Dass die katholische Kirche in der Krise ist, war schon vor
Vatileaks offensichtlich; auch den anderen grossen christlichen Konfessionen
geht es nicht gerade blendend. Zahlreich sind die Symptome des Niedergangs,
zahlreich auch die vorgeschlagenen Erklärungen und Abhilfen. In seinem Buch Glaubensverlust unternimmt der deutsche Religionspädagoge
Hubertus Halbfas, der sich seit Jahren mit der Situation des Katholizismus in
der Gegenwart auseinandersetzt, auf gut hundert Seiten den Versuch, knapp und
präzis die Ursachen dieser Krise zu identifizieren. Der Kern seiner
Argumentation: Um den Grund des Malaises zu erkennen, reicht es, sich das
Apostolische Glaubensbekenntnis anzuschauen, jenes Gebet, das der katholischen,
christkatholischen und evangelischen Kirche gleichermassen zum öffentlichen
Formulieren der Kerninhalte ihres Glaubens dient, und welches zwar gelehrte
Formeln zu Jesus Christus, der Kerngestalt dieses Glaubens, anbietet, sein
Leben jedoch folgendermassen abstrahiert: „… Geboren von der Jungfrau Maria,
gelitten unter Pontius Pilatus…“ Was Jesus zwischen Geburt und Tod alles getan
hat, wird also mit keiner einzigen Silbe erwähnt. Ich habe im kürzlich
gelesenen Markus-Evangelium nachgemessen: Fast fünfundachtzig Prozent vom
Textumfang dieser Primärquelle zum Leben Jesu werden stillschweigend übergangen;
bei den anderen Evangelien sind die Zahlen ähnlich.
Für eine Religion, die sich explizit auf Jesus als Stifter
beruft, ist dies ein reichlich befremdendes Misstrauenszeugnis. Das Leben und Handeln
dieses Stifters scheint in der Theologie, die von ihm zu sprechen vorgibt, kaum
eine Rolle zu spielen. Halbfas vertieft in der Folge zwei Aspekte. Zum einen
hat die moderne theologische Forschung klar herausgearbeitet, dass Jesus eben
gerade kein Lehrgebäude errichtete (und noch weniger eine Religion gründete).
Vielmehr hat er eine konkrete und diesseitige Lebensordnung vorgelebt, die sich
durch eine unterschiedslose Offenheit gegenüber allen Menschen auszeichnete und
sich insbesondere im gemeinsamen Mahl äusserte. Das Letzte Abendmahl, das von
zweitausend Jahren Theologie als religionsstiftender Akt überhöht wurde, war
nur das letzte in einer ganzen Reihe von Festessen, welche Schranken zwischen
Menschen niederzureissen versuchten.
Diese Lebenspraxis, so Halbfas, ist zentral für die
Botschaft von Jesus. Und er erläutert zum anderen: Dass sie in der Folge dermassen
in den Hintergrund gedrängt wurde, begann schon nach wenigen Jahren, und zwar
durch den Apostel Paulus. Dieser kann im eigentlichen Sinne als Gründer des
Christentums angesprochen werden; als die Figur, die dem Freundeskreis des umgebrachten
Jesus ein theologisches Konzept übergestülpt und dessen weltweite Verbreitung
initiiert hat. Das Problem dabei: Paulus hat Jesus nicht persönlich gekannt. Er
beruft sich darauf, die Botschaft durch eine direkte Offenbarung erhalten zu
haben – und er gestaltet sie nach seiner Vorstellung. Das ist eine gebildete,
durch die philosophischen Diskussionen ihrer Zeit geprägte Vorstellung. Tod und
Auferstehung rücken (siehe Glaubensbekenntnis) ins Zentrum der Erinnerung; es
entsteht – in scharfem Kontrast zur einschliessenden
Lebenspraxis Jesu – eine exklusive, ausschliessende
Religion.
Mit dieser knapp erläuterten Haupterkenntnis als Leitfaden
analysiert Halbfas danach die Glaubenssprache, veraltete Gottesvorstellungen
und konkreten Reformbedarf. Dem geringen Umfang des Buches sind eine
gelegentlich verkürzte Argumentation und einige gewagte Themensprünge
geschuldet. Mit Gewinn wäre deshalb wohl die „Langversion“ von Glaubensverlust zu lesen, das kurz zuvor
erschienene Monumentalwerk Der Glaube.
Erschlossen und kommentiert, welches dem gleichen Thema sechshundert Seiten
widmet. Darin fänden sich vielleicht auch die Antworten auf zwei Fragen, die
schmerzlich unbeantwortet geblieben sind. Zum einen wäre ich froh gewesen um
eine ausführlichere Argumentation, auf welche Forschungen sich die Erkenntnisse
zum Leben Jesu gründen. Diese Diskussion kann das populärwissenschaftliche
Taschenbuch begreiflicherweise nicht führen. Zum anderen aber ist ein
grundsätzliches, unangenehmes Dilemma nur angedeutet: Wenn von den gut 1980
Jahren, die seit dem Beginn des öffentlichen Auftretens von Jesus vergangen
sind, etwa 1960 von der paulinischen Kreuzestod- und Auferstehungstheologie
geprägt waren, was bedeutet denn eigentlich „Christentum“? Sind wir nicht
gezwungen anzuerkennen, dass praktisch alles, was über zwei Jahrtausende im
Namen und unter dem Etikett des Christentums gesagt und getan wurde, auf eben
den Vorstellungen beruht, die Halbfas als kaum vereinbar mit dem Handeln Jesu
identifiziert hat? Oder umgekehrt: Stellt eine dringend angesagte Rückkehr zu
den Quellen nicht so gut wie alles in Frage, was wir historisch mit dem
Christentum verbinden? Die Dekonstruktion der Religion „Christentum“ wird in Glaubensverlust überzeugend skizziert. Die
konkreten, umfassenden Konsequenzen dieser Erkenntnis bleiben nur dräuende Ahnung.
Technisches: Hubertus
Halbfas, Glaubensverlust. Warum sich das Christentum neu erfinden muss.
Ostfildern, Patmos 32011. ISBN 978 3 8436 0100 9.
Montag, 4. Juni 2012
Das Christentum, ein folgenreicher Fehlstart
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen