Samstag, 15. Dezember 2012

Kapitale Erfindungen

Das Landesmuseum Zürich beweist wissenschaftliche Kühnheit, ein so gewichtiges und spannendes, aber komplexes und wenig anschauliches Thema wie die Herausbildung des Kapitalismus in einer Sonderausstellung umzusetzen: Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zu ihren Blütezeiten im Mittelalter beziehungsweise in der frühen Neuzeit wurden in diesen beiden Städten wesentliche Elemente unserer heutigen Wirtschaftsordnung entwickelt. In Analogie zur kulturell-literarischen Klassik liesse sich von einer „ökonomischen Klassik“ sprechen, um das fruchtbare, komplexe Zusammenspiel einer jeweils idealen geografischen Lage, einer atypischen politischen Situation, einer kreativen Denkweise und weiterer Einflüsse zu charakterisieren. Das führte zur Entstehung von neuen und bis heute unabdingbaren Konzepten und Finanzierungsmodellen, zur scharfen Konzentration aller staatlichen und privaten Anstrengungen auf den Handel sowie zu unermesslichem Reichtum – in erster Linie für die führenden Familien, aber in beschränktem Mass auch für eine entstehende, schmale Mittelschicht. Und mit dem Verlust der günstigen Rahmenbedingungen ging in Venedig wie in Amsterdam ein gleiches Symptom für den Niedergang einher: der Abschied der Kaufleute vom risikoreichen Handel und der Rückzug auf den Genuss ihres Vermögens. Parallelen zur Gegenwart werden am Schluss mit einem unerwarteten Schwenk auf China explizit angedeutet, sind aber in der ganzen Ausstellung präsent.

Soviel zum Thema. Nun soll ein Museum aber Geschichte anhand von Gegenständen erzählen; wer es besucht, will keine Texte lesen, sondern Objekte sehen und dann den notwendigen Kontext dazu erfahren. Es zeigt sich, dass das bei diesem Thema kaum möglich ist. Die Ausstellungsmacher haben zwar grosse Kreativität bewiesen und kaum einen Aufwand gescheut: Beispielsweise haben sie das halbe Museo Correr aus Venedig als Leihgabe nach Zürich geholt. (Aus den eigenen Beständen des Nationalmuseums konnte zu diesem Thema kaum etwas beigesteuert werden.) Viele der gezeigten Gegenstände haben jedoch nur eine entfernt illustrative Funktion und stehen deshalb etwas verloren da. Und viele spektakuläre Stücke sind nur als Kopien zu sehen – punktuell zwar akzeptabel, aber für ein Museum eigentlich ein Unding. Nur einige wenige Objekte haben ein echtes Wow-Erlebnis erzeugt: Eindrücklich sind etwa die kürzlich wiederentdeckte älteste Aktie der Welt, oder die detaillierten Modelle der Brenta-Villen, starke Symbole für den Rückzug der reichen Venezianer ins Private in der Zeit des Niedergangs. Doch lässt sich im Ganzen nicht überdecken, dass die Texte und Filme der zentrale Inhalt der Ausstellung sind. Die sind freilich magistral, auf den Punkt formuliert, in der richtigen Länge und Ausführlichkeit, im besten Sinne didaktisch. Aber soll man deswegen nach Zürich reisen?

Die Frage ist umso berechtigter, weil das Landesmuseum zu seiner Ausstellung den vielleicht genialsten Katalog veröffentlicht hat, der mir bislang unter die Augen gekommen ist: Für zwanzig Franken erhält man ein kleines (Reclam-Format), hochwertiges Bändchen, gebunden, mit goldfarbenem Umschlag und Lesezeichen, das neben Einleitung und ausführlichem Glossar auf 270 Seiten genau vier Essays enthält, zwei zu Venedig, zwei zu Amsterdam. Die Texte sind meisterhaft geschrieben, lesen sich flüssig und logisch, bieten mit sicherer Hand die Einordnung und die Gesamtsicht, welche die Ausstellung nicht in dieser Konsequenz leistet. Ich habe es noch auf der Rückfahrt begonnen und mühelos praktisch in einem Zug gelesen. Und wenn ich wählen müsste zwischen dem Ausstellungsbesuch und der Kataloglektüre, würde ich mich ohne Zögern für letzteres entscheiden.

Technisches: Die Ausstellung „Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam“ ist im Landesmuseum Zürich noch bis am 17.02.2013 zu sehen. Im Eintrittspreis von 10 Franken ist neben den Sonderausstellungen auch die spektakuläre Dauerausstellung inbegriffen. (Bernisches Historisches Museum, hörst du mich? Dagegen siehst du mit deinen Fantasiepreisen ziemlich alt aus.) Der Katalog: Walter Keller (Hrsg.), Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zürich, Kein&Aber 2012. ISBN 978 3 0369 5653 4.

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