Seinen Stoffen stellt
Friedrich Dürrenmatt Schopenhauers sarkastische Empfehlungen an den Leser zum
alternativen Gebrauch eines Buches voran, die im Rat gipfeln: Oder endlich er kann ja, was gewiss das
Beste von Allem ist und ich besonders rathe, es recensiren. Wer dies hier zu tun
sich anschickt, stockt aber schon beim ersten Satz; wenn er sich nämlich überlegt,
wie das Werk zu charakterisieren wäre. Nicht dass Dürrenmatt dies nicht
einleitend knapp und präzis unternommen hätte, indem er nämlich ankündigt, im
Folgenden angesichts der Unmöglichkeit einer Autobiografie nicht über die
Geschichte seines Lebens, sondern über die Geschichte seiner Stoffe zu
schreiben. Doch mit dieser Definition einer neuen literarischen Gattung ist wenig
gewonnen. Was ist denn ein Stoff? Wieso spricht Dürrenmatt von seinen Stoffen
wie von Möbeln oder alten Freunden? Wie kommt er dazu, seine ungeschriebenen
Stoffe nun auch noch aufschreiben zu wollen
Es wird dann allmählich klarer. Wenn der Begriff nicht so
New Age wäre, könnten wir von den „Lebensthemen“ des Autors sprechen; „Stoffe“
ist ein handfesteres, Dürrenmattsches Wort dafür. Dass die Stoffe sehr wohl
eine Autobiografie sind, lässt sich auch nicht lange verleugnen – eine
lückenhafte, gewiss, aber das sind sie alle –; eine Autobiografie, die
untersucht, wie das Leben des Autors die paar grossen, wiederkehrenden Themen
erschaffen und geformt hat, die den Steinbruch für seine Literatur ausmachen. So
ergibt sich die Analyse einer gewissen Unausweichlichkeit, mit der sich Erlebnisse
und Ideen zu Themenkomplexen verdichten, an denen sich schon der kindliche und
adoleszente Geist abgearbeitet hat, und die dem Schriftsteller ganz
notwendigerweise zum Gegenstand des Schreibens werden. Viel ist die Rede von
gescheiterten Versuchen, von stecken gebliebenen Ansätzen, und man kann sich
die Mühsal vorstellen, diese Stoffe nicht nur historisch und theoretisch zu
analysieren, sondern sie nun endlich in einem finalen Kraftakt doch noch
literarisch zu gestalten. Das bleibt manchmal skizzenhaft und fragmentarisch;
zwei-drei der Stoffe entwickelt Dürrenmatt in dieser Vergangenheitsbewältigung
jedoch zu kraftvollen, vollendeten Miniaturen – etwa im ersten und längsten dieser
Stücke, dem Winterkrieg in Tibet,
einer apokalyptischen Horrorvision eines sinnentleerten Mordens in einem end-
und aussichtslosen Stollenlabyrinth hoch unter den Gipfeln des Himalaya, die
mich (wiewohl auf einer Fähre in der sonnendurchfluteten Ägäis) mit gehetztem
Blick und beklemmtem Herzen zurückliess und die ich zum Besten zähle, was Dürrenmatt
geschrieben hat.
All diese meine Beschreibungsversuche sind unvermeidlich
Vereinfachungen. Der Dürrenmatt-Spezialist (dessen Namen mir entfallen ist),
der die Stoffe als Antwort auf die abgelutschte Frage nach dem Buch für die
einsame Insel nannte, hat schon recht: Ich kenne schlicht kein anderes Buch,
das dermassen komplex und vielschichtig ist, auf einer oberflächlichen Ebene
immer zugänglich und spannend, darunter aber Schichten der Reflexion auftürmt,
die Literatur- und Kunstgeschichte des zwanzigsten Jahrhunderts in gleicher
Weise analysierend und verknüpfend, philosophische Schulen scheidend und
kritisierend, ein Abriss auch der Schweizer Mentalitätsgeschichte, ein
Rundumschlag im uferlosen Universum des Friedrich Dürrenmatt. Ich bilde mir auf
meine humanistische Allgemeinbildung ein bisschen etwas ein, musste aber
laufend vor dem Anspielungsreichtum kapitulieren. Wer eine gut sortierte
Handbibliothek in Griffweite hätte, könnte das Gewirr dieses Gesamtkunstwerkes
nach Belieben und in aller Tiefe entflechten und analysieren; und wer seinen
Dürrenmatt kennt, entdeckt in den Stoffen gleichsam eine Vielzahl alter
Bekannter, teils in Rohformen, teils in Details, gelegentlich auch im Negativ
(wie beim „Original“ der Alten Dame, die hier ein Alter Herr ist).
Auf paradoxe Weise scheint mir, dass sich der Dramatiker
Dürrenmatt in der Prosa am schöpferischsten austobt, wo er seine endlosen,
verschachtelten und frei assoziierenden Sätze mit grossem Gestus über die
Seiten ausbreiten kann, ohne Rücksicht auf Verluste, en passant philosophische
und politische Grundsatzfragen wenn nicht lösend, so zumindest träf
diskutierend, dabei mit Spott nicht sparend – und immer mit dieser Liebe zum
Absurden, die mich laufend schmunzeln, öfters kichern und gelegentlich ungehemmt
auflachen liess. Die Stoffe sind ein Werk, das man nicht in einem Mal gelesen
hat. Ich zweifle nicht, dass ich sie noch unzählige Male mit gleichem Gewinn
und Genuss lesen, auf Einzelnes fokussieren oder einfach nur irgendwo
aufschlagen kann. Ein Steinbruch von Dürrenmatts Schaffen, ein Steinbruch für
den Dürrenmatt-Leser.
Technisches: Ich habe
mir seinerzeit kurz nach Dürrenmatts Tod die günstige siebenbändige
Gesamtausgabe erstanden, die der Diogenes-Verlag damals anbot und in der die
Stoffe als Band 6 enthalten sind. Ursprünglich sind die Stoffe in zwei Schüben
erschienen: Labyrinth. Stoffe I-III. Zürich, Diogenes 1990 (Erstausgabe unter
dem Titel Stoffe I-III 1981). Turmbau. Stoffe IV-IX. Zürich, Diogenes 1990.
Sonntag, 16. September 2012
Reichlich Stoff
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