Freitag, 18. Mai 2012

Bauanleitung für Tanz

In der Regel bringe ich es nicht fertig, bei den mehrteiligen Tanzabenden im Stadttheater Bern den roten Faden zu sehen. Zu disparat, zu unverbunden scheinen mir die einzelnen Stücke meistens. Das ist ja auch gar kein Problem, wenn das Programmheft nicht ein gemeinsames Thema behaupten oder nahelegen würde. Dieses Mal war es anders: V:dance everywhere lautete der reichlich neutrale Titel des zweiten Ballettabends der Saison, seine drei Teile wurden fein säuberlich jeder für sich selbst vorgestellt – und ich fand einen spannenden roten Faden: Was wir zu sehen bekamen, war so etwas wie eine mehrstufige Bauanleitung für Tanz.
 Die quadratische weisse Spielfläche vor den nackten, schwarzen Mauern von Vidmar:1 im Stück Speakers der israelischen Choreografin Noa Zuk evozierte entfernt eine Meisterschaft im Bodenturnen. Mit dem Gebotenen hatte diese Anspielung gemein, dass in beiden Settings nacktes, schnörkelloses Können gezeigt wird. Zu einer Klangkulisse von elektronischen Tönen und Rhythmen sahen wir so etwas wie einen Katalog aller möglichen Bewegungen. Mit niemals zögernder, höchster Präzision schnellten die Glieder in eine nicht enden wollende Serie Positionen. Das hatte etwas mechanisch-wissenschaftliches und war so etwas wie eine Auslegeordnung: Diese Bewegungen, diese Körperhaltungen sind möglich; dazu diese Geräusche und Töne. Bedient euch, gebraucht dieses Material, macht daraus etwas Neues.
Nach der ersten Pause war der weisse Boden durch einen roten Teppich ersetzt, von dürren Ästen umstanden und daraus heraus beleuchtet; als Musik erklang ein eigenwilliges, aber faszinierendes Gemisch von Flamenco und Vokalschönheit. Zwei Tänzer loteten die Möglichkeiten aus, Bewegungen zu koordinieren. Sie taten dies zunächst synchron, exerzierten parallele Perfektion durch; dann entstanden Abweichungen, Komplementarität. Hier ist das zweite, wesentliche Element in der Bauanleitung: Tanz ist Bewegung in Beziehung, wo eins plus eins mehr als zwei gibt. Das Stück hiess Digital Duende, ein „Klassiker der Moderne“ (so das Programmheft) von Jyrki Karttunen.
In der zweiten Pause konnten sich die Eindrücke etwas setzen, zu einem Interpretationsraum vereinen. Und dann: Ultima Thule von Erick Guillard, ehemaliger Tänzer des Bern:Ballett. Es war, wie wenn der ganze Abend auf das hier hingearbeitet hätte. Ein grandioses, dichtes Stück mit der gesamten Compagnie, von beeindruckender Geschlossenheit und Intensität. Vorhänge in hellem Beige-grau, der unfarbigsten aller Farben, umgaben die Spielfläche, evozierten eine Atmosphäre von Nervenheilanstalt; und einigen der Figuren war ihr Leiden anzusehen. Ganz nahe beieinander standen sie zu Beginn, gemeinsam, aber dennoch verloren; dann nahmen sie den Raum in Anspruch, oft ziellos und doch in stiller Harmonie. Einzelne wurden von Panikattacken befallen, rannten los, brachen in unkontrolliertes Zucken aus; in starken Szenen von grösster Behutsamkeit nahm sie ein anderer in den Arm, versuchte sie zu trösten. Trotz dieser Zärtlichkeit herrschten vorwiegend Melancholie und Ausweglosigkeit; und als am Schluss wieder das Bild des Anfangs entstand, schwang Verzweiflung mit. Ein grosses Stück – und ein reicher (und reichhaltiger) Abend.

Technisches: Wie üblich bei meinen Ballettrezensionen hat auch diese hier unglaublich lange reifen müssen. V:dance everywhere ist schon seit einiger Zeit vom Spielplan verschwunden… Eine andere Perspektive auf den Abend bieten die Besprechungen von Marianne Mühlemann in der Berner Zeitung und von Poltron auf tanznetz.de.

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