Montag, 5. April 2010

Apologia Latina

Man sollte auf Alleinreisen immer ein Reclamheftchen in der Manteltasche haben. So oft ist man irgendwo zu früh, wartet auf einen Zug, einen Bus oder gar einen Flieger – und dann die Zeitung aus dem Koffer grübeln und entfalten zu müssen, ist mehrheitlich unpraktisch. Oder man gönnt sich eine Pause bei Kaffee und Kuchen und möchte dazu nicht ewig den Reiseführer studieren, sondern etwas Gehaltvolleres geniessen. Ich habe diesen Rat neulich bei einer geschäftlichen Reise zwar missachtet, aber glücklicherweise gibt es in den Universitätsvierteln deutschsprachiger Städte an fast jeder Hausecke die Möglichkeit, sich entsprechend einzudecken. So bin ich auf Warum Latein? gestossen, eines der dünnsten Reclamheftchen überhaupt. Darin anerbietet sich der Altsprachen-Didaktiker Friedrich Maier, insbesondere Eltern von Schülern im entsprechenden Alter eine kurze Einführung in das Lateinische als Gymnasialfach sowie zehn gute Gründe für dessen Wahl darzulegen, womit er im Deutschland der Gegenwart auf ein grosses Bedürfnis antwortet.

Nun habe ich ja ein etwas ambivalentes Verhältnis zu derartigen apologetischen Ansätzen. Ich verstehe, dass sich die Bedeutung der alten Sprachen als Schulfächer in der heutigen Zeit nicht unbedingt von selbst erschliesst, dass also Aufklärung und Werbung notwendig sind; aber gleichzeitig laufen solche Argumentationen immer die Gefahr, in jenen simplen Utilitarismus abzurutschen, für den einzig gut ist, was beruflichen und damit finanziellen Nutzen verspricht. (Je nach Partei werden dann junge, neugierige Menschen in der Diskussion nur allzu schnell zu Steuersubstrat.) Ich will diesen Aspekt nicht wegdiskutieren, finde aber, dass die wichtigste Aufgabe der Schule – und erst recht eines „Luxusangebots“ wie des Gymnasiums – die Menschenbildung ist; das heisst, den Schülerinnen und Schülern ein breites Wissensfundament und zugleich Denk- und Arbeitsweisen zu vermitteln, die sie befähigen, in einer komplexen Welt ihren Platz als Individuen, als Staatsbürger, als Verantwortungsträger, eben als Menschen zu finden.

Doch nun genug der grossen Worte und zurück zu Maiers Buch. Meine längliche Einleitung soll nicht verdecken, dass es mir sehr gefallen hat. Unter Maiers zehn guten Gründen sind kaum überraschend solche, die man auch schon gehört hat: dass die Beschäftigung mit einer in Syntax und Grammatik sehr systematischen Sprache das Sprachverständnis, auch das der Muttersprache, ganz wesentlich fördert; oder dass das Lateinische eine Brücke schlägt zu vielen der in Europa wichtigsten modernen Fremdsprachen. Daneben finden sich andere, weniger offensichtliche Gründe: Die Beschäftigung mit der lateinischen Rhetorik, also der Manipulation der Sprache zur Manipulation des Publikums, lehrt die grundlegende Kulturtechnik des Hinterfragens von veröffentlichten Meinungen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Oder: Das Lateinlernen stärkt nicht nur das grundlegende Sprachverständnis, sondern gibt darüber hinaus Zugang zu einem Reservoir an Sprachbildern und Metaphern, mithin zu einer reicheren, einprägsameren Ausdrucksweise. Und in einem zusammenwachsenden Europa ist die Rückbesinnung auf die erste Sprache, die Europa zu weiten Teilen kulturell geeinigt hatte, von grossem Sinn. (Nebenbei sei angemerkt, dass Maiers Eloquenz und Prägnanz selber sehr sprechende Argumente für den Nutzen und die Wirkung von Latein sind.)

Wer so argumentiert, setzt sich jedoch einer speziellen Kritik aus: Währenddem jeder einzelne dieser Gründe inhaltlich unbestritten ist, muss sich der Autor fragen lassen, ob denn diese Ziele ausschliesslich durch das (ebenso unbestritten) anstrengende und langwierige Lateinlernen erreichen werden können – oder anders gefragt: ob es nicht andere, weniger aufwendige Wege dazu gäbe; oder meinetwegen gleich aufwendige, aber effizientere. Als alter Grieche kann ich mir beispielsweise die Bemerkung nicht verkneifen, dass man Maiers Gründe fast alle meist mit weit grösserer Berechtigung auch für das Griechische vorbringen könnte. Die Ursprünge der Philosophie, des Theaters, der Naturwissenschaften und der Geschichtsschreibung lagen bekanntlich in Griechenland, und so epochal etwa Ciceros Übersetzung der Philosophie und ihrer Terminologie ins Lateinische war, so befruchtend ist es, zur wirklichen Quelle vorzudringen. Oder was sich über den Nutzen des Lernens einer toten Sprache für das Sprachverständnis sagen lässt, gilt natürlich ebenso für die andere klassische Sprache. Die Kritik ist aber auch von der anderen Seite her vorstellbar: Wäre nicht etwa ein Rhetorikkurs eine effizientere Methode, sich im genauen Analysieren und Hinterfragen zu üben? Was ich damit sagen will: Hauptgrund für das Lateinlernen muss das Lateinische selber sein – die Eleganz der Sprache, der Reichtum der Literatur (und damit der Kultur), den sie erschliesst. Erst daran anschliessend kann und soll mit Maier argumentiert werden, dass Latein wie kein anderes Unterrichtsfach quasi als Bonus eine Fülle an weiteren, über den primären Lerninhalt weit hinausgehenden Kompetenzen vermittelt.

Diese Einsicht ist wohl beim Zielpublikum von Maiers Buch bereits ansatzweise vorhanden: Wer den Sinn und die Bedeutung des Lateinischen nicht im geringsten begreift, wird sich kaum die Mühe machen, ein solches Argumentarium zu lesen. Diesem Publikum klar und verständlich aufzuzeigen, welchen Reichtum an Wissen und Kompetenzen das Lateinlernen neben dem Sprachlernen gleichsam en passant mitliefert, scheint mir das Hauptziel und das Hauptverdienst dieser engagierten Streitschrift.


Technisches: Friedrich Maier, Warum Latein? Zehn gute Gründe. Stuttgart, Reclam 2008. ISBN 978-3-15-018565-0.

[UPDATE: Link zu Maiers Homepage bei der HU angepasst.]

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