Freitag, 18. Juni 2010

Noch nicht die Hälfte ists der Not

Das erste erhaltene Theaterstück der Geschichte, AischylosPerser, ist auch ein Antikriegsstück. Im Zentrum der Interpretation steht zwar in der Regel die Hybris des Xerxes und ihre Bestrafung: sein hochfliegender Übermut und tiefer Fall. Aber mit dem Fokus auf die Unterlegenen des Feldzuges, mit der ausführlichen Darstellung ihrer Verzweiflung und mit der schonungslos realistischen Beschreibung der Seeschlacht von Salamis formuliert Aischylos, selbst einer der Sieger, deutlich wahrnehmbar seine Abscheu vor der Brutalität und dem Leiden im Krieg.

In ihrer Bearbeitung für das Theater an der Effingerstrasse haben Norbert Klaassen und Peter Jecklin diesen Aspekt in den Vordergrund gerückt. Sie haben dazu die zeitliche Perspektive gewechselt: Wo bei Aischylos das Wesentliche der Handlung und Deutung in langen retrospektiven Reden und Wortwechseln berichtet und reflektiert wird, rücken sie es in die Gegenwart der Szene. Dazu mussten sie den überlieferten Text radikal kürzen, passagenweise neu formulieren und ausführlich ergänzen. Der geschlagen zurückkehrende Xerxes ist nun nicht die klagende tragische Figur, sondern bleibt auch in der Niederlage der Kriegstreiber: Kinder und Greise ruft er zum letzten Verzweiflungskampf um die Hauptstadt auf; Lehren aus der Niederlage mag er keine ziehen und nicht Rat noch Bitte hören. Seine Verblendung ist durch Salamis nicht geheilt, sondern vielmehr noch intensiviert; der Zug gegen Athen war erst das Vorspiel zum Gipfel seines Wütens.

Von Aischylos war da ausser dem Schlachtbericht nur noch wenig zu hören. Der gleichzeitig archaisierende und moderne Text von Klaassen und Jecklin bleibt dem Original aber im Duktus treu: Das Versmass ist gewahrt, die Sprache sperrig, aber von grosser Schönheit und durchsetzt mit vielen kräftig geschnitzten, präzisen Formulierungen. Diesen schwierigen Text haben Aaron Frederik Defant, Andrea Gloggner, David Imhoof, Peter Jecklin, Johannes Karl, Armin Köstler und Jesko Stubbe souverän und verständlich auf die Bühne gebracht, wobei sie besonders in den leisen Passagen überzeugt haben – in den düsteren Eingangsworten der Atossa, im langsamen, schaurigen Crescendo des Botenberichts. Dass Regisseur Jecklin fast alle Schauspieler in diese schrillen, comicartigen mexikanischen Wrestling-Masken steckt, ist zwar etwas gar dick aufgetragen, funktioniert aber gleichwohl auf mehreren Ebenen. Die Masken selber verweisen natürlich auf ihre Vorbilder in den antiken Theateraufführungen, und durch ihr Ablegen und Wiederaufsetzen verdeutlichen die Figuren den Widerspruch zwischen ihrer öffentlichen Persona und ihren inneren Gefühlen und Ängsten. Zudem habe ich die Masken aber auch als Kommentar des Regisseurs zum fundamentalen Missverständnis der Kriegstreiber jeder Epoche gelesen: Krieg als Wettkampf, Krieg als Spiel.

Ich habe es hier auch schon gesagt: Griechische Tragödien haben eigentlich gar keine Aktualisierung nötig; sie handeln (bei aller Fremdheit) immer von den Menschen – und die sind ja, wie Erich Kästner wusste, „noch immer die alten Affen“. Norbert Klaassen und Peter Jecklin haben zum Saisonschluss an der Effingerstrasse aber gezeigt, welches zusätzliches Potential in den alten Geschichten liegt, wenn sie mutig und mit sicherer Hand weitergeschrieben werden.


Technisches: Die Perser stehen an der Effingerstrasse noch bis am 1. Juli fast täglich auf dem Programm. Falls es noch nicht klar geworden sein sollte: Der Besuch lohnt sich! Ähnlich begeistert wie ich war Fritz Vollenweider in seinem Bericht auf seniorweb.ch.

2 Kommentare:

  1. Ja, das war ein wirklich würdiger und hinreissender Abschluss der ansonsten etwas bieder-gefälligen und sicher nicht aneckenden Theatersaison 2009/2010. Und auch (wieder) ein Argument dem Effingertheater "trotz allem und wegen allem" die entstandene Treue zu halten. Die regelmässigen Besuche in diesem erfolgreichen Theater halten ja nicht davon ab, andernorts zwischendurch gewagtere, gescheitertere, innovativere befremdendere und aufrüttelndere Inszenierungen zu kosten.

    Dem Blogschreibenden mit seinem sinnigen Pseudonym "Phemios Aoidos" sei hiermit (einmal mehr?) für seine inhaltlich wie sprachlich höchststehenden und gedanklich tiefsinnigen und doch analytisch-präzisen und hellwachen Beiträge gedankt! Schade, dass die gemeinsamen Theaterbesuche selten geworden sind - aber wie an der Börse darf die Vergangenheit und die Aktualität keine Basis für Zukunftsprognosen sein :-)

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  2. Ich glaub', ich hatte dieses Jahr wirklich Glück mit meinen Besuchen an der Effingerstrasse: Das erste und das letzte Stück der Saison überzeugten beide. Soeben habe ich übrigens den ersten Blick auf das neue Programm geworfen und mir fest vorgenommen, die diesjährige Besuchsfrequenz zu übertreffen. Soviel zu den Zukunftsprognosen! Von innovativeren Inszenierungen anderswo wird hier bald auch wieder die Rede sein (Stichwort Belluard).
    Danke für die lieben Worte und bis bald!

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