von Marina Lewycka. Nach kurzem Blättern ist mir klar, warum dieser Traktor als Buch funktioniert: Da ist die älteste Tochter die Erzählerin, und ihre ironisch-witzigen Invektiven kommen immer leicht schräg, nie ganz ernst daher. Der Text hat Schwung und genügend Raum, um sich auszubreiten. Aus dieser Vorlage ein Bühnenstück zu machen, erscheint mir aber so gut wie hoffnungslos – es sei denn als überdrehte Komödie, und das war es nicht.

So bestätigt sich mir eine alte Binsenweisheit aus Abonnementszeiten: Die wahren Perlen einer Spielzeit kommen oft überraschend. Wer sich nur herauspickt, was ihm im Programm gefällt, kann enttäuscht werden. Tröstlich ist bei allem, dass die Faszination der Bühne auch an einem schwächeren Abend wirkt.


Technisches: Der Traktor wird an der Effingerstrasse noch bis am 5.12. gegeben. Die Preise sind fair und Herr Gosteli am Telefon freundlich und speditiv. Wer das Buch vorzieht, findet es bei dtv.

Freitag, 14. November 2008

Vicky Cristina Barcelona

Filme von Woody Allen lassen sich in den letzten Jahren etwas bösartig auf die Formel „schöne Menschen an schönen Orten“ bringen. Die schönen Orte sind dieses Mal Barcelona und Umgebung; die schönen Menschen Scarlett Johansson (natürlich), Penélope Cruz, Javier Bardem und Rebecca Hall. „Vicky Cristina Barcelona“ erzählt vom Sommer in Europa zweier ungleicher Freundinnen aus Amerika und dekliniert anhand ihrer Erlebnisse die Spielarten von Liebe und Beziehung durch. Die verlobte Vicky, deren zukünftiges Leben auf beängstigende Art festgeschrieben scheint, wird trotz massivem Widerstand vom draufgängerischen Charmeur Juan Antonio aus der Bahn geworfen. Die experimentierfreudige Cristina ihrerseits reisst sich geradezu darum, aus jeglichem Ansatz festgeschriebener Bahnen geworfen zu werden, und findet sich ohne grosse Anstrengung in einer intensiven Dreiecksbeziehung mit Juan Antonio und seiner cholerischen Ex María Elena wieder. Mit dem Rückflug nach Amerika lassen die beiden Freundinnen ihr Sommerleben und ihre Sommerlieben in Spanien zurück; sie kommen – oh ironische Wendung – wieder fast genau dort an, von wo sie aufgebrochen waren.

Der Film ist etwas chaotisch, durchaus tiefsinnig, wenn auch leicht überspitzt. Die Möglichkeit und Unmöglichkeit(en) von Liebe und Beziehungen faszinieren und bedrücken. Dass ich dennoch nicht wirklich vom Hocker gerissen wurde, liegt hauptsächlich an Allens Entscheid, den Film durch einen Erzähler kommentieren zu lassen: Unmotiviert schwankend zwischen altklug und witzig, mit einem unnötig pseudo-dokumentarischen Effekt, hat dieser dem Film nichts gebracht, aber viel von seiner Leichtigkeit und Ironie genommen. Bleiben die schönen Menschen und Orte: So waren die anderthalb Stunden im Kino in erster Linie ein Vergnügen für die Augen – für einen Film von Woody Allen ein eher zweifelhaftes Kompliment.


Technisches: "Vicky Cristina Barcelona" läuft wahrscheinlich gerade noch knapp in einem Lichtspielhaus in Ihrer Nähe, und sonst warten Sie halt auf die DVD.