Samstag, 17. September 2011

La solitudine dei numeri primi

Primzahlen (auch Nicht-Mathematiker erinnern sich) sind Zahlen, die nur durch eins und sich selber teilbar sind, also mit keiner anderen Zahl einen gemeinsamen Nenner haben: Einzelgänger im Reich der Zahlen gewissermassen, selbst ihresgleichen nie richtig nah, sondern nur mit Distanz aufeinander folgend. Mit Primzahlen werden Alice und Mattia verglichen, die Hauptfiguren im Film La solitudine dei numeri primi nach dem gleichnamigen Erfolgsroman von Paolo Giordano. Alice und Mattia lernen sich im Gymnasium kennen, und sogleich ist eine merkwürdige, starke gegenseitige Faszination spür- und sichtbar. Da haben zwei einen Draht zueinander gefunden, die ansonsten beide Aussenseiter und Einzelgänger sind, zurückgezogen in ihrer imaginären Kugel, welche von aussen fast nur durch die Gemeinheiten der Kolleginnen durchbrochen wird – und beide leiden an einer tiefen Wunde, die auf ihre Kindheit zurückgeht: Alice wurde von ihrem jovial-ehrgeizigen Vater zum Skitalent herangezüchtet, bis sie übermüdet im Nebel beide Beine brach und seither staksig auf Prothesen geht. Der hochbegabte Mattia musste sich fast Tag und Nacht um seine autistische kleine Schwester kümmern. Aus schierer Verzweiflung deponierte er sie eines Tages, statt sie zum Kindergeburtstag mitzunehmen, kurz auf einer Parkbank; als er nach Stunden endlich zurückkehrte, war sie verschwunden und ist nie mehr aufgetaucht.

Dieser Schrecken enthüllt sich allmählich, als Regisseur Saverio Costanzo behutsam zwischen Kindheit, Pubertät und Erwachsenenalter von Alice und Mattia hin- und herwechselt. Abweisende Architektur, trostloses Mobiliar, Nebel und Regen sind die Kulissen für kurze, beklemmende Szenen in den zwei Leben. Erst nach ihren Uniabschlüssen, als wir die beiden bei einer Hochzeitsfeier wieder sehen, mischt sich eine zärtliche Hoffnung in die omnipräsente Beklemmung. Doch im Ganzen bleibt La solitudine dei numeri primi ein trauriger Film. Für die drei Alice und Mattia hat Costanzo hervorragende Schauspielerinnen und Schauspieler gefunden, allen voran die wunderbare Alba Rohrwacher, die der erwachsenen Alice gleichzeitig Eleganz und tiefe Traurigkeit verleiht.

In einer Art Coda sehen wir die Protagonisten am Schluss wieder – Alice nach gescheiterter Ehe völlig von der Rolle und bis zur Unkenntlichkeit abgemagert; Mattia, wiewohl erfolgreicher Wissenschaftler, mit dem wirren Bart und leeren Blick eines russischen Mönchs. Ist ihre inzwischen ferne Verbundenheit genügend stark, um die beiden noch einmal aus dem Elend ziehen? Mit dieser Frage endet der Film.


Technisches: Die Einsamkeit der Primzahlen läuft nur noch vereinzelt in Schweizer Kinos. Ich verweise deshalb auf die DVD sowie auf die deutsche Übersetzung des Romans.

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