Wer den abendländischen Kanon intus hat, kann getrost
jederzeit ohne spezifische Vorbereitung ins Theater gehen. Alle anderen haben
jeweils zwei Optionen: sich zuvor etwas einlesen, oder es drauf ankommen
lassen. Ich habe zwar auch schon ein ganzes Buch durchgearbeitet, um für einen
Ballettbesuch einigermassen auf dem Laufenden zu sein. In der Woche vor
Weihnachten haben mich jedoch Fest- und andere Vorbereitungen sowie ein Schuss
Abenteuerlust dazu gebracht, mir im Stadttheater Bern Blaubart anzusehen, ohne auch nur einen Blick in die Wikipedia
geworfen zu haben.
Da B. auch nicht ausführlicher belesen war, konnten wir
unbelastet von jeglicher Voreingenommenheit in das Stück eintauchen – und dabei
ein Konzeptkunstwerk entdecken. Die Inszenierung von Max Frischs letztem grossem Prosastück ist gewissermassen das Aushängeschild der ersten gemeinsamen Saison
des Berner Hochkultur-Trägers Konzert
Theater Bern: ein Abend, an dem Schauspiel, Sinfonieorchester, Oper und
Ballett auch auf der Bühne fusionieren wollten. Und so sah das aus: Auf einem
dünnen Vorhang erzählten ineinander gemorphte Schwarzweissbilder rückwärts die
Geschichte eines Autounfalls, und eine surreale Videosequenz zeigte die
Protagonisten in einem an Sisyphos gemahnenden Duell. Dazwischen schälten die
Scheinwerfer einzelne Zimmer eines überdimensionierten, dreistöckigen
Puppenhauses aus dem Dunkel hinter der Leinwand, in denen sich zwischen
Alltagsszenen finstere Auftritte eines Racheengels mischten. Aus dem
Orchestergraben erklang dazu Franz Schrekers Kammersinfonie, ein akut expressionistisches
Werk, das einer Filmmusik nicht unähnlich düstere Ahnungen anklingen liess. Und
das war erst der Anfang.
Das mag chaotisch tönen und war es auch – aber diese alle
Gattungs- und Genregrenzen umstossende Inszenierung erwies sich als dem Werk
auf intensive Weise angemessen. Max Frischs Blaubart
spielt im Wesentlichen im Kopf und in den Träumen des Dr. Felix Schaad, der vom
Vorwurf, seine sechste Ehefrau erwürgt zu haben, zwar trotz beunruhigender
Indizien freigesprochen wurde, in der Schuldfrage jedoch verstrickt bleibt, den
Prozess mit seinen ausführlichen Zeuginnenbefragungen obsessiv in seinen
Gedanken nachspielt, von queren und schweren Träumen verfolgt wird, ein
unerwünschtes Geständnis ablegt und schliesslich verunfallt. Da ist wenig
Klarheit und Logik, viel Verwirrung und Unverständnis; und dass diese
Gemengelage nicht nur durch schrille Szenen und unvermittelte Übergänge auf die
Bühne gebracht wird, sondern dass da aufs Mal eine Arie einen Traum
kommentiert, dass geistliche Musik das Pathos einzelner Gedanken schroff
überhöht, dass Figuren unerwartet in Bewegung übergehen, ist letztlich nur eine
Illustration jener Grenzüberschreitungen, die in der Vorlage bereits vorhanden
und vollzogen sind. Die Akteure sind allesamt zu loben: Stéphane Maeder als
düsterer Dr. Schaad, Henriette Cejpek als Staatsanwältin und Racheengel und
beides im Gleichen, Milva Stark, die den absurden Reigen der Zeuginnen
inkarnierte, Claude Eichenberger, die der toten Ehefrau eine sehr lebendige
Sopranstimme verlieh. Missglückt ist einzig der Einbezug des Balletts. Das
liegt nicht an Irene Andreetto, die ihre Rosalinde präzis erfasst und mit
dosierter Überzeichnung charakterisiert hat, vielmehr an einer Regie, die in
ihrem Gesamtkonzept für den Tanz keinen Platz gefunden hat, der über ein paar agitierte
Bewegungen hinausgegangen wäre. Ehrlicher wäre vielleicht gewesen, auf den
hohen politischen Anspruch und die Beteiligung des Ballettensembles zu verzichten.
Und ich weiss nicht recht, was ich angesichts der jüngsten Diskussionen über
die Zukunft des Tanzes am Stadttheater dabei fühlen soll: Unbehagen, dass ausgerechnet
diese Sparte in die Gemeinschaftsproduktion nur alibimässig integriert wurde, oder
Erleichterung, dass sie trotz mangelnder Verwendung mit einbezogen wurde?
Technisches: Blaubart
steht in Bern noch am 5. Januar auf dem Programm. Habe ich schon erwähnt, dass ich
die neue Website von Konzert Theater Bern nur für mässig geglückt halte?
Designer und Programmierer haben alles gegeben, das Navigieren ist ein
spektakuläres Erlebnis; aber auf dem Smartphone sehe ich nur die Hälfte, und
wie ich einen Link nicht auf eine spezifische Vorstellung, sondern auf ein
Stück setzen kann, erschliesst sich mir nicht. Wen ich oben gelegentlich ins Leere
schicke, bitte ich mit dieser Beschwerde präventiv um Entschuldigung.
Donnerstag, 27. Dezember 2012
Blaubart
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