Freitag, 4. Juni 2010

Tragische Helden im Emmental

Es fällt mir ausserordentlich schwer, Gotthelf zu besprechen. Auf einer Bahnreise habe ich kürzlich seine beiden Erzählungen Elsi, die seltsame Magd und Der Besenbinder von Rychiswyl gelesen. Da scheint alles so klar, so geordnet. Ein jeder hat seinen Platz, ein jeder weiss, was ihn erwartet, und wer darüber hinaus etwas will, wird scheitern. Und ich sitze vor diesen Geschichten und schaffe es nicht, die Schale der guten Ordnung zu knacken und hinter die Kulissen dieser Welt zu sehen.

Vielleicht hilft eine Anleihe bei der klassischen Philologie. In der griechischen Tragödie gibt es neben dem bekannten tragischen Konflikt, wo eine Figur zum Helden, zur Heldin wird, indem sie sich dem Unausweichlichen stellt und im Entscheid für eine Handlung aktiv den eigenen Untergang betreibt, auch eine Variante, bei der das Augenmerk auf dem Verhältnis einer Figur zu ihrer Rolle liegt. Tragische Heldinnen bewegen sich in einem ähnlich rigiden Rahmen wie Gotthelfs Protagonistinnen. Das rechte Mass ist wichtig, das nicht überschritten werden darf; gleichzeitig wird auch immer wieder gezeigt (man denke an Klytaimnestra oder Medea) wie eine Person verletzt und heruntergesetzt wird, welcher den ihr gebührenden Freiraum nicht zugestanden bekommt. An den Überschreitungen oder Beschneidungen des Rahmens entzündet sich dann der Konflikt.

Es könnte sich bei Gotthelf also lohnen, genauer auf diese Grenzen zu achten und zu analysieren, welchen Spielraum die Figuren in ihrem Rahmen haben, wie sie ihn ausnützen und wo der Erzähler, dieser Vertreter der guten Ordnung, wertend einschreitet. Und da sehen wir in Elsi, der seltsamen Magd, eine Person, die sich den Einschränkungen ihres Handlungsrahmens zu entziehen sucht, indem sie ihre Arbeitspflichten treu und arbeitsam übererfüllt, in der Hoffnung, dafür in den ungeschriebenen Verpflichtungen des Privatlebens Freiheit zu finden. Die Erzählung fokussiert aber gnadenlos darauf, dass das nicht möglich ist. Die Schranken, die einer Magd gesteckt sind, beschränken sich nicht auf ihre Arbeit; sie umfassen auch ihren Anteil am gesellschaftlichen Leben. Insbesondere wird unbedingte Dankbarkeit gegenüber den Avancen eines Höhergestellten erwartet. Dass Elsi, von ihrem geheim gehaltenen Vorleben zusehends tyrannisiert, sich diesen zu entziehen sucht, macht sie zur tragischen Heldin.

Ein Vorbild für das Leben gemäss seinen Massstäben ist hingegen Hansli, der Besenbinder von Rychiswyl. Der ist die Emmentaler Version von Forrest Gump, die da lautet: Wenn du fleissig bist, die Arbeit nicht scheust, daneben bescheiden bleibst, freundlich bist zu den Leuten und gottesfürchtig, dann machst du deinen Weg. So lernt der Sohn einer armen Witwe das Besenbinden, entwickelt darin auch reichlich Geschick, und baut sich mit der Qualität seiner Ware und seinem gewinnenden Wesen Haus für Haus eine treue Kundschaft auf. Bald baut er sich einen Karren, kauft der Mutter ein neues Bett und sich selber anständige Kleidung, gewinnt eine vierschrötige, aber fleissige Frau, zeugt mit ihr eine Schar braver Kinder – und als zum Schluss das himmlische Manna in Form einer grossen Erbschaft auf ihn niederfällt, ist er selbstverständlich aufrecht genug, sich auch dadurch nicht korrumpieren zu lassen. Charmant dabei ist, dass bisweilen ein gewisser Minimalismus durchschimmert und der brave Hansli dann einen Anstoss von aussen nötig hat: Die Idee mit dem Besenbinden kommt vom Bauern, bei dem er wohnt; und der muss ihm auch mit kräftigen Worten beibringen, dass ein Mann seines Standes ja nicht etwa einen Karren zu kaufen gedenke; selber bauen solle er ihn! Wieder ist die Botschaft klar: Der Spielraum ist eng beschränkt, das rechtschaffene Leben ähnelt einem Gang auf dem hohen Seil.

Immerhin kommen dem Hansli sein Humor und seine träfe Art nicht abhanden. Am schönsten zeigen sich beide, als es ums Weiben geht. Der dazugehörige Dialog mit seiner Mutter ist voll feinster Komik und soll hier abschliessend zitiert werden. Um der alten Frau schonend beizubringen, dass er sich in eine Marktbekanntschaft verguckt hat, erwähnt Hansli beiläufig, dass sein Karren immer schwerer zu stossen sei. Die überaus praktisch veranlagte Mutter schlägt den Kauf eines Eseleins vor. Ihr Sohn äussert jedoch Bedenken bei so einem störrischen Tier und bringt nun seinen Alternativvorschlag vor:

„Nein, aber Mutter, ich hatte an eine Frau gedacht, was sagt Ihr dazu?“
„Aber Hansli, warum nicht lieber an eine Geiss oder an einen Esel, was dir nicht zSinn kommt! Was willst mit einer Frau machen?“
„He, Mutter, öppe was ein anderer…“


Technisches: Jeremias Gotthelf: Elsi, die seltsame Magd. Der Besenbinder von Rychiswyl. Stuttgart, Reclam 1995 (und seither sicher noch mehrmals). ISBN 3-15-007747-8. Und ja, Gotthelf ist auch online und kostenfrei beim Projekt Gutenberg zugänglich: Elsi, die seltsame Magd bzw. Der Besenbinder von Rychiswyl.

[UPDATE: Links zum Projekt Gutenberg angepasst.]

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