Sonntag, 6. April 2008

Dekonstruktion des Triumphes

Zwei Dinge interessieren mich besonders, wenn ich eine Geschichte, die ich schon kenne, ein weiteres, drittes, viertes Mal von anderen erzählt oder aufgeführt bekomme: Finde ich das wieder, was ich bei den vorangehenden Malen erkannt habe? Und entdecke ich etwas Neues, einen unbekannten, bisher übersehenen Aspekt der altbekannten Geschichte? Am Luzerner Theater wird Euripides’ Medea inszeniert, und der Vergleich mit der Berner Version an der Effingerstrasse vom letzten November, aber auch mit der wiederholten Lektüre des Werks, ist in beiderlei Hinsicht aufschlussreich.

Bestätigt, ja in der Luzerner Textfassung noch zugespitzt, fand ich die absolute Stringenz der Fabel. Eine am Boden zerstörte Medea entwickelt erst nur schematisch, bald aber verfeinert und ausgeklügelt ihren Racheplan. Dabei hat sie keine ruhige Minute. Die Ereignisse überstürzen sich, die Besucher geben sich die Klinke in die Hand; in äusserster Bedrängnis, ständig einen Schritt vor dem Abgrund, muss die kolchische Königstochter blitzschnell reagieren, und gleichsam improvisierend setzt sie die Elemente ihres Plans zusammen, mit dem sie, die Betrogene, Beschimpfte, Verbannte, sich gleichzeitig an Jason, ihrem Betrüger von Ehemann, an dessen neuer Braut Kreusa und deren Vater Kreon, dem König von Korinth, rächen wird.

Was mir gleichzeitig neu aufgefallen ist (vor allem in dieser Konsequenz), ist die totale Dekonstruktion des Triumphes. Denn um ihren treulosen Gatten Jason so empfindlich wie möglich zu treffen, muss Medea nicht ihn umbringen, sondern die beiden gemeinsamen Kinder. Dieser Racheplan ist genial, überzeugend und wirkungsvoll – aber unmenschlich brutal. Die Brutalität wirft ihre Schatten voraus, wenn sich Medea gegenüber ihren Freundinnen aus Korinth zu rechtfertigen versucht, und in den herzzerreissenden Abschiedsszenen mit den Buben. Im Moment dann, als klar wird, dass der Plan aufgehen wird; im Moment, da Medea erfährt, dass Jasons Braut und Schwiegervater elend umgekommen sind; im Moment mithin, in welchem es nur noch gilt, diesen letzten brutalen Mord zu begehen, um definitiv über den Gegner zu triumphieren – da verpufft der Triumph. Er findet schlicht nicht statt. Während der schockierte Bote den Tod des Königs und seiner Tochter rapportiert, fällt Medea am Bühnenrand in sich zusammen, spricht kein Wort; nur noch Leere. Und wo die Kolcherin bei Euripides im Sonnenwagen hoch über Jason emporsteigt und seine bitteren, frustrierten Vorwürfe mit Verve pariert, ist er es in Luzern, der von der Schrägbühne heruntersinkt, währenddem sie einfach dasteht. Keine fulminante letzte Konfrontation, nur ein letztes Aneinander-Vorbeireden, ein kurzer, resignierter Austausch ungelenker Worte, dann geht das einstige Traumpaar auseinander. Die Schlussworte des Chors, die ich bei Euripides als leicht ironiedurchsetzten Kommentar zur Bestrafung der Frevler und zur Wiederherstellung der Ordnung gelesen hatte, werden hier zu einem entsetzten Resümee des Schreckens:

Vieler Dinge Verwalter ist Zeus im Olymp,
vieles wirken unverhofft die Götter,
und was man erwartet, vollendet sich nicht,
für das Unerwartete aber findet Gott einen Weg.
So nun verlief diese Handlung.

Die Luzerner Inszenierung überzeugt durch eine starke, ausgeglichene Besetzung. Anja Schweitzer lässt ihre Medea hart an der Grenze der Verzweiflung und trotzdem jederzeit dominierend und genau berechnend agieren. Die Übersetzung von Peter Krumme schliesslich hält in wunderbarer Art die Balance zwischen poetischer Qualität, Verständlichkeit und Treue zum Original.


Technisches: Euripides’ Medea, in der Inszenierung von Irmgard Lange, steht am Luzerner Theater noch bis am 18. Mai 2008 auf dem Spielplan.

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