Freitag, 3. September 2010

Tanz um Säulen

Ich wills ja nicht übertreiben mit dem Lob der Kleinstadt, aber ein kultureller Kurzausflug vor der Sommerpause muss hier doch noch erwähnt werden. Er führte uns nach Neuenburg, in diese liebliche, mit Freiburg in einigem vergleichbare Stadt. Anlass war das Festival neuchâtel scène ouverte, das freie Tanzfestival, das seit inzwischen sieben Jahren die ockergelbe Bühne der Neuenburger Plätze und Gemäuer bespielt – und dies volle zwei Wochen lang. Auf dem Weg zum Hôtel de Ville hörten wir zunächst allerdings Gesang: Gleichentags fand ein Chortreffen statt, in welches das städtische Samstagmorgenpublikum grosszügig und selbstverständlich einbezogen wurde. Man wird verstehen, dass ich eine Stadt glücklich schätze, die mitten im Sommer ein solch verschwenderisches Angebot öffentlicher Kultur aufzuweisen hat! Doch nun zum Tanz: Gekommen waren wir wegen Attention à la marche der Compagnie pas perdus. Ihr Theatersaal war die Eingangshalle des Rathauses, ein grosser, T-förmiger Raum, dem zwei massive Säulenreihen die nötige republikanische Gravität verleihen. Zwischen den Säulen und in den Nischen wandelte oder ruhte bereits das gute Dutzend Tänzerinnen und Tänzer. Wir richteten uns ebenfalls möglichst diskret ein und sahen zu, wie sich die einleitenden, aufwärmenden Bewegungen langsam zu einem Anfang verdichteten. Markiert wurde dieser – und mit ihm das ganze Stück – durch die Musik. Eine verwirrende Vielfalt von Instrumenten lagen bereit, die alle aussahen, als wären sie direkt einem unbekannten, dunklen Kult entnommen. Ein schamanenhafter Multiinstrumentalist erweckte sie zum Leben, erzeugte Rhythmus und Geräusche, schrille, pochende, durchdringende, und trieb die Tänzerinnen und Tänzer durch den Raum, aufeinander zu und voneinander weg, in abgelegene Ecken und dann wieder mitten durchs Publikum. Die Säulen versperrten die Sicht, die Mitzuschauenden erschwerten die Bewegung: So sah wohl jeder der Anwesenden ein anderes Stück, eine individuelle Kombination aus Bewegungsfetzen und Musik von allen Seiten, aber auch aus dem Rhythmus der nackten Füsse auf dem Steinboden, dem heftigen Atmen eines Tänzers und der Zugluft einer vorbeieilenden Tänzerin. Ich liess mich von meiner Intuition durch den Raum bewegen, war immer auf der Suche nach dem Herzen des Geschehens und fand öfter intensive Details, die ich gar nicht gesucht hatte. Kurz: Attention à la marche war ein fesselndes theatrales Gesamtkunstwerk, das vom erfreulich zahlreichen Publikum mit herzlichem Applaus bedacht wurde.

Und um auf die Eloge auf Neuchâtel zurückzukommen: Abgerundet wurde der sommerliche Theatertrip mit einem Cidre in der Brasserie Le Cardinal, einem Sandwich am See und einem erfrischenden Bad in demselben; und an Körper und Geist gleichermassen gestärkt und erholt schlugen wir den Heimweg ein.

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