Sonntag, 24. Juni 2012

Klischee essen Stück auf

Schon vor einigen Jahren hat Direktor Ernst Gosteli ernüchtert festgehalten, das Theater an der Effingerstrasse habe inzwischen wohl den gesamten weltweiten Vorrat an Einpersonenstücken durchgespielt. Für die kleine, knapp kalkulierende Bühne kann jeder zusätzliche Schauspieler potentiell das Budget ins Minus kippen lassen. Umso mehr Kreativität fliesst alljährlich in die Gestaltung des Spielplans, der Klassiker des Repertoires mit neu geschriebenen Stücken kombiniert und sich mit sicherer Hand in der Literatur und beim Film bedient. Zum Saisonschluss gabs einen (grosszügig besetzten) Rückblick ins deutsche Kino der Siebziger: Angst essen Seele auf, Rainer Werner Fassbinders Geschichte über die unmögliche Liebe zwischen einer deutschen Witwe und einem zwanzig Jahre jüngeren Marokkaner.

Das war nun nicht nur episches Theater, sondern geradezu Anti-Theater. Auf der Bühne agierten wandelnde Klischees, mit gröbstmöglichem Meissel geformte Figuren. Keinen Moment konnte man sich dem Fluss der Geschichte überlassen, jede Geste, jeder Satz war über- und zugespitzt. Martin Helstone als Ali musste jenes guttural akzentuierte Infinitiv-Deutsch sprechen, das in Film und Theater den Ausländer markiert. Die bedauernswerte Karo Guthke verkörperte die Kneipenwirtin Barbara als menschgewordenen Fettfleck. Emmis Kinder, Nachbarinnen und Kolleginnen zeigten einen durch keine Konventionen abgemilderten Rassismus: „Schweine sind das, Schweine“ war die typische Reaktion auf die geringste Erwähnung eines Ausländers. So entwickelte sich bedeutungsschwanger, sehr didaktisch und etwas langweilig die zunehmende, brutale Isolation des Liebespaares Emmi und Ali von seiner gesamten Umwelt.

Nach der Pause wurde das Stück vielschichtiger. Als wäre Emmis verzweifelt-utopischer Wunsch wunderbarerweise in Erfüllung gegangen, fanden die beiden Frischvermählten nach ihrer Hochzeitsreise, die eher eine Flucht war, ein überraschend verändertes Umfeld vor. Noch reserviert, aber durchaus freundlich knüpften die vormals schneidend Feindseligen wieder Kontakte. Doch die Annäherung hatte ihren doppelten Preis: Die meisten suchten Emmis Nähe aus schierem Eigennutz, und sie erkaufte die wieder entstehenden Beziehungen damit, dass sie sich ihrerseits distanzierte – von ihrer neuen jugoslawischen Kollegin beispielsweise, aber auch (andeutungsweise) von ihrem Mann. Mit dem Ende des gegnerischen Sperrfeuers erstarb auch die Schicksalsgemeinschaft zwischen Ali und Emmi. Das Stück schloss jedoch völlig offen – illusionslos und dennoch hoffnungsvoll.

Dass die Geschichte so klischiert erzählt wurde, erschwert ihre Würdigung. Kaum ein Akteur konnte den Holzschnitt seiner Figur nuancieren, aber das schien auch nicht gewollt zu sein. Erwähnung verdienen immerhin Giulietta S. Odermatt, die unter der betulich-naiven Oberfläche ihrer Emmi der schleichenden Entsolidarisierung beklemmenden Ausdruck verlieh, und Robert Runer, der den Kolonialwarenhändler Angermayer als erschreckend lebensnahen Alltagsrassisten porträtierte. Ein Meisterwerk war die Bühne von Peter Aeschbacher, auf der einige wenige Requisiten einzig durch die Lichtregie und das Ziehen eines Vorhangs von der Kneipe zum Treppenhaus, vom Wohnzimmer zum Laden wurden. Die Inszenierung von Regisseur Stefan Meier jedoch war ein sperriges Stück politisch-engagiertes Theater, das wie aus einer fernen Zeit gefallen schien.

Technisches: Angst essen Seele auf wird am Theater an der Effingerstrasse noch die kommende Woche gespielt. Dann ist Saisonschluss, und wir können uns eine Sommerpause lang auf das spannendste Programm freuen, das an der Effingerstrasse in den letzten Jahren angekündigt war. Der Film von Rainer Werner Fassbinder lief vor ein paar Tagen bei arte und ist deshalb noch bis am Mittwoch in der arte-Videothek abrufbar.

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