Montag, 17. Oktober 2011

This must be the place

Schwarzer Kajal ums Auge, blutrote Lippen, dunkle Mähne: Sean Penn ist Cheyenne, Punkrocker im Ruhestand und Protagonist von This must be the place, dem Genres und Gewohnheiten sprengenden neuesten Werk von Paolo Sorrentino. Der italienische Regisseur hat seinen Film für Penn geschrieben und ganz um ihn herum gebaut; und dieser zeigt wieder einmal, weshalb er regelmässig als einer der besten Schauspieler seiner Generation bezeichnet wird. Mit einem Altersheim-Gang und einer hohen, rauhen, brüchigen Stimme, der man das jahrelange gepresste Falsettieren wie auch die vielen Drogen anhört, setzt er Cheyenne präzise ins diffizile Grenzgebiet zwischen Rührung, Absurdität und Lächerlichkeit. Apropos Drogen: „Ich frage mich, weshalb ich zwar alle Drogen der Welt genommen, aber nie mit Rauchen begonnen habe“, wundert sich Cheyenne und kriegt zur Antwort: „Weil du ein Kind geblieben bist.“ Hier liegt ein Schlüssel zum Verständnis von This must be the place. Das ist nämlich über weite Strecken ein surrealistischer Film, der seine Kraft aus der Charakterzeichnung des alternden, unendlich gelangweilten Rockers und seinen Begegnungen mit den unmöglichsten Personen bezieht. Auf den ersten Blick kann das gar nicht klappen: Wie soll denn dieser bunte Hund mit dem Poschtiwägeli im Einkaufszentrum oder in einem Truckertreff irgendwo in der Prärie auf irgendetwas anderes als Unverständnis und Gelächter stossen? Doch dann lässt er einen kurzen Kommentar voller kindlicher Naivität fallen, und schon springt der Funke. So entstehen unzählige leicht absurde, aber sehr berührende Szenen – etwa in Cheyennes luxuriösem Dubliner Stadtschloss mit seiner Langzeit-Ehefrau Jane (traumhaft besetzt mit der kongenialen Frances McDormand), oder irgendwo tief im amerikanischen Süden, wo der halbwüchsige Sohn einer Soldatenwitwe (Kerry Condon) den berühmten Gast zu einem Duett bittet, das schlicht herzerweichend ist.

Dorthin kommt der eigentlich faule und apathische Edel-Frührentner wegen einer Rahmenhandlung, die etwas gar weit hergeholt scheint. Cheyenne ist nämlich der verlorene Sohn eines New Yorker Juden, den er wegen Flugangst dreissig Jahre nicht mehr gesehen hat. Erst an seinem Begräbnis erfährt er vom lebenslangen, erfolglosen Racheversuch seines Vaters an seinem Peiniger in Auschwitz und macht sich nolens volens daran, diesen zum Abschluss zu bringen. Das ist der reichlich dick aufgetragene Vorwand für eine Art Road Movie und für ein paar weitere zunächst schräge, dann aber immer prägnanter und auch beklemmend werdende Szenen. Als Zuschauer kommen wir dabei immer näher an Cheyenne heran, entdecken unter der schrillen Oberfläche alte Wunden und Enttäuschungen, grosse Herzlichkeit, aber auch Bestimmtheit und Brutalität.

Nach fast zwei Stunden weiss man immer noch nicht, wo und wie man This must be the place einordnen soll. Man hat aber einen ungewohnten Reichtum an originellen, berührenden Momenten gesehen, und so viele komplexe und hervorragend besetzte Figuren wie sonst nur in drei, vier Filmen zusammen.


Technisches: Im Moment sieht es nicht danach aus, als ob es der Film auch in der Deutschschweiz noch in die Kinos schaffen würde. Falls sich irgendein Studio-Kino ein Herz fasst, kann ich den Besuch empfehlen. Ein Trailer findet sich auf Youtube, eine stimmige Analyse bei Arte.

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