Das Theater kennt den Weg vom Kopf in die Eingeweide. Was
beim Studium blosse Zahl bleibt, was bei der Lektüre überlesen wird – im Spiel
wird es erleb- und erfahrbar, und der Bauch versteht, was der Kopf bereits
begriffen zu haben glaubte. Ich kann mir deshalb kaum einen besseren Weg
vorstellen, einen historischen Gedenktag zu begehen, als das Erinnerte auf der
Bühne aufleben und das Publikum von heute darin eintauchen zu lassen. Diese
Idee hatten diesen Sommer die Freiämter, die zum dreihundertsten Jahrestag der
Schlacht bei Villmergen am Ort des Geschehens ein Freilichttheater
inszenierten. Vier lokale Theatergruppen spannten mit zahlreichen helfenden
Händen zusammen, um anstelle von Reden und Denkmälern mit Körper- und
Stimmeinsatz des markanten, traurigen Ereignisses zu gedenken: Mit Chrüüz und Fahne. Die Idee ist umso
treffender, da es sich beim Zweiten Villmergerkrieg um den letzten
konfessionellen Konflikt in der Schweizer Geschichte handelte. Dreihundert
Jahre später hat hier nicht nur kaum jemand Krieg am eigenen Leib erlebt. Die
wenigsten können auch nur ansatzweise emotional nachvollziehen, warum unsere
Vorfahren bereit waren, für ihre Konfession gegen die Miteidgenossen in die
Schlacht zu ziehen: welch Anachronismus in unserer säkularen postmodernen
Gesellschaft.
Um diesen emotionalen Graben zu überwinden, greifen Autor
Paul Steinmann und Regisseur Adrian Meyer in ihrem Stück über die Schlacht bei
Villmergen zu einem Kunstgriff: Sie zeigen gerade nicht die Schlacht bei
Villmergen, sondern eine Hochzeitsgesellschaft im Jahr 2012. Zunächst hat dies
ganz unabhängig von allem Historiendrama den nicht zu unterschätzenden Vorteil,
dass in dieser Situation reichlich komisches Potenzial steckt. Von der nervösen
Wirtin über den nervigen Tafelmajor bis
zu den schwerfälligen Tischreden lässt Steinmann denn auch kein Klischee aus.
Das ist manchmal etwas gar naheliegend, erzeugt aber mit sicherer
Regelmässigkeit Lachen und Schmunzeln und bewahrt den Abend vor Längen. Dann
aber ist dies eine interkonfessionelle Hochzeitsfeier: Eine protestantische
Zürcher Familie und eine katholische aus der Innerschweiz vermählen ihre Kinder.
So sind die konfessionellen Gegensätze auf der Bühne präsent. Zu Beginn
versichert man sich gegenseitig seine Modernität und erfreut sich an der Absenz
jeglichen Problems; bald aber brechen Vorurteile und alte Wunden feine Risse in
die festliche Oberfläche. Und gleichzeitig spielt sich auf der Naturbühne
hinter der Bühne Seltsames ab, eine ganz andere, eigene Geschichte: Ein Reiter
prescht den Hang hinauf, von jenseits der Krete tönt Geschützdonner, steigt
Rauch empor; schemenhafte Körper stürzen herunter, bleiben leblos liegen. Hier
tobt, ganz verhalten, aber unverkennbar, eine Schlacht; man merkt es auch im
Säli bei der Vorspeise; die ersten werden unruhig, verlassen das Restaurant,
wollen herausfinden, was hier los ist. Aber erst als ein Soldat schwer
verwundet und mehr tot als lebendig mitten in das Hochzeitsmahl stürzt, fallen
die beiden Geschichten abrupt ineinander und kommen zum Stillstand. Auf dem
Hügel brennt ein Feuer, und über die Krete zieht, langsam und schwer, ein
Trauerzug, intensives Schlussbild eines eindrücklichen Abends.
Aber damit habe ich noch gar nichts gesagt über die
Präludien des Stücks, über die kurzen Szenen rund um das Schloss Hilfikon, die
dem in acht Kompanien aufgeteilten Theatervolk prägnante Schlaglichter warfen
auf die Zeit des Villmergerkrieges, auf den Krieg überhaupt: Das Aargauerlied
wurde da als bitteres Antikriegslied inszeniert, Kapuziner und Pastor gaben
sich in der Schlosskapelle mit Christus und Bibel gegenseitig aufs Dach, die
moderne Kriegsberichterstattung wurde mit einer Tagesschau aus Villmergen spitz
persifliert. Nicht erwähnt habe ich auch die Musik, von Christov Rolla
geschrieben und von einem Blechensemble schräg und meisterhaft interpretiert: In
bitterer Ironie spielten sie zum Hochzeitstanz Kriegslieder, ein jazziges
Beresinalied, ein leichtfüssiges Bella
Ciao. Und die kulinarische Einstimmung verdient zumindest einen Satz, im
Besonderen jener ausgezeichnete Hackbraten, den wir als Stärkung vor dem
Theater serviert bekamen. Solche Gesamtkunstwerke gibts, glaub ich, nur beim
Volkstheater; wenn das ganze Dorf – was sage ich, das ganze Tal Hand anlegt,
wenn man essen und trinken, gehen und sitzen, plaudern und staunen kann, wenn
das Theater seine ureigenste Aufgabe erfüllt, wenn es Mitleid und Entsetzen
erzeugt und man den Ort anders verlässt, als man angekommen ist.
Technisches: Mit
Chrüüz und Fahne wird noch bis am 1. September beim Schloss Hilfikon gespielt;
sämtliche noch geplanten Vorstellungen sind bereits ausverkauft, was schade ist
für allfällige Interessenten, aber ein verdienter Triumph für das riesige
Theaterteam.
Donnerstag, 23. August 2012
Mit Chrüüz und Fahne
Labels: Geschichte, Kultur, Theater
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen