In der Regel bringe ich es nicht fertig, bei den
mehrteiligen Tanzabenden im Stadttheater Bern den roten Faden zu sehen. Zu disparat,
zu unverbunden scheinen mir die einzelnen Stücke meistens. Das ist ja auch gar kein
Problem, wenn das Programmheft nicht ein gemeinsames Thema behaupten oder
nahelegen würde. Dieses Mal war es anders: V:dance everywhere lautete der reichlich neutrale Titel des zweiten Ballettabends
der Saison, seine drei Teile wurden fein säuberlich jeder für sich selbst
vorgestellt – und ich fand einen spannenden roten Faden: Was wir zu sehen
bekamen, war so etwas wie eine mehrstufige Bauanleitung für Tanz.
Die quadratische weisse Spielfläche vor den nackten,
schwarzen Mauern von Vidmar:1 im Stück Speakers
der israelischen Choreografin Noa Zuk evozierte entfernt eine Meisterschaft im
Bodenturnen. Mit dem Gebotenen hatte diese Anspielung gemein, dass in beiden Settings
nacktes, schnörkelloses Können gezeigt wird. Zu einer Klangkulisse von
elektronischen Tönen und Rhythmen sahen wir so etwas wie einen Katalog aller
möglichen Bewegungen. Mit niemals zögernder, höchster Präzision schnellten die
Glieder in eine nicht enden wollende Serie Positionen. Das hatte etwas
mechanisch-wissenschaftliches und war so etwas wie eine Auslegeordnung: Diese
Bewegungen, diese Körperhaltungen sind möglich; dazu diese Geräusche und Töne.
Bedient euch, gebraucht dieses Material, macht daraus etwas Neues.
Nach der ersten Pause war der weisse Boden durch einen roten
Teppich ersetzt, von dürren Ästen umstanden und daraus heraus beleuchtet; als
Musik erklang ein eigenwilliges, aber faszinierendes Gemisch von Flamenco und
Vokalschönheit. Zwei Tänzer loteten die Möglichkeiten aus, Bewegungen zu
koordinieren. Sie taten dies zunächst synchron, exerzierten parallele
Perfektion durch; dann entstanden Abweichungen, Komplementarität. Hier ist das
zweite, wesentliche Element in der Bauanleitung: Tanz ist Bewegung in
Beziehung, wo eins plus eins mehr als zwei gibt. Das Stück hiess Digital Duende, ein „Klassiker der
Moderne“ (so das Programmheft) von Jyrki Karttunen.
In der zweiten Pause konnten sich die Eindrücke etwas
setzen, zu einem Interpretationsraum vereinen. Und dann: Ultima Thule von Erick Guillard, ehemaliger Tänzer des Bern:Ballett.
Es war, wie wenn der ganze Abend auf das hier hingearbeitet hätte. Ein
grandioses, dichtes Stück mit der gesamten Compagnie, von beeindruckender
Geschlossenheit und Intensität. Vorhänge in hellem Beige-grau, der unfarbigsten
aller Farben, umgaben die Spielfläche, evozierten eine Atmosphäre von Nervenheilanstalt;
und einigen der Figuren war ihr Leiden anzusehen. Ganz nahe beieinander standen
sie zu Beginn, gemeinsam, aber dennoch verloren; dann nahmen sie den Raum in
Anspruch, oft ziellos und doch in stiller Harmonie. Einzelne wurden von
Panikattacken befallen, rannten los, brachen in unkontrolliertes Zucken aus; in
starken Szenen von grösster Behutsamkeit nahm sie ein anderer in den Arm,
versuchte sie zu trösten. Trotz dieser Zärtlichkeit herrschten vorwiegend
Melancholie und Ausweglosigkeit; und als am Schluss wieder das Bild des Anfangs
entstand, schwang Verzweiflung mit. Ein grosses Stück – und ein reicher (und
reichhaltiger) Abend.
Technisches: Wie üblich bei meinen Ballettrezensionen hat auch diese
hier unglaublich lange reifen müssen. V:dance everywhere ist schon seit einiger
Zeit vom Spielplan verschwunden… Eine andere Perspektive auf den Abend bieten
die Besprechungen von Marianne Mühlemann in der Berner Zeitung und von Poltron
auf tanznetz.de.
Freitag, 18. Mai 2012
Bauanleitung für Tanz
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