Sonntag, 16. September 2012

Reichlich Stoff

Seinen Stoffen stellt Friedrich Dürrenmatt Schopenhauers sarkastische Empfehlungen an den Leser zum alternativen Gebrauch eines Buches voran, die im Rat gipfeln: Oder endlich er kann ja, was gewiss das Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren. Wer dies hier zu tun sich anschickt, stockt aber schon beim ersten Satz; wenn er sich nämlich überlegt, wie das Werk zu charakterisieren wäre. Nicht dass Dürrenmatt dies nicht einleitend knapp und präzis unternommen hätte, indem er nämlich ankündigt, im Folgenden angesichts der Unmöglichkeit einer Autobiografie nicht über die Geschichte seines Lebens, sondern über die Geschichte seiner Stoffe zu schreiben. Doch mit dieser Definition einer neuen literarischen Gattung ist wenig gewonnen. Was ist denn ein Stoff? Wieso spricht Dürrenmatt von seinen Stoffen wie von Möbeln oder alten Freunden? Wie kommt er dazu, seine ungeschriebenen Stoffe nun auch noch aufschreiben zu wollen

Es wird dann allmählich klarer. Wenn der Begriff nicht so New Age wäre, könnten wir von den „Lebensthemen“ des Autors sprechen; „Stoffe“ ist ein handfesteres, Dürrenmattsches Wort dafür. Dass die Stoffe sehr wohl eine Autobiografie sind, lässt sich auch nicht lange verleugnen – eine lückenhafte, gewiss, aber das sind sie alle –; eine Autobiografie, die untersucht, wie das Leben des Autors die paar grossen, wiederkehrenden Themen erschaffen und geformt hat, die den Steinbruch für seine Literatur ausmachen. So ergibt sich die Analyse einer gewissen Unausweichlichkeit, mit der sich Erlebnisse und Ideen zu Themenkomplexen verdichten, an denen sich schon der kindliche und adoleszente Geist abgearbeitet hat, und die dem Schriftsteller ganz notwendigerweise zum Gegenstand des Schreibens werden. Viel ist die Rede von gescheiterten Versuchen, von stecken gebliebenen Ansätzen, und man kann sich die Mühsal vorstellen, diese Stoffe nicht nur historisch und theoretisch zu analysieren, sondern sie nun endlich in einem finalen Kraftakt doch noch literarisch zu gestalten. Das bleibt manchmal skizzenhaft und fragmentarisch; zwei-drei der Stoffe entwickelt Dürrenmatt in dieser Vergangenheitsbewältigung jedoch zu kraftvollen, vollendeten Miniaturen – etwa im ersten und längsten dieser Stücke, dem Winterkrieg in Tibet, einer apokalyptischen Horrorvision eines sinnentleerten Mordens in einem end- und aussichtslosen Stollenlabyrinth hoch unter den Gipfeln des Himalaya, die mich (wiewohl auf einer Fähre in der sonnendurchfluteten Ägäis) mit gehetztem Blick und beklemmtem Herzen zurückliess und die ich zum Besten zähle, was Dürrenmatt geschrieben hat.

All diese meine Beschreibungsversuche sind unvermeidlich Vereinfachungen. Der Dürrenmatt-Spezialist (dessen Namen mir entfallen ist), der die Stoffe als Antwort auf die abgelutschte Frage nach dem Buch für die einsame Insel nannte, hat schon recht: Ich kenne schlicht kein anderes Buch, das dermassen komplex und vielschichtig ist, auf einer oberflächlichen Ebene immer zugänglich und spannend, darunter aber Schichten der Reflexion auftürmt, die Literatur- und Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in gleicher Weise analysierend und verknüpfend, philosophische Schulen scheidend und kritisierend, ein Abriss auch der Schweizer Mentalitätsgeschichte, ein Rundumschlag im uferlosen Universum des Friedrich Dürrenmatt. Ich bilde mir auf meine humanistische Allgemeinbildung ein bisschen etwas ein, musste aber laufend vor dem Anspielungsreichtum kapitulieren. Wer eine gut sortierte Handbibliothek in Griffweite hätte, könnte das Gewirr dieses Gesamtkunstwerkes nach Belieben und in aller Tiefe entflechten und analysieren; und wer seinen Dürrenmatt kennt, entdeckt in den Stoffen gleichsam eine Vielzahl alter Bekannter, teils in Rohformen, teils in Details, gelegentlich auch im Negativ (wie beim „Original“ der Alten Dame, die hier ein Alter Herr ist).

Auf paradoxe Weise scheint mir, dass sich der Dramatiker Dürrenmatt in der Prosa am schöpferischsten austobt, wo er seine endlosen, verschachtelten und frei assoziierenden Sätze mit grossem Gestus über die Seiten ausbreiten kann, ohne Rücksicht auf Verluste, en passant philosophische und politische Grundsatzfragen wenn nicht lösend, so zumindest träf diskutierend, dabei mit Spott nicht sparend – und immer mit dieser Liebe zum Absurden, die mich laufend schmunzeln, öfters kichern und gelegentlich ungehemmt auflachen liess. Die Stoffe sind ein Werk, das man nicht in einem Mal gelesen hat. Ich zweifle nicht, dass ich sie noch unzählige Male mit gleichem Gewinn und Genuss lesen, auf Einzelnes fokussieren oder einfach nur irgendwo aufschlagen kann. Ein Steinbruch von Dürrenmatts Schaffen, ein Steinbruch für den Dürrenmatt-Leser.

Technisches: Ich habe mir seinerzeit kurz nach Dürrenmatts Tod die günstige siebenbändige Gesamtausgabe erstanden, die der Diogenes-Verlag damals anbot und in der die Stoffe als Band 6 enthalten sind. Ursprünglich sind die Stoffe in zwei Schüben erschienen: Labyrinth. Stoffe I-III. Zürich, Diogenes 1990 (Erstausgabe unter dem Titel Stoffe I-III 1981). Turmbau. Stoffe IV-IX. Zürich, Diogenes 1990.

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