Freitag, 21. Januar 2011

Sennentuntschi

Als Kind verband mich mit den Sagen meiner engeren Heimat eine Art Hassliebe. Ich war fasziniert von diesen Geschichten und gleichzeitig niemals frei von der Angst, dass tatsächlich um das nächtliche Haus die Sträggele toben oder auf den Höhen des Lindenbergs der Stiefeliryter jagen könnte. Mit dem Erwachsenwerden ist diese Angst zum Glück verschwunden; die Faszination aber ist geblieben, ja vielleicht noch stärker geworden. Auf jeden Fall ist mir heute klarer bewusst, weshalb Sagen den Leser oder Hörer so unmittelbar packen und ansprechen: weil sie nämlich das Unheimliche und das Unrecht aus dem theoretischen, bloss gefühlten Bereich in die Realität holen und unmittelbar erfahrbar machen. Es gibt in der Sagenwelt eine übergreifende Logik, ein Bewusstsein für Zusammenhänge zwischen Ursache und Vergeltung. Das Unbehagen, das jeden recht Denkenden befallen muss, wenn er von Unrecht erfährt, befällt hier oftmals in furchtbarer Konsequenz denjenigen, der es verursacht hat. Sagen sind so gewissermassen ein Versuch der Volksüberlieferung, das real existierende Ungleichgewicht zwischen Tätern und Opfern irgendwie zu einem Ausgleich zu bringen.

Und damit sind wir schon mitten in der Analyse des Sennentuntschis. Exemplarisch werden in dieser Geschichte einer weiblichen Puppe, welche von ein paar Sennen zur Unterhaltung und Triebableitung gebastelt, dann lebendig wird und sich zum Schluss fürchterlich für das ihr Angetane rächt, Frevel und Strafe verhandelt. Der Regisseur Michael Steiner hat das Sennentuntschi ins Kino gebracht und ihm eine kongeniale Wendung gegeben: Er erzählt die Geschichte als Krimi. In einem kleinen Dorf in den Bündner Bergen wird der Mesner an der Kirchglocke baumelnd gefunden, aber nichtsdestotrotz in geweihter Erde bestattet – und als sich die Trauerprozession durch die engen Gassen windet, taucht hinter einer Hausecke plötzlich eine schöne junge Frau auf, die Haare zerzaust, behelfsmässig gekleidet und total entkräftet. Der junge Dorfpolizist kümmert sich um das seltsame, sprachlose Wesen, scheint aber im ganzen Ort der einzige zu sein, der nicht entweder mit Ekel, Panik oder Verachtung auf sie reagiert. Verwoben in die Geschehnisse im Dorf und im Unterland wird allmählich die Vorgeschichte auf der Alp, hoch oben, in einer unheimlichen und zugleich unheimlich schönen, von der Zivilisation entrückten Parallelwelt; zudem tragen dreissig Jahre zurück liegende Erinnerungen zur wachsenden Beklemmung bei. Der Plot ist meisterhaft gestaltet, evoziert bald einen Horrorfilm, bald die heutige Tagesaktualität, aber nie als Selbstzweck: Immer bleibt die Geschichte punktgenau im Fokus und werden deren verschiedene und vielfach verflochtene Stränge mit sicherer Hand in eine Erzählung zusammengefügt.

Steiner findet für die alte Sage neue, starke Bilder – so die unendlich scheinende, steile Geröllhalde, welche die Alp von der übrigen Welt trennt, oder die extremen Fokusverschiebungen im Vorspann. Und er ist zwar nicht darum herum gekommen, für seinen auf Schweizerdeutsch gedrehten Film die üblichen Verdächtigen vor die Kamera zu verpflichten, hat aber die Figuren dermassen präzis besetzt, dass das Ganze nie zum Klassentreffen ausartet, sondern beklemmend realitätsnah ist. Die Vorschusslorbeeren und die weitgehend überschwängliche Kritik für den Film sind absolut verdient. Zu bemängeln wären allenfalls Details: Die kurze Rahmenerzählung ist eigentlich unnötig, und die Dialoge wirken besonders im ersten Teil etwas betulich. Vor allem gegen Ende läuft der Film jedoch zur Höchstform auf. Und als dann alles offen daliegt, entlässt er uns mit der erschütternd banalen Einsicht, dass es für das Böse weder Teufel noch Dämonen braucht: Dazu genügen wir Menschen mit unseren Vorurteilen, unseren bösen Absichten und unserem simplen Ungeschick ganz mühelos selber.


Technisches: Das Sennentuntschi lief in den Deutschschweizer Kinos wochenlang bis kurz vor Weihnachten, jetzt aber kaum mehr; und hier im Westen habe ich es noch nicht angekündigt gesehen. Wer den Film verpasst hat, muss also wohl auf die DVD warten. Ich sags nochmals: Es lohnt sich. Was ich auch sagen muss: Dieser Film ist keine leichte Kost, sondern geht mit seiner erschütternden Geschichte und den drastischen Bildern ziemlich ans Gemüt.

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