Freitag, 1. Oktober 2010

Schiffslektüre

In Astypalaia, einige Tage vor Ferienende, war Matutin ausgelesen – obwohl ich die kostbare Lektüre grosszügig mit Sudokus gestreckt hatte. Glücklicherweise gibt es auf dieser wunderschönen Insel unter dem Wind eine Gemischtwarenhandlung, die diesen Namen noch verdient. Vor der Käsevitrine und gleich neben dem Waschmittelregal steht da nämlich ein kleines Gestell mit einem äusserst faszinierenden Buchsortiment: nicht die übliche Kioskauswahl von Bestsellern und Kitschromanen, sondern echte Literatur, vermischt sogar mit ein paar Bänden Poesie. Das kam für mich wie gerufen und war Grund genug, endlich mal ein Werk von Nikos Kavvadias in Angriff zu nehmen: Το ημερολόγιο ενός τιμονιέρη (Das Tagebuch eines Steuermannes), eine Sammlung seiner frühen, verstreut erschienenen Prosa und Poesie.

Bei wenigen anderen Autoren ist die Einheit von Leben und Werk so ausgeprägt wie bei Kavvadias. Er schiffte sich gleich nach der Schule als Leichtmatrose ein, arbeitete sich hoch, befuhr dann nach dem Zweiten Weltkrieg drei Jahrzehnte lang als Funker die Weltmeere, starb kurz nach der Pensionierung, als hätte er das Festland nicht ertragen; und er schrieb über die Seefahrt, über Matrosen und Dirnen, über ferne Länder und grosse Häfen, über Fernweh und Verlorenheit. Sein (sehr übersichtliches) Werk beschreibt also sein Leben, sein Leben ist gleichsam der Kommentar zu seinem Werk. Und dies gilt von allem Anfang an, schon in seinen allerersten, in diesem Band versammelten Prosastücken.

Freilich ist es etwas speziell, von einem Autor als erstes ausgerechnet das Früh-, ja Jugendwerk zu lesen. Spannend ist es, die Entwicklung nachzuvollziehen. Kavvadias’ erste Gedichte sind noch reichlich ungelenk, Teenagerlyrik gewissermassen, aber bald werden sie formal stringenter und inhaltlich komplexer – so das dichte, düstere Kasbah über eine rätselhafte arabische Prostituierte. Die kurzen, novellenhaften Stücke ihrerseits umkreisen von allen Seiten des Dichters Lebensthema, evozieren Angst und Einsamkeit in den Weiten des Pazifik, schildern mit sehnsüchtiger Faszination mythische Städte und Inseln und spinnen unverhohlen Seemannsgarn. Die kurze, teils fragmentarische Form lässt allerdings nicht mehr als ein skizzenhaftes Andeuten zu, was gelegentlich etwas klischeehaft oder prätentiös wirkt. Bei der Einordnung dieser Lektüre helfen würden wohl Kavvadias spätere Schriften, und es wäre jetzt sicher mit Gewinn sein Hauptwerk in Angriff zu nehmen, die Novelle Βάρδια (Die Wache). Auf der nächsten Fähre, vielleicht.


Technisches: Νίκος Καββαδίας, Το ημερολόγιο ενός τιμονιέρη. Αθησαύριστα πεζογραφήματα και ποιήματα. Athen, Agra 32009. ISBN 978-960-325-609-0. Auf Deutsch ist von Kavvadias bisher nur (anlässlich der Frankfurter Buchmesse 2001) „Die Wache“ erschienen (Berlin, Alexander Fest 2001, ISBN 3-8286-0168-5 – zurzeit offenbar leider vergriffen).

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