Mancher Castingdirektor könnte die Altdorfer
Tellspielgesellschaft beneiden, die ohne weit zu suchen eine solche Anzahl von
Charakterköpfen zusammenbringt. Einer nach dem anderen kommen sie aus dem
Dunkel an den Bühnenrand des Tellspielhauses, langsamen Schrittes, mit offenem
Gesicht, den ernsten Blick ruhig und gerade ins Publikum gerichtet. Dann treten
sie zur Seite, an eine der beiden rostigen, leicht gekrümmten Stahlwände, die
das ganze Bühnenbild ausmachen; und zum Klang der brutalen, rhythmischen
Schläge auf den kalten Stahl krümmen sich die freien Urner, stolpern, schleppen
sich mühsam weiter, in Unterdrückung und Knechtschaft.
Dass es in Schillers Wilhelm
Tell darum geht, wie sich brutal unterdrückte Menschen mit entschlossenem Einsatz
von ihrem Diktator befreien, wissen wir. Wie
das geht, zeigt Volker Hesse in seinem zweiten Gastspiel als Regisseur der
Tellspiele in aller Deutlichkeit. Bereits vor vier Jahren sahen wir in Altdorf
einen schonungslosen, von romantischer Verklärung weitgehend befreiten Tell. Lag Hesses Augenmerk damals auf
den Strategien für den Weg zur Freiheit, so rückte er dieses Jahr die Willkür
der Schreckensherrschaft ins Zentrum. Jede Hoffnung wird brutal unterdrückt;
der grundlose Zorn der Junta verschont auch nicht die Alten und Schwachen.
Aussichtslos erscheint jeglicher Widerstand, und teuer wird er erkauft. Wer
beim Wort „Revolution“ an Freiheitsfahnen und freudentrunkene Siegesfeiern
denkt, vergisst darüber allzu leicht die Toten, die Verstümmelten, die
Gefolterten und ihre Angehörigen. Hesse rückt sie in den Mittelpunkt, gibt
ihrem Leid grossen Raum und vergisst sie auch nicht, als ihr Unterdrücker tot
und seine Schergen gefangen sind: Im wilden Taumel der Schlussszene teilt sich die
Bühne. Während links zum lüpfigen Trommelklang getanzt und gefeiert wird,
sammeln sich rechts all jene, deren Liebste die Freiheit mit Leben und Blut
bezahlt haben. Ihr Weinen und ihre Trauer mischen sich in die Freudenlieder,
und in dieser Dissonanz, dieser Ambivalenz von Triumph und Verzweiflung,
begrüssen die Freien ihre Freiheit.
Gesprochen wird dabei wenig, und das ist gut so. Denn die
grösste Gefahr bei Schiller besteht darin, sich von der Anmut der Sprache zu
sehr mitreissen zu lassen. Schöneres Deutsch ist nie geschrieben worden; jeder
Satz verdiente es, in Marmor gehauen zu werden. Allzu leicht gerät der
empfindsame Zuschauer dabei ins Schwärmen, lässt sich ablenken vom Inhalt oder
sieht diesen im perfekten sprachlichen Kleid zu einem ewiggültigen Schönen,
Wahren, Guten erstarren. Volker Hesse war sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst.
Er hat Schillers Tell radikal zusammengestrichen, arbeitete stark mit Bewegungen, tänzerischen Elementen,
ausführlichen und mitreissenden Choreografien und mit einfachen Rhythmen und
Klängen. Und wenn auf der Bühne dann dennoch gesprochen wurde, brachte das
kernige Urner Hochdeutsch gerade so viel Verfremdungseffekt mit, dass hinter
der schönen Form der Inhalt immer durchschien.
Technisches: Die
Altdorfer Tellspiele 2012 sind längst Geschichte, dieser Artikel ist nicht mehr
als eine nachträgliche Hommage an ein grossartiges Stück Theater.
Sonntag, 25. November 2012
Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben?
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