Sonntag, 18. März 2012

Von Laokoon zur Skylla: Archäologische Ermittlungen

Archäologisches habe ich in letzter Zeit regelmässig gelesen und hier auch darüber berichtet. Aber eine Monografie, die mit elegantem, sicherem Strich das Porträt nicht nur einer, sondern gleich mehrerer Epochen entwirft, die aus der Alten und Neuen Geschichte ihre Quellen heranzieht und deutet, die von eigenen, spektakulären Ausgrabungen berichten kann, und die all diese Fäden mit deutscher Gelehrsamkeit zu einem Gesamtbild verwebt, zu einer neuen Interpretation eines bekannten, ja berühmten Bildwerks – ein solches Buch ist kein alltägliches Phänomen. Deshalb ist hier zunächst das Vergnügen zu erwähnen, das mir die Lektüre von Bernhard Andreaes 1988 erschienenem Band über Laokoon und die Gründung Roms bereitet hat. Ansetzend bei der frühen Rezeptionsgeschichte der Laokoon-Gruppe referiert er die verschiedensten archäologischen, historischen und philologischen Themenkomplexe, taucht unvermittelt in detaillierteste Stilkritik ein, streift dabei wie von ungefähr Indizien, die sich viel später als entscheidend herausstellen sollen, um dann nach dieser Ausbreitung seines gesamten argumentativen Materials mit unerbittlicher Stringenz auf seine Schlussfolgerungen hin zu fokussieren. Das ist hochwissenschaftlich und gleichzeitig beste Unterhaltung.

Der vatikanische Laokoon steht also im Zentrum von Andreaes Überlegungen: eine der bedeutendsten antiken Skulpturen, weit über die Spezialistenzirkel hinaus bekannt und berühmt, was sich beispielsweise in einer Fülle von Parodien und künstlerischen Zitaten äussert. In den Jahrhunderten der Forschung und Rezeption haben sich die Widersprüche um die Datierung (und damit um die kunstgeschichtliche Einordnung) dieses Meisterwerks immer stärker akzentuiert und schliesslich in eine vollkommene Aporie gemündet. Eine etruskische Gemme, die gemäss Andreae eindeutig die Laokoon-Gruppe zum Modell hatte, liefert einen terminus ante quem kurz nach der Mitte des 2. Jh. v.Chr., in welches die Gruppe gemeinhin auch aus stilistischen Überlegungen datiert wurde. Der hintere Teil des Altarblockes jedoch ist aus Marmor von Carrara gearbeitet – von einem Steinbruch also, der erst um 50 v.Chr. eröffnet wurde. Diese Aporie aufzulösen, hat sich Andreae zur Aufgabe gemacht.

Im Rückblick erstaunt, dass die eigentlich nächstliegende Lösung nie wirklich in Betracht gezogen wurde: dass nämlich der vatikanische Laokoon eine römische Marmorkopie eines hellenistischen Bronzeoriginals sein könnte. Andreae identifiziert den Grund dafür im schieren Nimbus dieses Kunstwerkes. Es gehört zu den wenigen, die in der uns erhaltenen antiken Literatur erwähnt sind, notabene vom römischen Universalgelehrten Plinius dem Älteren höchstpersönlich, der den Laokoon allen anderen Werken der Malerei und Bildhauerkunst vorziehen wollte (so jedenfalls die herkömmliche Übersetzung der entsprechenden Passage in Naturalis historia 36, 37). Und in seine Auffindung war ein illustres Dreigestirn – Papst Julius II., sein Architekt Giuliano da Sangallo und Michelangelo – unmittelbar verwickelt. Die Begeisterung war grenzenlos, der Link zu Plinius schnell hergestellt und die Interpretation der Laokoon-Gruppe als Illustration der entsprechenden Szene im zweiten Buch von Vergils Aeneis zu verlockend: Schnell etablierte sich die Datierung als ein (freilich etwas isoliertes) römisches Originalwerk in die Jahre um 30 v.Chr.

Ein archäologischer Glücksfall lieferte schliesslich 1957 den fehlenden Kontext, der die Laokoon-Gruppe aus ihrer Isolation herausholte. In der Grotte des Tiberius von Sperlonga wurden Reste von skulpturalen Monumentalensembles mit Szenen der Odyssee gefunden. Von besonderem Interesse ist eine Gruppe mit Skylla und dem Schiff des Odysseus, die von exakt den drei rhodischen Bildhauern signiert ist, welche Plinius als Urheber des Laokoons erwähnt. Andreae diskutiert die Skylla-Gruppe ausführlich. Er führt sie auf ein Bronzeoriginal des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts zurück und hebt die ausserordentliche Qualität der Kopistenarbeit hervor. Das verwundert nicht, da der Auftraggeber ein Kaiser war, legt aber gleichzeitig eine andere, korrektere Übersetzung der erwähnten Pliniusstelle nahe: Er hat die Laokoongruppe wohl „nur“ allen anderen Werken des Bronzegusses vorgezogen, was wenig erstaunt, wenn man die Vorliebe der Römer für Marmorskulpturen kennt. So wurde der Nimbus zerschlagen, der den richtigen Deutungsansatz überstrahlte, und der vatikanische Laokoon zugleich in den Kontext der hellenistischen Monumentalskulpturen gesetzt, die vor allem mit Rhodos verbunden werden.

Solch monumentale Werke wurden selbstredend nicht einfach so geschaffen und aufgestellt, sondern sind unweigerlich mit politischen Absichten und klaren Aussagen verbunden. Andreae skizziert abschliessend einen wahrscheinlichen Aufstellungskontext: Es könnte sich um die Stadt Pergamon im Jahr 139 handeln. König Attalos II. herrschte dort über ein blühendes Reich mit hochstehender Kultur. In Anbetracht der römischen Expansionspolitik könnte die Laokoon-Gruppe als eindringliches Mahnmal gegen die menschliche Hybris und die Schrecken des Krieges gedacht worden sein. Obwohl Bernard Andreae den Indizienprozess mit geballtem Wissen und punktgenauer Analyse führt, muss diese Deutung vorerst hypothetisch bleiben. Nichtsdestoweniger überzeugt sie durch Stringenz und eine zeitlose Botschaft.


Technisches: Bernard Andreae, Laokoon und die Gründung Roms. Kulturgeschichte der antiken Welt, Band 39. Mainz, Philipp von Zabern 1988. ISBN 3 8053 0989 9. Das Buch ist in verschiedenen Aggregatszuständen, aber nur noch antiquarisch erhältlich.

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