Den Schwung aus der Lektüre von Heiner Knells Grundzügen der griechischen Architektur habe ich ausgenützt, um gewissermassen als Dessert des gleichen Autors kurze Studie zur Perikleischen Baukunst anzuhängen. Knell hat sich in seinem reichen Gelehrtenleben einen besonderen Namen gemacht durch die Erforschung der politischen, religiösen und ideologischen Implikationen von Architektur und Bauschmuck. Die Untersuchung zum Bauprogramm des Perikles, erschienen 1979, war das erste eigenständige Ergebnis dieses spezifischen Interesses – und eines der ersten Unternehmen überhaupt, das diese für die römische Kunst seit langem etablierte Analyse in der klassischen griechischen Kunst zur Anwendung brachte.
Das mag erstaunen. Denn wenn auch die Glanzzeit des Perikleischen Athens in der Mitte des 5. vorchristlichen Jahrhunderts mit der Blüte von Staatswesen, Kunst und Wissenschaften uns Heutigen nur allzu leicht als ideal in sich ruhende Epoche (als Klassik eben) erscheint, so ist doch sattsam bekannt, dass Politik und Leben in der Polis Athen in dieser Periode durch heftige Grundlagendiskussionen und intensive Richtungskämpfe geprägt waren. Unvorstellbar deshalb, dass sich diese Kämpfe nicht in irgendeiner Form in den Bauwerken der Athener Akropolis niedergeschlagen hätten, des eigentlichen Sinnbildes dieser Glanzzeit, deren Neugestaltung eine Herzensangelegenheit des Perikles war! Der methodische Ansatz leuchtet also unmittelbar ein, Architektur und Bauschmuck vor allem des Parthenons auf ihre Funktion in der politischen Propaganda hin zu untersuchen.
Knell gibt zunächst einen kurzen, ausführlich durch antike Quellen belegten Überblick über die Auseinandersetzungen zwischen der Partei der Oligarchen und derjenigen der Demokraten, die unter Perikles’ Führung seit etwa 450 v. Chr. (seit dem Tod seines hauptsächlichen Gegenspielers Kimon) den Ton angab. Er fasst das politische Programm des Perikles in vier zentralen Punkten zusammen: die Sicherung der Grenzen und Einflussgebiete Athens, die Ausweitung der attischen Einflusssphäre besonders durch den Ausbau des attisch-delischen Seebundes, damit verbunden die Stärkung von Athens Führungsrolle in Griechenland mittels panhellenischer Aktivitäten und zuletzt der konsequente Ausbau der Demokratie im Stadtstaat Athen. Den Parthenon nun bestimmte Perikles zum vielschichtigen Träger dieser Botschaft. Die Analyse seines Bauschmucks zeigt auf, wie dicht dieses politische Programm in den mythologischen und geschichtlichen Darstellungen der Giebelfelder, der Metopen und des Frieses abgebildet ist. Zudem werden seine entscheidenden Elemente im Schmuck der Goldelfenbeinstatue der Athena Parthenos wiederholt. Knell weist auch darauf hin, dass Perikles in diesem neuen oder zumindest deutlich aufgewerteten Kult ein ideales Vehikel für seine neue Auffassung von Politik und Rolle Athens gefunden hat. Es ist gewiss kein Zufall, dass der Parthenon der erste griechische Tempel ist, bei dem der Innenraum mit seinem atemberaubenden Götterbild eine solch zentrale Rolle spielte. Um diesem die gewünschten Dimensionen zu geben, war ja auch der schmale Grundriss des Vorgängerbaus um zwei Säulen verbreitert worden.
Diesen Vorparthenon, den die oligarchische Partei begonnen hatte und dessen Mauern und Säulen bereits bis zu einer gewissen Höhe standen, liess Perikles abtragen, um Platz für seinen Tempelbau zu schaffen – ein erster deutlicher Hinweis auf die harten Bandagen, mit denen die politischen Auseinandersetzungen ausgetragen wurden. Gleichzeitig dokumentiert die Tatsache, dass er sich gezwungen sah, die bereits gefertigten Bauglieder wiederzuverwenden (mit allen Einschränkungen für die architektonische Gestaltung seines „eigenen“ Parthenons), den scharfen Wind, der ihm entgegenblies. Dieser lässt sich auch an den anderen Bauwerken der Akropolis ablesen: Das Erechtheion, welches diverse uralte Kultmale miteinander verbindet, und der Tempel der Athena Nike werden der oligarchischen Partei zugeschrieben, die ihren Bau und ihre Ausgestaltung gegen Perikles durchsetzen konnte. Der Niketempel steht dem von Perikles verantworteten grossartigen Torbau der Propyläen dabei richtiggehend im Weg; ihr Architekt Mnesikles musste den stark beschnittenen Südflügel in ingeniöser Art richtiggehend in den verbleibenden Platz quetschen. So sind die klassischen Monumente der Akropolis gleichsam steingewordene Zeugnisse einer heftigen politischen Auseinandersetzung und zeigen auf, dass der revolutionäre Vorgang der Erfindung der Demokratie zu keiner Zeit gesichert und reibungslos ablief, sondern den Vertretern der herkömmlichen Ordnung in scharfem Kampf abgerungen werden musste.
Die ausführliche Darstellung der Akropolis ergänzt Knell mit einem Überblick über die weiteren attischen Bauwerke, die von Perikles verantwortet wurden oder zumindest in seiner Zeit und ihrem Geist entstanden. Hier steht weniger die ideologische Aussage im Vordergrund als vielmehr der Versuch, ein Gesamtbild einer aussergewöhnlich reichen und künstlerisch fruchtbaren Epoche zu zeichnen. So bietet dieses schmale Buch einen sehr konzentrierten, informativen und lesenswerten Überblick. Wenn ich ihm einen Vorwurf machen möchte, müsste ich auf Formalien ausweichen und den Anmerkungsapparat erwähnen. Dieser ist sehr reichhaltig, enthält ausführliche zeitgenössische Belege und wichtige Teile der Diskussion. Nur war es leider offenbar nicht möglich, die Anmerkungen als Fussnoten zu setzen. Der geneigte Leser ist deshalb zum häufigen Blättern an den Schluss des Buches gezwungen – und ich habe gemerkt, dass ich das nicht mehr gewohnt bin und es deshalb etwas mühsam fand. Das hat schon seine Richtigkeit: Mühelos ist nichts zu erreichen, und in Anbetracht des Resultats, der Erkenntnisse aus dem Buch, ist die Seitenwendefrequenz ein durchaus vernachlässigbarer Aufwand.
Technisches: Heiner Knell, Perikleische Baukunst. Darmstadt, Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1979. ISBN 3-534-08019-X. Das Buch ist zurzeit nur antiquarisch oder bibliothekarisch erhältlich.
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