Montag, 4. Juni 2012

Das Christentum, ein folgenreicher Fehlstart

Dass die katholische Kirche in der Krise ist, war schon vor Vatileaks offensichtlich; auch den anderen grossen christlichen Konfessionen geht es nicht gerade blendend. Zahlreich sind die Symptome des Niedergangs, zahlreich auch die vorgeschlagenen Erklärungen und Abhilfen. In seinem Buch Glaubensverlust unternimmt der deutsche Religionspädagoge Hubertus Halbfas, der sich seit Jahren mit der Situation des Katholizismus in der Gegenwart auseinandersetzt, auf gut hundert Seiten den Versuch, knapp und präzis die Ursachen dieser Krise zu identifizieren. Der Kern seiner Argumentation: Um den Grund des Malaises zu erkennen, reicht es, sich das Apostolische Glaubensbekenntnis anzuschauen, jenes Gebet, das der katholischen, christkatholischen und evangelischen Kirche gleichermassen zum öffentlichen Formulieren der Kerninhalte ihres Glaubens dient, und welches zwar gelehrte Formeln zu Jesus Christus, der Kerngestalt dieses Glaubens, anbietet, sein Leben jedoch folgendermassen abstrahiert: „… Geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus…“ Was Jesus zwischen Geburt und Tod alles getan hat, wird also mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ich habe im kürzlich gelesenen Markus-Evangelium nachgemessen: Fast fünfundachtzig Prozent vom Textumfang dieser Primärquelle zum Leben Jesu werden stillschweigend übergangen; bei den anderen Evangelien sind die Zahlen ähnlich.

Für eine Religion, die sich explizit auf Jesus als Stifter beruft, ist dies ein reichlich befremdendes Misstrauenszeugnis. Das Leben und Handeln dieses Stifters scheint in der Theologie, die von ihm zu sprechen vorgibt, kaum eine Rolle zu spielen. Halbfas vertieft in der Folge zwei Aspekte. Zum einen hat die moderne theologische Forschung klar herausgearbeitet, dass Jesus eben gerade kein Lehrgebäude errichtete (und noch weniger eine Religion gründete). Vielmehr hat er eine konkrete und diesseitige Lebensordnung vorgelebt, die sich durch eine unterschiedslose Offenheit gegenüber allen Menschen auszeichnete und sich insbesondere im gemeinsamen Mahl äusserte. Das Letzte Abendmahl, das von zweitausend Jahren Theologie als religionsstiftender Akt überhöht wurde, war nur das letzte in einer ganzen Reihe von Festessen, welche Schranken zwischen Menschen niederzureissen versuchten.

Diese Lebenspraxis, so Halbfas, ist zentral für die Botschaft von Jesus. Und er erläutert zum anderen: Dass sie in der Folge dermassen in den Hintergrund gedrängt wurde, begann schon nach wenigen Jahren, und zwar durch den Apostel Paulus. Dieser kann im eigentlichen Sinne als Gründer des Christentums angesprochen werden; als die Figur, die dem Freundeskreis des umgebrachten Jesus ein theologisches Konzept übergestülpt und dessen weltweite Verbreitung initiiert hat. Das Problem dabei: Paulus hat Jesus nicht persönlich gekannt. Er beruft sich darauf, die Botschaft durch eine direkte Offenbarung erhalten zu haben – und er gestaltet sie nach seiner Vorstellung. Das ist eine gebildete, durch die philosophischen Diskussionen ihrer Zeit geprägte Vorstellung. Tod und Auferstehung rücken (siehe Glaubensbekenntnis) ins Zentrum der Erinnerung; es entsteht – in scharfem Kontrast zur einschliessenden Lebenspraxis Jesu – eine exklusive, ausschliessende Religion.

Mit dieser knapp erläuterten Haupterkenntnis als Leitfaden analysiert Halbfas danach die Glaubenssprache, veraltete Gottesvorstellungen und konkreten Reformbedarf. Dem geringen Umfang des Buches sind eine gelegentlich verkürzte Argumentation und einige gewagte Themensprünge geschuldet. Mit Gewinn wäre deshalb wohl die „Langversion“ von Glaubensverlust zu lesen, das kurz zuvor erschienene Monumentalwerk Der Glaube. Erschlossen und kommentiert, welches dem gleichen Thema sechshundert Seiten widmet. Darin fänden sich vielleicht auch die Antworten auf zwei Fragen, die schmerzlich unbeantwortet geblieben sind. Zum einen wäre ich froh gewesen um eine ausführlichere Argumentation, auf welche Forschungen sich die Erkenntnisse zum Leben Jesu gründen. Diese Diskussion kann das populärwissenschaftliche Taschenbuch begreiflicherweise nicht führen. Zum anderen aber ist ein grundsätzliches, unangenehmes Dilemma nur angedeutet: Wenn von den gut 1980 Jahren, die seit dem Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus vergangen sind, etwa 1960 von der paulinischen Kreuzestod- und Auferstehungstheologie geprägt waren, was bedeutet denn eigentlich „Christentum“? Sind wir nicht gezwungen anzuerkennen, dass praktisch alles, was über zwei Jahrtausende im Namen und unter dem Etikett des Christentums gesagt und getan wurde, auf eben den Vorstellungen beruht, die Halbfas als kaum vereinbar mit dem Handeln Jesu identifiziert hat? Oder umgekehrt: Stellt eine dringend angesagte Rückkehr zu den Quellen nicht so gut wie alles in Frage, was wir historisch mit dem Christentum verbinden? Die Dekonstruktion der Religion „Christentum“ wird in Glaubensverlust überzeugend skizziert. Die konkreten, umfassenden Konsequenzen dieser Erkenntnis bleiben nur dräuende Ahnung.

Technisches: Hubertus Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss. Ostfildern, Patmos 32011. ISBN 978 3 8436 0100 9.

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