Sonntag, 25. November 2012

Eher den Tod, als in der Knechtschaft leben?

Mancher Castingdirektor könnte die Altdorfer Tellspielgesellschaft beneiden, die ohne weit zu suchen eine solche Anzahl von Charakterköpfen zusammenbringt. Einer nach dem anderen kommen sie aus dem Dunkel an den Bühnenrand des Tellspielhauses, langsamen Schrittes, mit offenem Gesicht, den ernsten Blick ruhig und gerade ins Publikum gerichtet. Dann treten sie zur Seite, an eine der beiden rostigen, leicht gekrümmten Stahlwände, die das ganze Bühnenbild ausmachen; und zum Klang der brutalen, rhythmischen Schläge auf den kalten Stahl krümmen sich die freien Urner, stolpern, schleppen sich mühsam weiter, in Unterdrückung und Knechtschaft.

Dass es in Schillers Wilhelm Tell darum geht, wie sich brutal unterdrückte Menschen mit entschlossenem Einsatz von ihrem Diktator befreien, wissen wir. Wie das geht, zeigt Volker Hesse in seinem zweiten Gastspiel als Regisseur der Tellspiele in aller Deutlichkeit. Bereits vor vier Jahren sahen wir in Altdorf einen schonungslosen, von romantischer Verklärung weitgehend befreiten Tell. Lag Hesses Augenmerk damals auf den Strategien für den Weg zur Freiheit, so rückte er dieses Jahr die Willkür der Schreckensherrschaft ins Zentrum. Jede Hoffnung wird brutal unterdrückt; der grundlose Zorn der Junta verschont auch nicht die Alten und Schwachen. Aussichtslos erscheint jeglicher Widerstand, und teuer wird er erkauft. Wer beim Wort „Revolution“ an Freiheitsfahnen und freudentrunkene Siegesfeiern denkt, vergisst darüber allzu leicht die Toten, die Verstümmelten, die Gefolterten und ihre Angehörigen. Hesse rückt sie in den Mittelpunkt, gibt ihrem Leid grossen Raum und vergisst sie auch nicht, als ihr Unterdrücker tot und seine Schergen gefangen sind: Im wilden Taumel der Schlussszene teilt sich die Bühne. Während links zum lüpfigen Trommelklang getanzt und gefeiert wird, sammeln sich rechts all jene, deren Liebste die Freiheit mit Leben und Blut bezahlt haben. Ihr Weinen und ihre Trauer mischen sich in die Freudenlieder, und in dieser Dissonanz, dieser Ambivalenz von Triumph und Verzweiflung, begrüssen die Freien ihre Freiheit.

Gesprochen wird dabei wenig, und das ist gut so. Denn die grösste Gefahr bei Schiller besteht darin, sich von der Anmut der Sprache zu sehr mitreissen zu lassen. Schöneres Deutsch ist nie geschrieben worden; jeder Satz verdiente es, in Marmor gehauen zu werden. Allzu leicht gerät der empfindsame Zuschauer dabei ins Schwärmen, lässt sich ablenken vom Inhalt oder sieht diesen im perfekten sprachlichen Kleid zu einem ewiggültigen Schönen, Wahren, Guten erstarren. Volker Hesse war sich dieser Gefahr offensichtlich bewusst. Er hat Schillers Tell radikal zusammengestrichen, arbeitete stark mit Bewegungen, tänzerischen Elementen, ausführlichen und mitreissenden Choreografien und mit einfachen Rhythmen und Klängen. Und wenn auf der Bühne dann dennoch gesprochen wurde, brachte das kernige Urner Hochdeutsch gerade so viel Verfremdungseffekt mit, dass hinter der schönen Form der Inhalt immer durchschien.

Technisches: Die Altdorfer Tellspiele 2012 sind längst Geschichte, dieser Artikel ist nicht mehr als eine nachträgliche Hommage an ein grossartiges Stück Theater.

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