Das Landesmuseum Zürich beweist wissenschaftliche Kühnheit, ein
so gewichtiges und spannendes, aber komplexes und wenig anschauliches Thema wie
die Herausbildung des Kapitalismus in einer Sonderausstellung umzusetzen: Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam.
Zu ihren Blütezeiten im Mittelalter beziehungsweise in der frühen Neuzeit
wurden in diesen beiden Städten wesentliche Elemente unserer heutigen
Wirtschaftsordnung entwickelt. In Analogie zur kulturell-literarischen Klassik liesse
sich von einer „ökonomischen Klassik“ sprechen, um das fruchtbare, komplexe
Zusammenspiel einer jeweils idealen geografischen Lage, einer atypischen
politischen Situation, einer kreativen Denkweise und weiterer Einflüsse zu
charakterisieren. Das führte zur Entstehung von neuen und bis heute
unabdingbaren Konzepten und Finanzierungsmodellen, zur scharfen Konzentration
aller staatlichen und privaten Anstrengungen auf den Handel sowie zu
unermesslichem Reichtum – in erster Linie für die führenden Familien, aber in
beschränktem Mass auch für eine entstehende, schmale Mittelschicht. Und mit dem
Verlust der günstigen Rahmenbedingungen ging in Venedig wie in Amsterdam ein
gleiches Symptom für den Niedergang einher: der Abschied der Kaufleute vom
risikoreichen Handel und der Rückzug auf den Genuss ihres Vermögens. Parallelen
zur Gegenwart werden am Schluss mit einem unerwarteten Schwenk auf China explizit
angedeutet, sind aber in der ganzen Ausstellung präsent.
Soviel zum Thema. Nun soll ein Museum aber Geschichte anhand
von Gegenständen erzählen; wer es besucht, will keine Texte lesen, sondern
Objekte sehen und dann den notwendigen Kontext dazu erfahren. Es zeigt sich,
dass das bei diesem Thema kaum möglich ist. Die Ausstellungsmacher haben zwar grosse
Kreativität bewiesen und kaum einen Aufwand gescheut: Beispielsweise haben sie
das halbe Museo Correr aus Venedig als
Leihgabe nach Zürich geholt. (Aus den eigenen Beständen des Nationalmuseums
konnte zu diesem Thema kaum etwas beigesteuert werden.) Viele der gezeigten Gegenstände
haben jedoch nur eine entfernt illustrative Funktion und stehen deshalb etwas
verloren da. Und viele spektakuläre Stücke sind nur als Kopien zu sehen –
punktuell zwar akzeptabel, aber für ein Museum eigentlich ein Unding. Nur
einige wenige Objekte haben ein echtes Wow-Erlebnis erzeugt: Eindrücklich sind
etwa die kürzlich wiederentdeckte älteste Aktie der Welt, oder die
detaillierten Modelle der Brenta-Villen, starke Symbole für den Rückzug der
reichen Venezianer ins Private in der Zeit des Niedergangs. Doch lässt sich im
Ganzen nicht überdecken, dass die Texte und Filme der zentrale Inhalt der
Ausstellung sind. Die sind freilich magistral, auf den Punkt formuliert, in der
richtigen Länge und Ausführlichkeit, im besten Sinne didaktisch. Aber soll man
deswegen nach Zürich reisen?
Die Frage ist umso berechtigter, weil das Landesmuseum zu
seiner Ausstellung den vielleicht genialsten Katalog veröffentlicht hat, der mir bislang
unter die Augen gekommen ist: Für zwanzig Franken erhält man ein kleines
(Reclam-Format), hochwertiges Bändchen, gebunden, mit goldfarbenem Umschlag und
Lesezeichen, das neben Einleitung und ausführlichem Glossar auf 270 Seiten
genau vier Essays enthält, zwei zu Venedig, zwei zu Amsterdam. Die Texte sind meisterhaft
geschrieben, lesen sich flüssig und logisch, bieten mit sicherer Hand die
Einordnung und die Gesamtsicht, welche die Ausstellung nicht in dieser
Konsequenz leistet. Ich habe es noch auf der Rückfahrt begonnen und mühelos
praktisch in einem Zug gelesen. Und wenn ich wählen müsste zwischen dem
Ausstellungsbesuch und der Kataloglektüre, würde ich mich ohne Zögern für
letzteres entscheiden.
Technisches: Die
Ausstellung „Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam“ ist im Landesmuseum
Zürich noch bis am 17.02.2013 zu sehen. Im Eintrittspreis von 10 Franken ist
neben den Sonderausstellungen auch die spektakuläre Dauerausstellung
inbegriffen. (Bernisches Historisches Museum, hörst du mich? Dagegen siehst du
mit deinen Fantasiepreisen ziemlich alt aus.) Der Katalog: Walter Keller
(Hrsg.), Kapital. Kaufleute in Venedig und Amsterdam. Zürich, Kein&Aber
2012. ISBN 978 3 0369 5653 4.
Samstag, 15. Dezember 2012
Kapitale Erfindungen
Labels: Ausstellung, Kultur, Literatur, Museum
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