Sonntag, 3. April 2011

Everybody's looking for something

Film, Tanz, Theater – das alles lässt sich durchaus unbefangen geniessen, unmittelbar, unhinterfragt, ohne dass man dem Kunstwerk dabei Unrecht täte. Entscheidend für die Interpretation ist der Interpret, und seine Freiheit ist praktisch unbeschränkt. Wenn ich auf diesem bescheidenen Blog versuche, den Werken, die ich gesehen habe, etwas tiefer auf den Grund zu gehen, so geschieht das nicht aus elitärem Dünkel, sondern aus meinem Interesse, aus dem reichhaltigen Material, das uns geboten wird, mehr als nur den ersten Eindruck herauszulesen. Das macht Spass, ist aber durchaus auch Arbeit. Dass dabei Übung den Meister macht, wird mir (und hoffentlich auch den gelegentlichen Mitlesenden) beispielsweise beim Tanz bewusst, wo ich mich nach ein paar Jahren Schauen und Bloggen inzwischen sicherer fühle, mehr verstehe und besser analysieren und einordnen kann. Ein bisschen schmerzlicher ist das Fazit bei der freien Theaterszene. Da bin ich mangels Erfahrung in der Regel immer noch ziemlich aufgeschmissen, zu wenig vertraut mit dem narrativen, inszenatorischen und musikalischen Vokabular, um zu mehr als einer fragmentarischen Interpretation zu gelangen. Weil dieser Blog aber auch ein Lehrblätz sein soll, kommt hier ein Artikel als learning by doing, oder zumindest als Versuch dazu. Sein Objekt ist Platonow von Anton Tschechow, dessen zweiter Teil kürzlich auf der Bühne des Nouveau Monde in Fribourg zu sehen war.

Hilfreich ist dabei eine Lektion aus der Archäologie: Der Weg zum Verständnis führt über die präzise Beschreibung. Da ist zunächst die kuriose Geschichte des Stückes selber. Tschechow hatte das Manuskript aus Enttäuschung eigentlich vernichtet; erst in seinem Nachlass wurde die Erstfassung wieder entdeckt. Ein namenloses Frühwerk mit einer Spieldauer von gegen acht Stunden – kein Wunder, dass Platonow (so der Ersatztitel) kein Bühnenrenner wurde. Der junge Regisseur Alexandre Doublet hat sich mit seiner Compagnie des sperrigen Stückes angenommen und bringt es adaptiert als Trilogie unter dem Titel Il n’y a que les chansons de variété qui disent la vérité zur Aufführung. Das Setting: eine Party in einer schicken Villa, alles wahnsinnig entspannte thirty-somethings, teils mit Kindern, plus die Hausherrin, die junge Witwe Anne. In der zweiten Episode (Sweet Dreams) geht das Fest langsam in den Abend über. In den netten Fassaden zeigen sich schnell die Risse. Die erfolgreiche Bande kämpft mit Eifersucht und Sticheleien; man mag sich nicht wirklich leiden und teilt ordentlich und unverhohlen nach allen Seiten aus. Wer den Schaden hat (wissenschaftlich oder finanziell), braucht für den beissenden Spott nicht zu sorgen. In brutalen Wortgefechten werden Beziehungskrisen ohne Rücksicht auf Verluste ausgetragen. Die Handkamera hält schonungslos auf die Opfer dieser Kleinkriege drauf, die entwaffnet und wehrlos in den Ecken liegen – bis sie sich in neue Kleider und wieder in den zerstörerischen Mahlstrom des Festes stürzen, als wäre nichts gewesen. Und da sind da noch die chansons de variété: Plötzlich hält der Nahkampf inne, und einer oder mehrere seiner Protagonisten greifen zur Gitarre, trällern uns ein Liedchen – wie eine kurzzeitige Flucht in eine kleine heile Welt, gleichermassen tiefe Einsicht wie zynischer Kommentar zur Ausweglosigkeit ihres Lebens.

So bietet Sweet Dreams mehr als zwei Stunden Material für verschiedene Interpretationsansätze an. Beeindruckt hat mich, wie der schöne Schein demaskiert wird; wie nicht mehr ganz junge Menschen sich gegenseitig von dem schmalen Felsvorsprung in einer endlos hohen Wand, auf dem sie sich gerade so knapp und mühevoll eingerichtet hatten, mit grosser Bosheit hinunterstürzen – und wie sie in einer schwer zu beschreibenden Weise in ihrem Scheitern, ihrem Fallen, so etwas wie eine Statur gewinnen, eine Würde, eine Entschlossenheit, die vorher gespielt war und jetzt irgendwie echt ist.


Technisches: "Sweet Dreams" der Compagnie Alexandre Doublet wurde im Winter 2010/11 auf den koproduzierenden Westschweizer Bühnen gezeigt. Weitere Aufführungen sind momentan nicht vorgesehen. Der dritte Teil von "Il n’y a que les chansons de variété qui disent la vérité" ist in Vorbereitung. Auf Deutsch ist "Platonow" übrigens jetzt gerade im Zürcher Schauspielhaus zu sehen, in einer bemerkenswerten Inszenierung von Barbara Frey.

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