Donnerstag, 27. Dezember 2012

Blaubart

Wer den abendländischen Kanon intus hat, kann getrost jederzeit ohne spezifische Vorbereitung ins Theater gehen. Alle anderen haben jeweils zwei Optionen: sich zuvor etwas einlesen, oder es drauf ankommen lassen. Ich habe zwar auch schon ein ganzes Buch durchgearbeitet, um für einen Ballettbesuch einigermassen auf dem Laufenden zu sein. In der Woche vor Weihnachten haben mich jedoch Fest- und andere Vorbereitungen sowie ein Schuss Abenteuerlust dazu gebracht, mir im Stadttheater Bern Blaubart anzusehen, ohne auch nur einen Blick in die Wikipedia geworfen zu haben.

Da B. auch nicht ausführlicher belesen war, konnten wir unbelastet von jeglicher Voreingenommenheit in das Stück eintauchen – und dabei ein Konzeptkunstwerk entdecken. Die Inszenierung von Max Frischs letztem grossem Prosastück ist gewissermassen das Aushängeschild der ersten gemeinsamen Saison des Berner Hochkultur-Trägers Konzert Theater Bern: ein Abend, an dem Schauspiel, Sinfonieorchester, Oper und Ballett auch auf der Bühne fusionieren wollten. Und so sah das aus: Auf einem dünnen Vorhang erzählten ineinander gemorphte Schwarzweissbilder rückwärts die Geschichte eines Autounfalls, und eine surreale Videosequenz zeigte die Protagonisten in einem an Sisyphos gemahnenden Duell. Dazwischen schälten die Scheinwerfer einzelne Zimmer eines überdimensionierten, dreistöckigen Puppenhauses aus dem Dunkel hinter der Leinwand, in denen sich zwischen Alltagsszenen finstere Auftritte eines Racheengels mischten. Aus dem Orchestergraben erklang dazu Franz Schrekers Kammersinfonie, ein akut expressionistisches Werk, das einer Filmmusik nicht unähnlich düstere Ahnungen anklingen liess. Und das war erst der Anfang.

Das mag chaotisch tönen und war es auch – aber diese alle Gattungs- und Genregrenzen umstossende Inszenierung erwies sich als dem Werk auf intensive Weise angemessen. Max Frischs Blaubart spielt im Wesentlichen im Kopf und in den Träumen des Dr. Felix Schaad, der vom Vorwurf, seine sechste Ehefrau erwürgt zu haben, zwar trotz beunruhigender Indizien freigesprochen wurde, in der Schuldfrage jedoch verstrickt bleibt, den Prozess mit seinen ausführlichen Zeuginnenbefragungen obsessiv in seinen Gedanken nachspielt, von queren und schweren Träumen verfolgt wird, ein unerwünschtes Geständnis ablegt und schliesslich verunfallt. Da ist wenig Klarheit und Logik, viel Verwirrung und Unverständnis; und dass diese Gemengelage nicht nur durch schrille Szenen und unvermittelte Übergänge auf die Bühne gebracht wird, sondern dass da aufs Mal eine Arie einen Traum kommentiert, dass geistliche Musik das Pathos einzelner Gedanken schroff überhöht, dass Figuren unerwartet in Bewegung übergehen, ist letztlich nur eine Illustration jener Grenzüberschreitungen, die in der Vorlage bereits vorhanden und vollzogen sind. Die Akteure sind allesamt zu loben: Stéphane Maeder als düsterer Dr. Schaad, Henriette Cejpek als Staatsanwältin und Racheengel und beides im Gleichen, Milva Stark, die den absurden Reigen der Zeuginnen inkarnierte, Claude Eichenberger, die der toten Ehefrau eine sehr lebendige Sopranstimme verlieh. Missglückt ist einzig der Einbezug des Balletts. Das liegt nicht an Irene Andreetto, die ihre Rosalinde präzis erfasst und mit dosierter Überzeichnung charakterisiert hat, vielmehr an einer Regie, die in ihrem Gesamtkonzept für den Tanz keinen Platz gefunden hat, der über ein paar agitierte Bewegungen hinausgegangen wäre. Ehrlicher wäre vielleicht gewesen, auf den hohen politischen Anspruch und die Beteiligung des Ballettensembles zu verzichten. Und ich weiss nicht recht, was ich angesichts der jüngsten Diskussionen über die Zukunft des Tanzes am Stadttheater dabei fühlen soll: Unbehagen, dass ausgerechnet diese Sparte in die Gemeinschaftsproduktion nur alibimässig integriert wurde, oder Erleichterung, dass sie trotz mangelnder Verwendung mit einbezogen wurde?

Technisches: Blaubart steht in Bern noch am 5. Januar auf dem Programm. Habe ich schon erwähnt, dass ich die neue Website von Konzert Theater Bern nur für mässig geglückt halte? Designer und Programmierer haben alles gegeben, das Navigieren ist ein spektakuläres Erlebnis; aber auf dem Smartphone sehe ich nur die Hälfte, und wie ich einen Link nicht auf eine spezifische Vorstellung, sondern auf ein Stück setzen kann, erschliesst sich mir nicht. Wen ich oben gelegentlich ins Leere schicke, bitte ich mit dieser Beschwerde präventiv um Entschuldigung.

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