Sonntag, 4. September 2011

Katzenfüttern am Grab

Ich bin vornehmlich ein Gelegenheitsleser. Das heisst nicht in erster Linie, dass ich dann lese, wenn ich Gelegenheit dazu habe – denn auf Gelegenheiten soll man nicht warten, man schafft sie sich –, sondern vielmehr, dass ich das lese, wozu ich Gelegenheit habe, konkret: irgendein Buch, das halt hier grad so im Regal steht. Viele dieser Bücher sind irgendwann einmal von jemandem aussortiert worden und direkt oder indirekt bei mir gelandet. So ist mein Leseprogramm hauptsächlich vom Zufall zusammengestellt, und nur bei der Priorisierung greife ich selber noch helfend ein.

Eines dieser Bücher, das ich selber vielleicht nie gekauft hätte, aber mit Genuss gelesen habe, ist Thomas Hürlimanns Novelle Das Gartenhaus. Eine Novelle, so erinnert sich der Maturus, ist eine (in der Regel relativ kurze) Geschichte, die um eine unerhörte Begebenheit kreist. Die unerhörte Begebenheit im Gartenhaus klingt, wenn ich sie hier notiere, vielleicht etwas banal: Ein pensionierter Oberst füttert heimlich eine Katze, die um den Grabstein seines vor der Zeit verstorbenen Sohnes kreist, durch den Winter. Wie er sich dabei aber anstellt – das ist freilich unerhört. Militärisches Räsonieren ist in des Obersten Kopf dermassen fest verdrahtet, dass er nahtlos in den Manövermodus schaltet und in militärischen Kategorien zu denken beginnt: Nachschub muss organisiert werden, Lagerung und Versorgung müssen vor den Augen des Feindes verborgen werden, Kreativität und persönliche Opfer sind gefragt; und dabei unterlaufen dem alternden Regimentskommandanten mehrfach peinliche Fehler. Einmal mehr bin ich beeindruckt, welch unerschöpfliche Quelle für ironisches Amusement der schweizerische Militärjargon ist! Aber natürlich erschöpft sich die Novelle nicht in Gefechtsprosa. Vielmehr gibt sie Einblick in eine Fabrikantendynastie, welche zwar wacker die Traditionen und den schönen Schein aufrecht erhält, damit aber nur noch behelfsmässig verdecken kann, dass körperliche und seelische Gebrechlichkeit unerbittlich fortschreiten und ihre Opfer fordern, genauso wie der Zahn der Zeit bedrohlich an der Villa nagt, in der eigentlich nur noch die Leere mächtig ist. Zufluchtsort wird am Schluss das titelgebende Gartenhaus – Zufluchtsort und gleichzeitig Ort eines letzten Wiederfindens zwischen dem Obersten und seiner Frau.

Korpsgeist in Militär und Dynastie kennt der Bundesratssohn Hürlimann natürlich aus eigener Lebenserfahrung. Das Sittengemälde einer gutbürgerlichen Familie, dieses Pfeilers von Staat und Armee, ist ihm jedenfalls lebensecht gelungen. Es ist kein Zufall, dass Thomas Hürlimann in den seltenen Fällen, wenn er sich aus seinem Berliner Exil zu Schweizer Gegenwartsfragen äussert, aktuelle Sachverhalte präziser erfasst und treffender benennt als viele andere. Das Gartenhaus zeigt einmal mehr: Hürlimann hat intimstens verstanden, wie die Schweiz der letzten paar Jahrzehnte funktioniert hat.


Technisches: Thomas Hürlimann, Das Gartenhaus. Novelle. Frankfurt am Main, Fischer Taschenbuch Verlag 1993 (ursprünglich Zürich, Ammann 1989). ISBN 3 596 11878 6 (bzw. neu 978 3 596 14688 8).

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen