Sonntag, 6. Mai 2012

Der Tod wäscht alles rein

Wie ein Profi einen Mordfall löst, davon habe ich ehrlich gesagt keine Ahnung. Ich weiss nur, dass in Krimis der Kommissar sich jeweils mühsamst vom einen Zeugen zum nächsten vorkämpft, unterstützt von Gerichtsmedizin, Spurensicherung und mürrischen Assistenten hunderte von Elementen und Indizien sammelt und schliesslich – oft mit Hilfe eines etwas zufälligen Zufalls – das entscheidende davon identifiziert und so den Fall aufdröselt. Was der Held immer braucht, ist sein in langer Erfahrung geschärfter sechster Sinn für sein Terrain und seine Pappenheimer. Was aber, wenn der Kommissar Gegend und Bewohner gar nicht kennt, weil er kein Einheimischer ist? Und wenn sich das ganze ausgerechnet im ländlichen, sich ungezügelt urbanisierenden Sardinien abspielt, wo jeder Stein eine Geschichte hat, wo man in Fabeln und Legenden denkt und lebt?

Auf dieser Spannung baut Marcello Fois seinen Krimi Der Tod wäscht alles rein auf. Commissario Sanuti lässt sich aus Rimini für ein Jahr nach Sardinien versetzen. Der Luftwechsel erweist sich als relativ anstrengend, denn im Mordfall Michele Marongiu, der ihm an seinem zweiten Arbeitstag am neuen Ort unterkommt, steht er wie der Esel am Berg da. Es wird schnell klar, dass sich hinter dem Offensichtlichen viel anderes verbergen muss; wie flüchtige Juckreize kitzeln zuhauf seltsame Indizien des Inspektors Gehirn; und die Einsicht, dass die Lösung wohl offen daliegen würde, wenn er nur die Lebensgeschichten dieser Unbekannten kennen würde, frustriert ihn endlos. Wer profitiert von der Baustelle, auf der der Tote gefunden wurde? Wem gehört das Terrain, wer ist der Bauunternehmer? Wie sind sie politisch vernetzt? Weshalb hat sich der Bruder des Opfers vor einigen Jahren das Leben genommen? Wer sind oder waren seine Eltern, und welche Geschichte hatten sie? Wer das alles wüsste, hätte den Fall wohl schon so gut wie gelöst.

Schritt um Schritt werden uns diese Geschichten erzählt. Der erfahrene Staatsanwalt Corona und der pensionierte Carabinieri-Maresciallo Pili bringen dem armen Sanuti zunächst zögernd, danach freigebiger behutsam den lokalen Background bei. Marcello Fois zelebriert die Not des Erkennens, indem er verschwörerische Anspielungen einstreut, öfter die Perspektive und die Zeit wechselt und diverse ungenannte Erzähler berichten lässt. Für meinen Geschmack ist das alles ein bisschen zu prätentiös. (Ich erinnere mich an Unter den Mauern Bolognas von Fois‘ Kollegen Loriano Macchiavelli, wo mir der altkluge und geschwätzige Erzähler auch etwas mühsam vorgekommen war.) Freilich gelingt es ihm so, eine düstere Atmosphäre zu schaffen und eine komplexe Geschichte auf komplexe Weise zu erzählen. Der Leser tut gut daran, den Kopf bei der Sache zu haben.

Technisches: Marcello Fois, Der Tod wäscht alles rein. Aus dem Italienischen von Monika Lustig. München, List 2002. ISBN 3 548 68041 0. Auf Italienisch ist das Buch unter dem Titel Dura Madre 2001 bei Einaudi in Turin erschienen (derzeit nur noch als eBook erhältlich). Die deutsche Übersetzung verdient eine spezielle ehrenvolle Erwähnung, weil sie dem sprachlich und sprachspielerisch nicht einfachen Text gut gerecht wird.

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