Sonntag, 7. Februar 2010

Von den Altertümern

Mit dem Begriff Ἀρχαιολογία (Archaiologia) bezeichneten die Griechen ganz allgemein die Kunde aus alter Zeit, später auch die Untersuchung der Anfänge einer Kultur, der Vorgeschichte. Schleiermacher übersetzt das Wort bei seinem ersten uns bekannten Vorkommen in Platons Hippias Maior (285d) mit „Altertümer“, und darin klingt schon elegant die Bedeutung an, die uns heute vertraut ist: Die Archäologie ist die Wissenschaft, die sich mit der Erforschung der materiellen Substanz unseres geschichtlichen Erbes beschäftigt.

Und damit zu Hans Georg Niemeyers Einführung in die Archäologie, mit der ich, meinen guten Vorsätzen folgend, noch an Neujahr mein diesjähriges Lektüreprogramm in Angriff genommen habe. Das Buch datiert zwar (in dritter Auflage) von 1983, hat also die Fortschritte des letzten Vierteljahrhunderts nicht mehr mitgekriegt, aber das ist kein Unglück. Was es bietet, ist ein kurzgefasster, präziser und sehr gelehrter Überblick über die wissenschaftliche Disziplin Archäologie, und wenn da und dort methodisch oder definitorisch ein weniges nachzutragen wäre, bleibt doch alles Wesentliche gültig. Im Fokus des Buches steht das Objekt der Archäologie, die Denkmäler. Die klare und übersichtliche Darstellung beginnt mit ihrer Überlieferung, Wiedergewinnung und Beschreibung und führt über Kapitel zur Zeitbestimmung und zu Stil, Entwicklung, Struktur schliesslich zur Erklärung und Deutung. Das alles ist in jenem schönen literarischen Deutsch des klassischen Gelehrten abgefasst, das die Lektüre zu einem intellektuellen Genuss macht.

Von besonderer Dichte, Prägnanz und Eleganz sind einleitend die nur zwölf Seiten zur Geschichte der Archäologie als universitäres Lehrfach. Ihre Wurzeln liegen bekanntermassen im Klassizismus des 18. Jahrhunderts, verkörpert vor allen anderen durch den „Gründerheros“ J.J. Winckelmann. Neben der Wiederentdeckung der antiken Kunst (und ihrer Erhebung zum Ideal) verdanken wir ihm vor allem den Begriff der Entwicklung, der heute als Selbstverständlichkeit angesehenen Abfolge verschiedener Epochen und ihrer Stile. Die Etablierung der Archäologie an den Universitäten und damit als Wissenschaft in ihrem eigenen Recht wurde von klassischen Philologen betrieben, die als erste auf die neu errichteten archäologischen Lehrstühle berufen wurden und das Fach in seinen Anfängen entscheidend prägten. Mit den grossen Ausgrabungskampagnen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (in Mykene, Troia, Olympia, Delphi und anderswo) – und erst dann! – wurde die Archäologie zur Grabungswissenschaft und erweiterte gleichzeitig ihren Horizont von den römischen auf die bald in grosser Zahl zugänglichen griechischen Denkmäler. Die Betrachtungsweise blieb jedoch eine kunstgeschichtliche; erst deutlich im 20. Jahrhundert wuchs das Interesse an der materiellen Hinterlassenschaft der Antike im weiteren Sinn, womit auch der Verzicht auf die Idealisierung des Klassischen einher ging.

Archäologie und klassische Antike bleiben aber für Niemeyer untrennbar verbunden. Das wird auf den ersten Seiten des Buches deutlich, wo er die (oben kurz angedeutete) Begriffsdefinition zu einem programmatischen Bekenntnis nutzt: Da unser geschichtliches Erbe dasjenige der klassischen Kulturen des Mittelmeerraumes ist, ist die Wissenschaft, die sich mit den Denkmälern dieser Kulturen befasst, die Archäologie schlechthin. Alle anderen Archäologien benötigen ein charakterisierendes Beiwort. (Und Disziplinen wie der altamerikanischen Archäologie spricht er die korrekte Verwendung des Begriffs mit leichter Polemik gar ab, da es bei ihrem Studienobjekt nicht um ein lebendiges historisches Erbe gehe.) Diese Position ist mit Blick auf die Geschichte des Fachs unbestreitbar korrekt. Was mir übertrieben (und damit eben doch wieder klassizistisch) scheint, ist die Einschränkung des europäischen historischen Erbes auf die griechische und römische Antike. Die Mittelalterarchäologie mag zur Abfassungszeit der vorliegenden Einführung noch wenig etabliert gewesen sein; ihr Forschungsgegenstand ist für das Verständnis der abendländischen Gegenwart jedoch nicht weniger wichtig als die Antike. Und die vor- und frühgeschichtliche Archäologie ist stetig mit der äusserst komplexen Aufgabe befasst, solche Aspekte unserer Geschichte zu erhellen, die kaum durch literarische Überlieferung beleuchtet sind. Dass die verschiedenen Archäologien nicht scharf gegeneinander abzugrenzen sind und methodisch ohnehin alle voneinander profitieren, gesteht Niemeyer aber diskussionslos zu.

Die Einführung in die Archäologie war für mich eine ideale Einführung in die erneute Beschäftigung mit der Antike. Die klare Darstellung ihrer Methodik und Struktur wird mir als Leitfaden für die weitere Lektüre dienen.


Technisches: Hans Georg Niemeyer, Einführung in die Archäologie. Darmstadt, WBG 31983. ISBN 3-534-03962-9.

[UPDATE: Bei der Jungius-Gesellschaft und beim Projekt Gutenberg hat die Linkstruktur geändert...]

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen